75. Filmfestspiele von Venedig 2018
Die Phantome der Hutmacherin |
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Bevor in Europa die Lichter ausgingen | ||
(Foto: MFA+ Filmdistribution) |
»Ich weiß noch, wie es heller wurde, wie die Wände schimmerten und wir ins Freie fuhren. Wir hatten alle das beunruhigende Gefühl, dass uns etwas Außerordentliches bevorstehe. Wir waren ernst und blickten zu den Fenstern hinaus. Jede dachte im Stillen darüber nach, was da kommen könne. Man kann sich leicht vorstellen, dass nicht eine einzige mit ihren Vermutungen auch nur im entferntesten an die ungeheuerlichen Überraschungen heranreichte, die unser harrten.«
Frank Wedekind: »Mine-Haha oder Über die körperliche Erziehung der jungen Mädchen«; 1903
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Ich war nicht unbedingt ein großer Fan von Son of Saul. Aber dieser Film hat mich gepackt. Zögerlich, eher hintenherum.
Wie das KZ-Drama des jungen Ungarn Laszlo Nemes wird auch sein neuer Film von einer intensiven, schwebenden, rastlosen Kamera dominiert, die ihrer Hauptfigur konstant auf den Fersen klebt, sie nicht aus dem Auge lässt, und so auch das Publikum, so es nicht gleich
aussteigt, in einen sehr besonderen Taumel hineinzieht. Es ist der Taumel eines Tanzes auf dem Vulkan, des labilen, von inneren Konflikten geschüttelten Europa des Jahres 1913, das im Rückblick als ein Vorkriegseuropa sichtbar ist. Im Zentrum steht die zwanzigjährige Irisz (Juli Jakab in einer wahnwitzigen Performance), die nach Budapest kommt, um die Spuren ihrer Familie zu rekonstruieren.
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Zwar beginnt Sunset mit schönen, gleich auf angenehme Weise rätselhaften Bildern: Nachdem eine Inschrift verkündet hatte, 1913 sei Ungarns Hauptstadt Budapest zur zweitwichtigsten Metropole des Kaiserlich-Königlichen Habsburgerreichs aufgestiegen, und habe mit Wien gleichgezogen, wird man hineingeworfen in eine europäischen Metropole um die Jahrhundertwende .
Titel und Jahr
setzen von Beginn an gewisse Erwartungen: Sunset, das muss den Zusammenbruch des Alten Europa meinen, den Moment, bevor »in Europa die Lichter ausgingen«, wie ein berühmtes Zitat den Ausbruch des Ersten Weltkriegs charakterisiert. Denn dass wir uns in genau dieser Periode der Vorspiele zum Ersten Weltkrieg befinden, macht die Jahreszahl klar. Fünf Jahre später würde der Weltkrieg verloren und
das Habsburgerreich durch Revolutionen hinweggefegt sein, die Monarchie der Dynastie nach fast 1000 Jahren aufgehört haben zu existieren.
Begegnet man hier also einer verlorenen Unschuld? In keiner Weise. Von Anfang an liegt bei aller Schönheit kaum Idyllisches, eher eine bedrohliche Stimmung über allem. Ein Geheimnis und Nervosität liegen in der Luft. Fast alles hier ist unsicher.
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Man sieht nun die Großaufnahme einer jungen Frau. Sie ist in einem Hutkaufhaus – dem »Kaufhaus Leiter«, offenbar das erste Haus am Platz –, probiert Hüte an, scheint mit den Gedanken woanders; in die Ferne schweifend; sehnsuchtsvoll; abgelenkt. Und tatsächlich: »Ich bin wegen der Stelle gekommen«, sagt sie. Und wird Zelma vorgestellt, eine Art Oberaufseherin über die Verkäuferinnen. Im folgenden Gespräch stellt sich heraus, dass die junge Frau Irisz Leiter heißt und die Tochter des Gründerehepaares ist, das vor vielen Jahren bei einem mysteriösen Brand ums Leben kam. Der Bruder, von dem sie bisher nichts wußte, scheint als Anarchist im Untergrund die Weltrevolution herbeizubomben.
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Irisz bekommt die Anstellung zunächst nicht. Man begegnet ihr keineswegs mit offenen Armen, eher mit Abneigung und Misstrauen. Sie scheint eine Bedrohung zu sein für das Schweigekartell, das hier dominiert, das Einverständnis, nicht über das zu sprechen, was offenbar passiert und unaussprechlich ist – eine Gewalttat gegen den Kaufhausdirektor Oskar Brill und der Mord an einem Grafen.
Aber sie wird nicht locker lassen, sie wird hartnäckig um das Kaufhaus kreisen,
Präsenz zeigen, ihren Einlass erzwingen. Sie will den Weg, der ihr vorbestimmt zu sein scheint, zu Ende gehen.
Die Bedrohung, die Irisz verkörpert scheint von ihrem Bruder auszugehen, Kálmán Leiter.
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Der Vorschein kommender Dinge, die dunkle Ahnung von unglaublichen Ereignissen, die niemand sich vorstellen konnte, die aber mit Gewissheit geschehen und das Bestehende erschüttern mussten, erfüllt diesen Film und verbindet ihn mit der Gegenwart. Ein überaus zivilisiertes, liberales Europa leidet unter einem kaum greifbaren Schmerz, einem Scherz, der keinen realen Grund hat, der mehr einem Überdruss gleicht. Ein Rückzug in Fatalismus und Schicksalsergebenheit verbindet sich mit der Sehnsucht aus dem ungreifbaren Druck ausbrechen zu können: »Wär' doch ein Wind...« dichtete der Expressionist Alfred Lichtenstein: »zerriß mit Eisenklauen/ Die sanfte Welt. Das würde mich ergetzen./ Wär doch ein Sturm... der müßt den schönen blauen/ Ewigen Himmel tausendfach zerfetzen.«
Es war die Stunde der Selbstzerstörung Europas.
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Desorientierung und Hilflosigkeit bestimmen die Weltwahrnehmung der Hauptfigur. Irisz wirkt fragil und verwundbar, zunehmend aber auch entschlossener. Als ob sie wüsste, dass es kein Zurück geben kann.
Was ist das für eine Figur?
Sie ist, wie alles hier nicht abbild-realistisch zu verstehen, sondern surreal. Schon in der Auftaktszene sorgt die Tonspur für Verstörung, weist mit einem penetrant lang gehaltenen Ton auf das Irreale und Paranoide hin. Es gibt keinen Augenblick Humor, die Figuren essen und trinken nicht, es ist alles die reine Künstlichkeit. Die Figuren in diesem Film sind eher Geister und sie sind Ideenträger. Sie stehen für Klassen, Haltungen, Lebensweisen. Irisz ist unter ihnen die Offenste.
Eine Projektionsfläche, aber auch eine ewige Wanderin. Oder der Weltgeist?
Wenn sie die Kleidung wechselt, und gegen Ende des Films wie ein Junge aussieht, und wie einer der Anarchisten, und wenn sie dann, ganz am Schluß, in der letzten Szene des Films, in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs auftaucht, dann könnte man dieser Ansicht sein.
Wo Vox Lux Trip ist, ist dieser Film Trance.
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Nemes überträgt die visuelle und ästhetische Methode von Son of Saul auf eine andere Welt: Wieder minutenlange Einstellungen. Wieder sitzt die Kamera der Hauptfigur im Rücken, wieder das atemlose, permanent bewegte Mäandern in Großaufnahmen und bestenfalls Halbtotalen, nie Totale, nie Überblick und Orientierung, immer enge Rahmen, Desorientierung. Das alles noch verdoppelt
durch die penetrant überlaute Tonspur, durch eine gelegentlich atonale Musik, durch Dialoge, die nur in Fetzen dargeboten werden, abbrechen, unvollendet bleiben, keine Informationen liefern, sondern desinformieren, und das zu leise, in geheimnisvollem Flüstern und Murmeln.
Das ist extrem manieriert, ohne Frage. Aber dieses von uns als »Künstlichkeit« Empfundene ist der Preis einer eigenen genuinen eigensinnigen Ästhetik. Nemes vollzieht den Bruch mit den visuellen
Konventionen, und das will er. Beim Holocaust war das obszön, und moralisch verboten – das war der Grund meiner Vorbehalte.
Aber für die Jahrhundertwende funktioniert die Methode: Ein Intensitätssteigerungsfilm, gedreht in 35mm. Es sieht alles sehr schön aus, in Honiglicht getauchte, nicht unbedingt alles historisch korrekte Bilder. Sunset ist ein herausragender Film, ein
visuelles Abenteuer und eine einmalige Erfahrung
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Man kann Sunset, beziehungsweise die Erfahrung, ihn zu sehen, mit einem Roman der Postmoderne vergleichen, in dem mehrere Ebenen, die nichts miteinander zu tun haben, zusammentreffen und ineinander fallen.
Passender noch scheint der Vergleich mit einem Computerspiel. Es hat verschiedene Level, einen Parcours, den die Hauptfigur nacheinander zu bewältigen hat, und in dem sie
jeweils gewisse Aufgaben lösen muss: Das Kaufhaus, die Straßen, der Massenaufmarsch, das Treffen mit der Gräfin, den Empfang der Oberschichten, den Unterschlupf der Anarchisten, die Viertel der Unterschichten, das Siechenhaus, den Besuch der Königlichen Hoheit, die Fahrt zum Hof nach Wien, die revolutionären Unruhen, der Weltkrieg. Die Realität in diesem Film ist keine organische Einheit mehr, und darum auch nicht interpretierbar und verstehbar. Es ist das Eindringen der
Kontingenz, das verstört und schockiert; deren Fluss scheint der gesamten Fiktion ihre Logik aufzuzwingen.
Und um dieses Kontingenzerfahrung geht es vor allem. Ein »Mystery-Drama« (so Peter Bradshaw im Guardian) ist es deswegen noch lange nicht.
Dieses Stationendrama wirkt wie eine Reise in ein Disneyland der Zeit um 1913. Das kann einem nicht gefallen. Und genau das gefiel mir nicht an Son of Saul, das auf mich wie ein KZ-Disneyland oder -Computerspiel wirkte. Also obszön.
Aber hier finde ich diesen Ansatz wunderbar.
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Trotzdem: Man versteht die Ausladung aus Cannes, weil man diesen Film chaotisch und unverständlich finden kann, eine Zumutung. Aber er ist auch das Gegenteil. Und solche Filme sollte Cannes zeigen.
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Die Handlung mit ihrer Entfesselung des Chaos hat noch andere Aspekte. Denn in diesem Paranoiathriller finden sich auch Spuren des Fin-de-Siècle und der Literatur des frühen 20. Jahrhunderts. T.S.Eliots »The Waste Land« wird zitiert und im Abspann erwähnt. Neben Spuren von Kafka und Musil ist dies – so scheint mir: offenkundig – auch inspiriert von Frank Wedekind. Dessen Novelle »Mine-Haha oder Über die körperliche Erziehung der jungen Mädchen« von 1903 wurde bereits
2004 mit dem französischen Film Unschuld verfilmt, hier liefert sie eher Ideen. Wie die von dem Mädchen, das »auserwählt« (englisch: »chosen«) wird, und dann einem dekadenten Hof aus Erwachsenen zugeführt. Ein bisschen wie in Suspiria.
»The horror of the world hides beneath these infinitely pretty things«, sagt jemand zu Irisz.
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Es könnte, was wir sehen, auch der Wahn einer Verrückten sein. Denn die »Welt von Gestern« (Stefan Zweig) ersteht hier nicht in historischer Korrektheit wieder auf, sondern eher als Schloss des Franz Kafka. Sunset, dessen Titel auch auf den Zusammenbruch des Alten Europa zielt, den Vorschein des Ersten Weltkriegs, ist vor allem ein Werk des Phantastischen Kinos, ein Paranoiathriller – formal großartig, gärt auch dieser Film noch viele Stunden in den Köpfen des Publikums weiter.
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Da passt der Film fast zu perfekt zu Suspiria (siehe Folge 6), auf den ich nochmal zurückkommen will. Gestern musste ich rasch fertig werden, da schreibt man dann à la écriture automatique ein paar Sachen so hin.
Ich habe auch nichts zurückzunehmen, muss aber meine Begeisterung noch besser begründen.
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»Most people I talked to did not like it« erzählt mir Tina aus Slovenien später, »but I am completely taken in. By his style, his camera and the sound.«
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Da passt der Film fast zu perfekt zu Luca Guadagninos Suspiria, auf den ich nochmal zurückkommen will. Gestern musste ich rasch fertig werden, da schreibt man dann à la ecriture automatique ein paar Sachen so hin.
Ich habe auch nichts zurückzunehmen, muss aber meine Begeisterung noch besser begründen.
Was ich an dem Film so großartig finde, ist wie er intellektuell
komplizierte Konzepte – das »Simulacrum« (Baudrillard) – in sinnliche Gestalt verwandelt.
»Simulacrum« ist je nach Verständnis des Begriffs eine Täuschung, ein Phantom (1), oder eine Lüge, die eine Wahrheit ist (2), oder die Aufhebung von Abbild und Realität, also der Unterscheidung von Kopie und Original (3). Das darf man durchaus auch auf Guadagninos Anverwandlung selbst beziehen, die keine Kopie sein will.
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Was bedeutet das konkret? Kurz gesagt: Suspiria ist ein Hexenfilm. Der Titel bedeutet »Seufzer«, und bezieht sich auf die »Mutter des Seufzens«, die in Dario Argentos Mütter-Trilogie, nicht aber in christlich-alteuropäischem Kulturgut verankert ist.
Frauen, Mütter, Hexen – diese Hexen sind in doppelt und dreifach konnotiert: Sie stehen für die bundesrepublikanische Moderne,
für den »Kapitalistischen Realismus«, wie er sich in den Werken Gerhard Richters und Sigmar Polkes zeigt. Wenn Ingrid Caven, Angela Winkler, Rennee Soutendijk und Tilda Swinton hier als Hexen auftreten, dann nicht nur weil wir sie gerne sehen. Sondern weil sie wie Ikonen und wandelnde Zitate für bestimmte Filme von Rainer Werner Fassbinder, Volker Schlöndorff, Paul Verhoeven und Christoph Schlingensief stehen. Zudem dürfen wir beim Modern Dance zuerst an Pina Bausch denken, also wieder
BRD-Moderne, dann auch an Mary Wigman und Martha Graham.
Es wird überdies deutlich darauf verwiesen, die Dance-Companie habe im Dritten Reich Widerstand geübt, bzw. ausgehalten und überlebt.
Das herkömmliche Konzept von Schönheit, nach dem anmutige Frauen voller Heiterkeit tanzen muss in diesem Sinn gebrochen werden: »There are two things, dance [= art, RS] can never be again: beautiful and cheerful. Today we need to break the nose of any cheerful thing.«
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Frauenmacht steht hier gegen Männermacht, Hexen gegen Nazis – in einem ganz prinzipiellen Sinn. Die Taten der RAF werden zu einem – aus Sicht der Hexen unvollkommenen – Akt des Widerstandes, auch des symbolischen, gegen das Überleben der Nazi-Macht in Gestalt westdeutscher Wirtschafts- und Beamteneliten. Oder wie es die Kollegin Beatrice Behn in ihrer bemerkenswerten, sehr lesenswerten Kritik zu Suspiria mutig formuliert: Die »Taten der RAF und der damit verbundenen teils radikalen Aufarbeitung der Kriegsverbrechen der Nazis.«
Das was in der Tanzschule geschieht, ist ein Spiegel der äußeren Verhältnisse, nicht umgekehrt. So wie die Mütter laut einer Inschrift, die im Film früh zu sehen ist, den Platz aller anderen einnehmen kann, aber selbst unersetzlich und unaustauschbar ist. Ein Simulacrum.
Diese Hexen sind vor
allem Feministinnen. Es geht um das Recht von Frauen, genau das Gleiche tun zu können wie Männer. Sie dürfen frei sein, sie dürfen töten, sie dürfen lieben.
(to be continued)