72. Locarno Filmfestival 2019
Pizza auf der Piazza |
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Ziemlich spannend und ganz schön leer: Patrick Vollraths 7500 | ||
(Foto: Universum Film) |
Auf der Piazza Grande lief am letzten Wochenende Quentin Tarantinos Once Upon a Time... in Hollywood. Ein grandioser, facettenreicher Film, der von allem Möglichen handelt, nicht zuletzt aber eben von Hollywood, und einer Zeit des Abbruchs, des Aufbruchs, der Veränderung in der Filmindustrie.
Vom Team war überhaupt niemand da. Das ist außergewöhnlich für einen Piazza-Film, denn
zu der Vorführung vor bis zu 8000 Menschen gehört auch vorher eine Präsentation auf der Bühne vor der Leinwand.
Das ist kein uneingeschränkter Erfolg für die Direktorin Lili Hinstin. Einen Tarantino-Film überhaupt nach Locarno zu holen, ist natürlich schon gut, selbst wenn der Film seine Premiere schon in Cannes hatte. Aber dass überhaupt niemand kommt, und noch nicht mal ein Vertreter der Schweizer Verleihfirma ein paar warme Worte ans Publikum richtet, ist enttäuschend. Da hätten
andere Direktoren in der Vergangenheit schon gesagt: »Dann halt nicht.« Und den Film wieder ausgeladen.
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In ihrem ersten Jahr als Direktorin steht Hinstin unter besonderer Beobachtung, so etwa wie Niko Kovac oder ein anderer neuer Trainer beim FC Bayern.
Jeder Schritt, jede Entscheidung wird besonders genau abgewogen und von allen möglichen Leuten, die einem über den Weg laufen, kommentiert. »Die Piazza« ist das Herzstück von Locarno, und ein Locarno-Direktor wird vor allem danach gemessen, wie voll abends die Sitze belegt sind. Auch wenn hier keineswegs die besten Filme laufen, denn
die Piazza ist ein Ort für Crowdpleaser, Populäres, ein, zwei historische Filme, Schweizer Mainstream, und eben Schweizer Premieren. Die beiden Wettbewerbe laufen anderenorts.
Schweizer, die ich traf, meinten, Hinstin hätte doch zwei, drei Schweizer Filme mehr auf die Piazza programmieren sollen. Sie ärgerten sich zum Beispiel auch darüber, dass zum Jubiläum der Settemana della Critica kein Film der Sektion, zum Beispiel ein Werk eines renommierten Schweizer Altmeisters auf der
Piazza lief. Es hätte regnen können, aber es wäre ein symbolischer Akt gewesen.
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Andererseits geht es bei der Piazza, wie überhaupt bei diesem Filmfestival, wie ich an dieser Stelle schon in früheren Jahren geschrieben hatte, unverhohlener, als bei irgendeinem anderen A-Festival um den touristischen Mehrwert, darum, hier am Abend möglichst vielen Leuten Wein und Pizza zu verkaufen. Vergessen wir nie: Marco Solari, der Präsident des Festivals (und Hinstin-Chef) ist auch der Leiter der Tessiner Tourismus-Organisation.
Zu hören war allerdings speziell zum
Tarantino auch, gerade dies sei der eine Piazza-Film gewesen, den Hinstin gar nicht unbedingt zeigen wollte. Aber so etwas könnte auch nur typisches Festivalgerede sein.
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Bemerkenswert, wie manche Medien und Medienvertreter sich in den letzten Wochen auf Tarantino einschießen und eingeschossen haben. Wie sie Tarantino fertigmachen. So etwa wurde ich von einer Redakteurin mit der Bemerkung konfrontiert, Tarantino sei doch ein »Weinsteinianer«. Was soll das denn heißen? Das klingt, als würde er Vergewaltigung gutheißen. Davon kann natürlich nicht die Rede sein, fest steht: Tarantino hat seine bisherigen Filme alle mit Weinsteins Firma
produziert. Ja und?
Das haben viele andere auch.
Was ist das für ein Stil der Betrachtung? Ich finde, wir alle müssen gerade als Kulturjournalisten auch an einer Kultur des Umgangs interessiert sein. Das heißt: kein Moralismus und Moralisieren von Verhalten; kein Verteilen von Betragenspunkten an erwachsene Menschen; kein »unter der Hand«-Vorschreiben, was das Publikum zu denken hat. Und vor allem: Verteidigung des Rechtsstaats und des Gesetzes. Also im konkreten Fall:
Vergewaltigung ist kriminell, Sexismus ist kein Verbrechen, sondern allenfalls geschmacklos, wäre aber auch erstmal zu definieren. Und das Rechtsgut der Unschuldsvermutung »until proven guilty« gilt selbst für Harvey Weinstein.
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Künstler dürfen als Künstler wie als Privatleute übrigens geschmacklos sein. Bei Tarantino wäre das erstmal zu beweisen.
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Auf der Piazza lief in diesem Jahr auch wieder ein deutscher Beitrag. 7500 von Patrick Vollrath, eine deutsch-österreichische Co-Produktion.
Der Film lässt sich ganz gut an. Er beginnt mit Bildern aus einer Überwachungskamera und wenn man wie diese Überwachungskamera einen Blick dafür hat, dann fallen einem natürlich sofort bestimmte Leute auf, es fällt einem auf, dass sie auf die Toilette ohne Rucksack gehen, aber mit einem Rucksack zurückkommen und dann, dass der eine Mann ein paar Flaschen im Duty-Free kauft, Glasflaschen, dass er dann aber ohne diese Glasflaschen zurückkommt. Was hat er damit gemacht? Im Nachhinein habe ich mir dann immerhin zum allerallerersten Mal überlegt, wie es denn überhaupt sein kann, dass die Menschen Glasflaschen im Duty-Free verkaufen? Weil man aus Glasflaschen natürlich Messer basteln kann und genau das tun diese Leute. Wieso ist da noch nie jemand vorher drauf gekommen?
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Als Zuschauer kommt man bald so ein bisschen in die Haltung eines Sicherheitsberaters für Airlines und man überlegt: was könnte man besser machen, um genau dies zu verhindern? Das eine sind die erwähnten Glasflaschen. Zweitens wird es wohl früher oder später in den entsprechenden Cockpits eine Schleuse geben, also zwei Türen mit Raum dazwischen, sodass nur eine Tür aufgeht, wenn die andre sicher zu ist. Und möglicherweise wird es noch etwas später in den entsprechenden Cockpits
überhaupt nicht mehr die Möglichkeit geben, dass die Piloten das Cockpit verlassen. Sie werden ihre eigene Toilette bekommen und es wird für Notfälle eine dritte Person geben, die auch einen Pilotenschein hat und die im hinteren Teil der Kabine schlicht und einfach sehen kann, was los ist, falls es zum Unglück kommt, falls es zu einem Druckausfall kommt, oder sonstigen Dingen.
Aber früher oder später wird man das Cockpit so hermetisch abdichten und versiegeln, dass es dem Piloten gar
nicht möglich ist, die Tür von innen zu öffnen. Wenn potenzielle Flugzeugentführer das wissen, wenn sie wissen: sie werden unter keinen Umständen in das Cockpit kommen, und sie können auch nicht mit dem perversesten schlimmstmöglichen Erpressungsversuch den Einlass ins Cockpit erzwingen, dann nur dann werden derartige Aktionen ausgeschlossen.
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Die Musik ist auch ganz cool. Und trotzdem: Irgendwas stimmt nicht richtig. Nach dem Beginn wechselt die Perspektive. Jetzt ist die Kamera dort, wo sie den Rest der 92 Film-Minuten bleiben wird: Im Cockpit einer mit Passagieren vollbesetzten Linienmaschine auf dem Flug von Berlin nach Paris. Kurz nach dem Start dann der erwartete Entführungsversuch. Es kommt zu einem Kampf, aber die Sicherheitstür ist bald wieder zu. Drin ist nur Copilot Tobias, der schwerverletzte Kapitän und
einer der Entführer, der betäubt am Boden liegt und von Tobias zur Sicherheit gefesselt wird. Draußen vor der Tür sind die zwei anderen Entführer und die in Panik versetzten Insassen.
Der nun auf diese dramatische Exposition folgende Mittelteil ist das Herzstück von 7500: Ein klaustrophobischer Thriller, der sein Katz-und-Maus-Spiel in verschiedenen Stadien entfaltet.
Im Folgenden
lebt der Film von der reinen Thriller-Spannung, der Angstlust des Sich-in-die-Situation-hinein-Versetzens, und den vor allem moralischen Entscheidungsdilemmata, denen Tobias ausgesetzt ist. Zugleich wirkt hier auch manches wie künstlich aufgebauscht. Denn im Prinzip ist es von Anfang an klar, dass Tobias kaum Handlungs-Alternativen hat.
Ehrlicherweise passiert eine Sache in dem Film, die man so – hätte ich vorher gesagt – auch nicht glaubt. Sie hat dann allerdings
doch eine gewisse Logik. Die Logik ist allerdings, wenn man so will, eine zynische, es geht nämlich darum, dem Zuschauer zu zeigen, indem man etwas Unmögliches zeigt, dass in diesem Film alles möglich ist. Und in dem Moment, wo das Unmögliche passiert ist, da wissen wir Zuschauer dann aber auch, dass von jetzt an nichts Unmögliches mehr passieren wird – scheint mir. Das ist der paradoxe Effekt dieses Films und ich weiß selber nicht ganz genau, was da eigentlich ästhetisch vor sich
geht, wo der Regisseur einen Fehler gemacht hat, aber ich bin mir ganz sicher, dass der Regisseur einen Fehler gemacht hat.
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Zugleich gibt es zu viel Klischees, zu viele Worte, zu sehr Männer als Jammerlappen. Diesen Film mit Jacques Tourneur zu vergleichen, finde ich schon arg gewagt. Mit solchen Vergleichen ausgerechnet an dem Ort, wo vor drei Jahren eine Tourneur-Retrospektive lief, tut sich Lilli Hinstin keinen Gefallen.
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Der Film hat ganz ehrlich gesagt auch ganz schöne Längen, vor allem in der zweiten Hälfte kippt er ab. In der ersten ist es ein langer Vorlauf zu etwas, wovon wir ungefähr ahnen, was es sein wird, und dann ist es eine Weile Hysterie und Chaos pur. Diese Chaos-Passagen funktionieren am besten. Was dann gar nicht mehr funktioniert, ist, wenn das Flugzeug gelandet ist, alle überlebenden Insassen das Flugzeug verlassen haben, dass dann nur noch der Pilot mit einem der Entführer im verrammelten Cockpit sitzt. Da gibts viel Männerweinen, Jammergerede und was dann auch passiert, ist, dass wir Zuschauer natürlich alle auf das warten, was schließlich danach kommt: Das, was mal vor 30 Jahren in Gladbeck finaler Rettungsschuss genannt wurde. Bis dahin labert der Polizeipsychologe so, dass es nicht nur für den Geiselnehmer, sondern auch für uns Zuschauer ganz schön anstrengend ist. Weil es so durchschaubar ist. Weil es so verlogen ist in der Weise, wie der Psychologe immer sagt: ich bin ehrlich; gut, dass du mir zuhörst; schön, dass wir miteinander reden und dergleichen Floskeln mehr.
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Eine interessante Form und Hülle, und der Film ist ohne Frage, gerade angesichts der bescheidenen Mittel als österreichisch-deutsche Koproduktion, eine Leistung der Regie und der Produktion. Andererseits war es so aufwendig für die Produktion dann wieder auch nicht. Denn sie hatten ja vor allem einen Cockpit-Nachbau zu bewältigen. Sie hatten noch nicht einmal ein ganzes Flugzeug, denn man sieht das Flugzeug nie ganz von innen. Man hat nur ein paar Blicke in den Vorraum vor dem Cockpit.
Alles nicht schlecht. Ziemlich spannend, aber es bleibt überhaupt nichts übrig. Insofern auch ganz schön leer und mir scheint das dann irgendwie auch ein bisschen blöd. Die Spannung hält sich aber deswegen in Grenzen, weil man glaubt, der Film kann nicht zeigen, dass ein Flugzeug abstürzt. Der Film kann nicht zeigen und wird nicht zeigen, dass ein Flugzeug in eine Stadt hinein brettert, auch wenn diese Stadt nur Hannover heißt. Man glaubt auch nicht, dass der Pilot sterben wird, schon gar nicht vor der Landung.