72. Locarno Filmfestival 2019
Panzerkreuzer Locarno |
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Bei der diesjährigen Locarno-Retrospektive »Black Light« zu sehen: Marcel Camus Orfeu Negro | ||
(Foto: Potemkine Films) |
»Wir müssen Geleitzüge bilden.«
Alexander Kluge
Die Mühlen mahlen nicht gerade schnell in Locarno. Bereits 2006, drei Festivaldirektoren früher, wurde es geplant, das Festivalgebäude in Form eines Renaissancepalastes, aber Fake, nämlich aus Beton und hochmodern, fast eine Art Berliner Stadtschloss im Tessin, und Palacinema genannt, und 120 Millionen Franken teurer.
Vor einigen Jahren erst wurde das Palacinema dann eröffnet. Und seitdem scheiden sich an ihm die Geister. Es beherbergt drei Kinosäle, die dringend nötig waren, jetzt aber immer noch zu klein sind, ein Restaurant, eine VIP-Terrasse, die 98 Prozent der Festivaldauer leersteht, weil man sie exklusiv halten will, und auch der Eingang zu ihr exklusiv ist, allzu exklusiv.
Gerade darin, in der Geisterscheidung ist dieses Festivalgebäude aber in jedem Fall ein sehr treffendes Symbol für dieses überaus ambivalente Filmfestival als solches. Das Palacinema ist ein Labyrinth mit seinen drei Eingängen und zwei bis vier unabhängigen Strukturen in einem – und wird auch von allen Mitarbeitern so genannt, allein heute von dreien unabhängig voneinander. Von außen sieht es aus wie alt; es ist aber wie gesagt brandneu. Es ist chaotisch in seiner Struktur, aber bietet viele Möglichkeiten, es ist, trotzdem es frisch erscheint, an manchen Stellen schon brüchig und renovierungsbedürftig. Es hat zwar klassische Fassaden, aber ein ziemlich cheesy-neureiches Golddekor und -ornament an jeder Ecke in jedem Fenster.
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Das passt zu Locarno als solchem, denn die Stadt ist vom Festival im Kern erschüttert und verunstaltet worden.
In der Mitte Locarnos ist ein großer Kreisel, die »Mega-Rotonda«, die mit Buden und Verkaufsständen ein überdimensioniertes Scharnier zwischen malerischer mittelalterlicher Altstadt und dem durch Spekulationsbauten verunstalteten »Quartiere Nuovo« bildet. Die Filme laufen im FEVI, einer Art Basketballhalle, wo man auf Stahlrohrstühlen mit Plastiksitzen 2000 Zuschauer unterbringt. In jüngster Zeit hat Locarno mehrere Hotels verloren – umgekehrt steht das legendäre einstige »Herz des Filmfestivals«, das Grand Hotel seit 15 Jahren leer – in der reichen Schweiz lässt sich kein Mäzen finden, der bereit wäre, die alte Pracht wiederauferstehen zu lassen.
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In diesem Jahr also hat das Filmfestival von Locarno wieder einmal eine neue Leiterin, die Französin Lilli Hinstin (42), die zuvor das Filmfestival von Belfort leitete.
Man merkt schon im ersten Jahr eine neue Handschrift. Auch wenn ihr Vorgänger Carlo Chatrian sich mit einem ungewöhnlich guten Programm verabschiedete, im Gegensatz zu den Jahren zuvor auf nichts, auch nicht auf den Etat, Rücksicht nahm, und es wenigstens einmal richtig krachen ließ. Trotzdem ist schon im ersten Hinstin-Jahr etwas mehr Mut zum Radikalen, Sperrigen erkennbar, etwas mehr Interesse für die Ränder des Kinos. Damit ist auf der einen Seite das Genrekino gemeint. Aber auch das visuell Extreme, über das wir hier noch genauer berichten werden, auch der partikulare Blick, etwa in der Retrospektive »Black Light« zum Kino der Schwarzen und über Schwarze.
Aber auch das Interesse für die andere Seite. Dorthin, wo das Kino in den Bereich der bildenden Kunst und Videokunst übergeht, der bewegten Bilder, die auch in einem Museum oder einer Galerie ihren Platz haben könnten.
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Man merkt den neuen Drive aber auch an einem Interesse für Formen, in denen die Grenze zwischen dem Dokumentarischen und dem Fiktionalen verschwimmt.
Man merkt ihn schließlich nicht zuletzt in den öffentlichen Äußerungen der neuen Direktorin. Sie schreibt zum Beispiel im Programmheft, ein Filmfestival sollte »erschüttern, überraschen, verstören und in Frage stellen«, ein Festival dürfe manchmal eklektisch sein, es solle offen sein »in jede Richtung«, gegenüber allen Formen der Repräsentation. Die grundsätzliche »Berufung« eines Festivals sei es, jede Regel zu unterlaufen, mit dem Ziel sich auf eine mutige Weise vollkommen außerhalb der Konvention zu stellen.
Bravo, Madame Hinstin!
So etwas möchte man mal von deutschen Festivaldirektoren hören. Von wenigstens einem Einzigen. Nicht weniger verräterisch, was sie nicht tut: Keine Erwähnung der Industrie. Kein Blabla über »Publikumsfestival«. Kein Lob der Funktionäre. Keine Erwähnung der angeblichen Bedeutung des nationalen Films. Die Schweizer sollten sich nicht so haben und nicht »so klein machen«, so Hinstin in unserem Gespräch. Aber auch dazu ein andermal.
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Ein Filmfestival wie das von Locarno ist zwar ein sogenanntes A-Festival, aber doch das vom Finanziellen her mit Abstand kleinste unter den großen Festivals. Zugleich zeigt man sehr, sehr viele Filme – rund 250.
Wie schafft es also ein solches, wenn man es so nennen möchte, »Containerschiff«, sich trotzdem in ein flinkes kleines Schnellboot, einen Panzerkreuzer zu verwandeln, der beweglich und fix der Konkurrenz der anderen Festivals voraus zu sein in der Lage ist, und also in einem gewissen Sinn immer wieder mal aus dem Schatten der großen »Schlachtschiffe« Cannes, Venedig und Berlin treten zu können?
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Locarno muss dafür die Extreme ausloten, und hellwach sein. Es muss dafür auch im Zweifelsfall der Zukunft den Vorzug vor der Gegenwart geben – sich also ein bisschen gegen die Gegenwart wenden, sich ihr gegenüber skeptisch verhalten.
Was Mut macht, was die Hoffnung weckt, dass dies Locarno unter der neuen Direktorin Lilli Hinstin gelingen könnte, ist vor allem ihre klare Wendung gegen die Filmindustrie, ihre klare Positionierung als Festival der Filmkunst und nicht des Kinos als eines Konsumguts.
Hinstin macht mit ihrer Auswahl klar, dass ein Festival ein Diener und eine Plattform für die Kunst sein muss, und kein Sklave der Industrie sein darf. Die Haltung der diesjährigen Locarno-Ausgabe ist eine, von der sicherlich auch andere größere Festivals und z.B. auch die neue Leitung der Berlinale eine Menge lernen kann.