21 films
Von Alien bis Western |
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Manchmal denkt auch ein Kritiker über das Leben nach – Roy Andersons Eine Taube sitzt auf einem Zweig und denkt über das Leben nach | ||
(Foto: Neue Visionen Filmverleih) |
Von Josef Schnelle
Von Josef Schnelle (Filmkritiker und Kurator, Köln)
Erst war da der Gedanke, wer alles vorkommen müsste über die letzten zehn Jahre. Doch dann blieb nur das Kriterium, welche Filme ich mir auf der Stelle noch einmal ansehen würde, und die Dinge wurden klarer und unübersichtlicher. Das erreicht man nicht nur mit Kunstfilmen der cinephilen Art, sondern nur mit dem ganzen Spektrum von A wie Art-Kunst bis U wie knalliger Unterhaltung. Und deswegen ist die Reihenfolge beliebig. Aber beginnen wir mit dem Blick zurück ganz aktuell:
Erstens The Irishman – von Martin Scorsese ist selbstverständlich – Netflix oder nicht – der Film des Jahres 2019, altmodisch und vielschichtig mit toller Figurenzeichnung, was angesichts der Darstellerriege kein Wunder ist.
Zweitens Agora – Die Säulen des
Himmels von Alejandro Amenábar war 2010 der erste Film über das Frühchristentum, der die Rollen verkehrt und aus der neuen Religion einen fundamentalistischen Bildersturm machte.
Drittens Boyhood von Richard Linklater setzte in der Tradition seiner eigentümlichen Großerzählungen 2015 neue beeindruckende Maßstäbe.
Viertens Transit von Christian Petzold definiert 2018 ein ganzes Filmkunstgenre des Films im Zwischenreich zwischen den Phantasie- und Realwelten so neu, dass der Film aktuell eher untergehen musste, und erst wiederkehren wird, wenn die Welt zu diesem Avantgardeprojekt so richtig passt.
Fünftens: Guardians of the
Galaxy von James Gunn zeigte 2014 eindrücklich, dass die Welt der Science-Fiction nur als selbstironische Welt denkbar ist und irgendwie einer LP mit den besten Pop-Songs ähnelt, weswegen die Fortsetzung noch verrückter als Vol. 2 folgte und der dritte Teil gleich ein neues Jahrzehnt braucht.
Sechstens Mission: Impossible – Rogue Nation von Christopher McQuarrie (2015) ist kein Regieautorenfilm, sondern eher eine Produzenten-Hauptdarsteller-Geschwindigkeits-Verwirrungs-Team-Leistung, aber Kirmeskino, wie es sein muss, und keinen Vergleich mit einem ebenso verwirrenden Godard-Film zu scheuen braucht. Und natürlich hört man die Titelmelodie von Lalo Shiffrin auch in der 37sten Verdrehung immer wieder gerne.
Mit
siebtens Alien: Covenant zeigte Ridley Scott 2017, dass man seinem guten alten »Alien«-Thema noch immer weitere weltanschauliche Verdrehungen abluchsen kann. Jetzt wird’s endgültig zur Weltraumsaga.
Dagegen zeigt Valeska Grisebach in – achtens – Western (2017),
worum es selbst dabei im Kern geht: Um Männerphantasien vor karger Landschaft.
In neuntens Sag du es mir macht Michael Fetter Nathansky 2019 eine verdrehte Schwesternwelt zum Dreh- und Angelpunkt der Suche nach Wahrheit und emotionalen Höhepunkten und beweist ganz nebenbei, dass auch ein junger Anfänger schon alles wissen kann, was man braucht, um ein kleines Meisterstück zu
inszenieren.
Zehntens: Die Höhle der vergessenen Träume von Werner Herzog (2010) wird auf lange Zeit der einzige 3-D-Film sein, der dieses Format wirklich braucht – allerdings ergänzt um einen hervorragenden Essay-Text des Meisters der bizarren Pointen zur gesamten Menschheitsgeschichte. Wenn man einmal einen Moment der Ruhe braucht in der Hektik des bunten Getriebes der wilden
Welt, dann kann man den Film auch in 2-D sehen.
Elftens: Eine Taube sitzt auf einem Zweig und denkt über das Leben nach von Roy Andersson zersiedelt dann wieder angemessen die Welt in ein Bündel der unangemessenen Pointen, bevor Apichatpong Weerasethakul mit – zwölftens – Uncle Boonmee Who Can Recall His Past Lives uns wieder angemessen im Meer des Esoterischen erdet, wobei er aber in einer Kultur wurzelt, die das sowieso ganz unfilmisch auch tut (2010).
Bevor wir dann alle Hoffnung fahren lassen müssen, bringt Aki Kaurismäki in (13) Die andere Seite der Hoffnung (2017) all das zum
Klingen, ohne das wir kaum überleben dürften, aber das ist ja seit langem die Aufgabe des finnischen Depressionsweltmeisters im Konzert der echten und falschen Gefühle.
14.: True Grit von den Coen-Brüdern war 2010 die Rückversicherung, dass es doch nur immer eine Handvoll von Geschichten sind, die sich seit der Bibel immer wieder zu erzählen lohnen. Ein Hohelied auf Rache und auf
Unvollkommenheit gehört dazu.
Jetzt hätte ich beinahe die Wirklichkeit glatt vergessen, deren traurigsten Teil ausgerechnet ein deutscher Film von einem österreichischen Regisseur in einen wunderbaren Film gegossen hat. Der heißt Wolfgang Fischer und in (15) Styx (2018) geht es um die Ertrinkenden im Mittelmeer und unsere Unfähigkeit, uns unseren Problemen damit so richtig zu
stellen. Ein Jahrhundertwerk, das viel zu wenige Preise bekam, obwohl es alle verdient gehabt hätte, auch weil es das große Problem im weiten Ozean zu einem kammerspielartigen Gewissenskonflikt verdichtet. Nur mit (16) Biutiful gelang es Alejandro González Iñárritu bereits 2010 das noch einmal zu übertreffen mit einem traurigen Lebenspanorama, das sogleich zu Unrecht in
Vergessenheit geriet. Nummer 17.: Melancholia (2011) von Lars von Trier ist zugleich so schön und so beängstigend, wie der Totentanz des titelgebenden fiktiven Planeten und die wunderbar kongeniale Musik aus Wagners »Tristan und Isolde« mit dem Beweis, dass die Oper doch immer noch die beste Filmmusik liefert.
(18) Family Romance, LLC (2019) von Werner Herzog hat noch keinen deutschen Kinoverleih, dabei ist dieser Film Herzogs 8½, und diskutiert die moralische Verantwortung des Illusionskünstlers auf höchstem Niveau mit der Idee, man könne die Illusionsproduktion am Besten einfach einstellen.
(19) Peter Handke – Bin im Wald. Kann sein, dass ich mich verspäte (2016). Darin lässt Corinna Belz den damals noch nicht zum Nobelpreisträger gekürten Peter Handke einfach über sich und seine Arbeit sprechen und zeigt sehr deutlich, dass Dokumentarfilme ohne eine enge und empathische Beziehung zur dargestellten Person – wie hier – kaum möglich sind. Endlich einmal Literatur und Literat im
Film.
Und deshalb sei unbedingt noch erinnert an (20) Howl – Das Geheul von Robert Epstein und Jeffrey Friedman aus dem Jahr 2010: Ein Filmgedicht nach dem Canto von Alan Ginsberg: »I saw the best minds of my generation destroyed by madness....« Ein Film als Gedicht. Ein Gedicht als Film. Das Kino ist ein viel zu reiches Medium, um es nur den Geschichtenerzählern zu
überlassen.
Und so kommen wir am Ende doch noch zu Gott, auch wenn er sich in seiner Kellerwohnung in Brüssel in Jaco van Dormaels Film (21) Das brandneue Testament (2015) ausdenkt, in dem es zum Beispiel darum geht, dass das Marmeladenbrot immer mit der Marmeladenseite nach unten hinfällt. Doch zum Glück hat er eine kluge Frau und eine noch klügere Tochter, und die hat unter anderen
Catherine Deneuve, die mit einem Orang-Utang zusammen lebt, als Jüngerin. Und so wird aus einem Film mit albernem Anfang ganz schnell wunderbarer Tiefsinn, der das ganze Jahrzehnt über gehalten hat. Natürlich gab es, wenn man Festivals mitrechnet, mindestens 5000 Filme, unter denen noch einige mehr sehenswert waren. Aber das ist meine Auswahl. Schließlich sind zum Beispiel die meist gehassten Filme auch nicht nur die schlechtesten.