72. Locarno Filmfestival 2019
Der Tag der Hunde |
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Aus der Perspektive der Hunde erzählt: Space Dogs | ||
(Foto: Real Fiction / Raumzeitfilm) |
Es ist ein Wahnsinnsmoment. Einer von vielen »Wow!«-Momenten in diesem Film. Genau das, was ich mir vom Kino wünsche, was sich jeder, der bei Sinnen ist und nicht ganz abgestumpft, vom Kino wünschen muss, jedenfalls unter anderem: Nämlich Erfahrungen und Bilder, die er so noch nie gesehen hat. Ungesehene Bilder. Und wie merkwürdig, dass es in diesem Film, der doch vor allem um Hunde kreist, ausgerechnet das war, was alle später nur »die Katzenszene« nannten, was vor allem anderen besprochen wurde, und mit ein paar anderen Szenen ganz besonders nachhaltig im Gedächtnis bleibt. Der »elephant in the room«, wie es der Moderator des Q&A nannte.
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Aber der Reihe nach. Angekündigt wurde die österreichisch-deutsche Koproduktion Space Dogs von Elsa Kremser und Levin Peter, die beide in Ludwigsburg studierten und jetzt in Wien leben, wo sie ihre Produktionsfirma mit dem treffenden Namen Raumzeitfilm gründeten, als ein Dokumentarfilm. Ein Dokumentarfilm, der irgendwie von Laika handelt, jener weltberühmten
Weltraum-Hündin, die 1957 von den Sowjets als erstes Lebewesen ins Weltall geschossen wurde. Beide Informationen sind nicht richtig falsch, aber, wenn man den Film gesehen hat, auch nicht ganz richtig, und jedenfalls irreführend. Ich bin nicht sicher, ob ich auf diesen Pitch hin hineingegangen wäre, würde ich nicht Filme der beiden Regisseure kennen und wissen, dass es sich lohnt, sich ihre Sachen anzuschauen. Wegzubleiben wäre in diesem Fall ein folgenschwerer Fehler
gewesen.
Denn Space Dogs ist ohne Frage der bisher aufregendste Film in Locarno.
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Die Erzählung von Laikas Weltraummission und von der Rolle, die Hunde in den Weltraumprogrammen der UdSSR spielten, wird verknüpft mit einer genauen Beobachtung des Lebens einiger Straßenhunde in Moskau. Denn auch Laika und ihre Hunde-Kameraden im UdSSR-Weltraumprogramm waren Moskauer Straßenhunde.
Aus diesen zwei Säulen entwickeln die Regisseure eine anthropologische Untersuchung und eine in mythische Erzählform gegossene Meditation über das Verhältnis von Technik
und Natur, Mensch und Tier.
Mit dem Wort »Dokumentarfilm« ist das höchst unzureichend beschrieben, denn dies ist auch etwas ganz anderes, etwas Neues, mehr als ein Dokumentarfilm, etwas für das wir – noch – keinen Namen haben.
Man könnte das auch einen Spielfilm mit Hunden als Darstellern nennen. Das wäre zugespitzt und ebenfalls nicht ganz richtig. Treffender schon wäre zu sagen: Dies ist ein Film, der die Perspektive von Hunden einnimmt, oder einzunehmen versucht, denn ob das gehen kann, ist so eine dieser Fragen... Und der mit dieser Perspektive auf die Menschen blickt. Der mitunter eher essayistisch gehalten ist, mit einem Erzähler aus dem Off, der mit sonorer Stimme – es handelt sich um den Russen Alexey Serebryakov – eine Art mythische Erzählebene öffnet, und hier aus Laikas Geschichte eine Fabel macht, ein Märchen aus uralten Zeiten, wie sie am Lagerfeuer erzählt wurden, wo Tiere sich in Geister verwandeln können, deren Seele dann in Form von Wiedergängern unter uns wandelt. Diese Fabel verweist auch auf unsere Erzählungen von den Entdeckern unbekannter Welten.
Plötzlich blicken wir Zuschauer mit den Tieren auf die Menschen und lernen eine andere Natur kennen, eine Natur zweiter Ordnung. Denn die Straßenhunde von Moskau leben ja nicht in »der« Natur, einer reinen naturbelassenen Natur, sondern in der menschlichen Zivilisation einer brodelnden und auch vor sich hin rottenden Metropole; sie leben zwischen Autos und Tankstellen, in Parks, auf Straßen und in den Nischen irgendwelcher Betonbauten – sie sind auf Menschen eingestellt und zugleich sind sie Natur. Denn sie besorgen sich dort ihr Fressen, sie koexistieren mit den Menschen, sie handeln aber gesteuert von archaischen tierischen Instinkten.
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Unbedingt erwähnenswert ist das großartige filmische Handwerk. Denn wie macht man es, Hunde zu filmen, und sie dabei in Ruhe zu lassen?
Wer die Bilder gesehen hat, kann es kaum glauben. Es geht los mit Straßenhunden, die um ein geparktes Auto kreisen, es beschnuppern, besteigen, abschlecken, in es hineinbeißen. Offenbar macht ihnen das Spaß. Schon hier fragt man sich: Wie machen die das? Wie diese Nähe? Wie entstehen die Close-ups des Hundelebens? Es ist klar, dass sie nicht mit
Drohnen gearbeitet haben, und auch die Möglichkeit, dass Hunden irgendwelche Headsets oder Mikrokameras anmontiert wurden, kann man bald ausschließen...
Hier hat einfach der Kameramann, der noch relativ junge, unbekannte Yunus Roy Imer (dessen tolle Arbeit beim Berlinale-Renner Systemsprenger bestimmt vielen aufgefallen ist) einen Weg gefunden, das Vertrauen der Tiere zu gewinnen, und selbst den Tieren zu vertrauen, ihre Schritte vorwegzunehmen – beide Seiten näherten sich einander an und so zog er irgendwann mit den Hunden durch die
Straßen von Moskau.
Allerdings musste er die Kamera auch immer an einem Arm herunterhängend durch die Gegend tragen, so wie andere ihre Einkaufstasche, um damit quasi auf Hundeaugenhöhe zu kommen.
Dieses symbiotische Verhältnis ging so weit, dass es Momente gab, in denen – so erzählen die Filmemacher – die Hunde auf das Filmteam warteten. Ob sie denn hinterher kämen. Auf der anderen Seite versuchte man, die Hunde möglichst nicht zu beeinflussen in ihrem Verhalten.
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Daniela Persico, neuerdings Mitglied der Auswahlkommission, und mir schon seit meinem allerersten Locarno-Besuch 2006 bekannt, hat im Katalog einen Text über den Film geschrieben, den ich ein bisschen absurd finde und auch nicht richtig verstehe. Ich habe andere dazu gefragt, und sie verstehen den Text auch nicht richtig – das einzige, was man daraus wirklich entnehmen kann, ist, dass Daniela den Film sehr gerne mag und damit hat sie auch recht. Was man auch noch entnehmen kann, ist, dass der Film in irgendeiner Weise eine nicht menschliche Perspektive auf die Welt wirft, und auch das trifft zu. Ist das ein realistischer Film? Das ist auch so eine Frage. Naturalistisch vielleicht schon eher, wenn man sich klar macht, dass die Natur immer etwas höchst Künstliches ist.
Dabei ein klassisch realistischer Film. Wunderbar, wie die Tiere hier beobachtet werden und wie sie weiter Tiere sein dürfen. Dies ist keine Vergötterung der Tiere, keine sentimentale Vermenschlichung.
Das zeigt die Katzenszene. Die soll sich am besten einfach jeder selbst ansehen. Sie ist toll, toll, toll, denn wir sehen hier, dass jederzeit alles möglich ist, und sie ist ein Lackmustest für die Zuschauer, die hier mit ihren Erwartungen ans Kino konfrontiert werden. Wir sehen, wie den Hunden eine Katze über den Weg läuft, die ihnen nicht mehr entfliehen kann, gegriffen und getötet wird. Die Hunde fressen sie nicht mal, aber sie töten sie, weil das ihre Natur ist, und sie freuen sich
damit.
Das alles zeigt der Film so, wie er alles zeigt.
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Manchen Zuschauern geht es wie mir, dass sie das noch nie gesehen haben und sich freuen, es mal zu sehen. Bei anderen ist es eher eine Mischung aus Abwehr und Freude. Wieder andere schauen weg, wollen es nicht sehen.
Und dann gibt es die, gar nicht so wenige, die aggressiv werden. Die es nicht den Hunden übelnehmen, dass sie tun, was sie tun, sondern den Filmemachern, dass sie zeigen, was sie zeigen. Sie wollen belogen werden. Sie wollen sehen, aber nur, was sie sehen wollen. Und
möchten nicht dadurch, dass sie etwas anderes gezeigt bekommen, auf diese ihre selbstgewählte Beschränkung aufmerksam gemacht werden.
Bizarrerweise wäre es ein Trost für sie, könnte man ihnen beweisen, dass die Szene ein Fake war, computergeneriert, oder mit Tricks, beispielsweise einem bereits toten Tier inszeniert.
So wie es bizarrerweise auch Zuschauer gab, die so schlecht hinsehen, dass sie später überzeugt sind, die Tiere seien dressiert gewesen.
Das alles ist
interessant, denn es verrät uns etwas über den Zustand des postmodernen Bewusstseins: Die Lust am Spektakel, aber die Angst vor dem Echten, die ihr eigentlich widerspricht, und Lust am Gefühl, aber nur am guten, warmen, an Wohlfühlgefühlen – also eigentlich Sentimentalität und Saccharin, Wellness. Also eigentlich kein Gefühl, oder Angstlust gegenüber Gefühlen.
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Das ist eines von vielen Symptomen für einen neuen Puritanismus: Gefühle sollen rein sein, und die Menschen in ihrem falschen (und insgeheim als falsch erkannten) Selbstbild bestätigen: Dass sie gut, schön und edel sind.
Das Unreine wird mehr gefürchtet als alles andere.
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Noch in anderer Weise erzählt Space Dogs von der Medien- und Spektakelgesellschaft. Das hochinteressante Archivmaterial, das die Filmemacher zur Weltraumforschung ausgegraben haben, enthüllt nämlich auch, wie sehr Laika ein Propagandaprodukt war. Dass man sie nach medialen Gesichtspunkten und Vermarktbarkeitskriterien auswählte. Ihr wurde ein besonders »stolzer Blick« attestiert. Und dass sie ein weißes Fell mit deutlichen schwarzen Punkten hatte, war in Zeiten des Schwarzweiß und krisseliger, unscharfer Bilder ein visueller Vorteil.
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Warum aber nahm man Hunde in der Sowjetunion, während die Amerikaner Menschenaffen als Versuchstiere benutzten?
Und warum schoss man zur ersten Mondumrundung zwei Schildkröten ins All?
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Es ist der Tag der Hunde in Locarno. Im Programm laufen nur ein paar Stunden später auch White Dog von Samuel Fuller in der Retrospektive, und Ghost Dog – Der Weg des Samurai von Jim Jarmusch, ebenfalls Retrospektive.
Das kann kein Zufall sein.