23.01.2020
21 films

Von Alien bis Western

Eine Taube sitzt auf einem Zweig und denkt über das Leben nach
Manchmal denkt auch ein Kritiker über das Leben nach – Roy Andersons Eine Taube sitzt auf einem Zweig und denkt über das Leben nach
(Foto: Neue Visionen Filmverleih)

Männerphantasien vor karger Landschaft, verdrehte Schwesternwelt, Depressionsweltmeister, Illusionskünstler und Catherine Deneuve mit einem Orang-Utang – Einundzwanzig Filme aus den Jahren 2010-2019

Von Josef Schnelle

Von Josef Schnelle (Film­kri­tiker und Kurator, Köln)

Erst war da der Gedanke, wer alles vorkommen müsste über die letzten zehn Jahre. Doch dann blieb nur das Kriterium, welche Filme ich mir auf der Stelle noch einmal ansehen würde, und die Dinge wurden klarer und unüber­sicht­li­cher. Das erreicht man nicht nur mit Kunst­filmen der cine­philen Art, sondern nur mit dem ganzen Spektrum von A wie Art-Kunst bis U wie knalliger Unter­hal­tung. Und deswegen ist die Reihen­folge beliebig. Aber beginnen wir mit dem Blick zurück ganz aktuell:

Erstens The Irishman – von Martin Scorsese ist selbst­ver­s­tänd­lich – Netflix oder nicht – der Film des Jahres 2019, altmo­disch und viel­schichtig mit toller Figu­ren­zeich­nung, was ange­sichts der Darstel­ler­riege kein Wunder ist.
Zweitens Agora – Die Säulen des Himmels von Alejandro Amenábar war 2010 der erste Film über das Früh­chris­tentum, der die Rollen verkehrt und aus der neuen Religion einen funda­men­ta­lis­ti­schen Bilder­sturm machte.
Drittens Boyhood von Richard Linklater setzte in der Tradition seiner eigen­tüm­li­chen Großer­zäh­lungen 2015 neue beein­dru­ckende Maßstäbe.
Viertens Transit von Christian Petzold definiert 2018 ein ganzes Film­kunst­genre des Films im Zwischen­reich zwischen den Phantasie- und Real­welten so neu, dass der Film aktuell eher unter­gehen musste, und erst wieder­kehren wird, wenn die Welt zu diesem Avant­gar­de­pro­jekt so richtig passt.
Fünftens: Guardians of the Galaxy von James Gunn zeigte 2014 eindrück­lich, dass die Welt der Science-Fiction nur als selbst­iro­ni­sche Welt denkbar ist und irgendwie einer LP mit den besten Pop-Songs ähnelt, weswegen die Fort­set­zung noch verrückter als Vol. 2 folgte und der dritte Teil gleich ein neues Jahrzehnt braucht.
Sechstens Mission: Impos­sible – Rogue Nation von Chris­to­pher McQuarrie (2015) ist kein Regie­au­toren­film, sondern eher eine Produ­zenten-Haupt­dar­steller-Geschwin­dig­keits-Verwir­rungs-Team-Leistung, aber Kirmes­kino, wie es sein muss, und keinen Vergleich mit einem ebenso verwir­renden Godard-Film zu scheuen braucht. Und natürlich hört man die Titel­me­lodie von Lalo Shiffrin auch in der 37sten Verdre­hung immer wieder gerne.
Mit siebtens Alien: Covenant zeigte Ridley Scott 2017, dass man seinem guten alten »Alien«-Thema noch immer weitere welt­an­schau­liche Verdre­hungen abluchsen kann. Jetzt wird’s endgültig zur Weltraum­saga.
Dagegen zeigt Valeska Grisebach in – achtens – Western (2017), worum es selbst dabei im Kern geht: Um Männer­phan­ta­sien vor karger Land­schaft.
In neuntens Sag du es mir macht Michael Fetter Nathansky 2019 eine verdrehte Schwes­tern­welt zum Dreh- und Angel­punkt der Suche nach Wahrheit und emotio­nalen Höhe­punkten und beweist ganz nebenbei, dass auch ein junger Anfänger schon alles wissen kann, was man braucht, um ein kleines Meis­ter­s­tück zu insze­nieren.
Zehntens: Die Höhle der verges­senen Träume von Werner Herzog (2010) wird auf lange Zeit der einzige 3-D-Film sein, der dieses Format wirklich braucht – aller­dings ergänzt um einen hervor­ra­genden Essay-Text des Meisters der bizarren Pointen zur gesamten Mensch­heits­ge­schichte. Wenn man einmal einen Moment der Ruhe braucht in der Hektik des bunten Getriebes der wilden Welt, dann kann man den Film auch in 2-D sehen.
Elftens: Eine Taube sitzt auf einem Zweig und denkt über das Leben nach von Roy Andersson zersie­delt dann wieder ange­messen die Welt in ein Bündel der unan­ge­mes­senen Pointen, bevor Apichat­pong Weer­a­set­hakul mit – zwölftens – Uncle Boonmee Who Can Recall His Past Lives uns wieder ange­messen im Meer des Esote­ri­schen erdet, wobei er aber in einer Kultur wurzelt, die das sowieso ganz unfil­misch auch tut (2010).
Bevor wir dann alle Hoffnung fahren lassen müssen, bringt Aki Kauris­mäki in (13) Die andere Seite der Hoffnung (2017) all das zum Klingen, ohne das wir kaum überleben dürften, aber das ist ja seit langem die Aufgabe des finni­schen Depres­si­ons­welt­meis­ters im Konzert der echten und falschen Gefühle.
14.: True Grit von den Coen-Brüdern war 2010 die Rück­ver­si­che­rung, dass es doch nur immer eine Handvoll von Geschichten sind, die sich seit der Bibel immer wieder zu erzählen lohnen. Ein Hohelied auf Rache und auf Unvoll­kom­men­heit gehört dazu.
Jetzt hätte ich beinahe die Wirk­lich­keit glatt vergessen, deren trau­rigsten Teil ausge­rechnet ein deutscher Film von einem öster­rei­chi­schen Regisseur in einen wunder­baren Film gegossen hat. Der heißt Wolfgang Fischer und in (15) Styx (2018) geht es um die Ertrin­kenden im Mittel­meer und unsere Unfähig­keit, uns unseren Problemen damit so richtig zu stellen. Ein Jahr­hun­dert­werk, das viel zu wenige Preise bekam, obwohl es alle verdient gehabt hätte, auch weil es das große Problem im weiten Ozean zu einem kammer­spiel­ar­tigen Gewis­sens­kon­flikt verdichtet. Nur mit (16) Biutiful gelang es Alejandro González Iñárritu bereits 2010 das noch einmal zu über­treffen mit einem traurigen Lebens­pan­orama, das sogleich zu Unrecht in Verges­sen­heit geriet. Nummer 17.: Melan­cholia (2011) von Lars von Trier ist zugleich so schön und so beängs­ti­gend, wie der Totentanz des titel­ge­benden fiktiven Planeten und die wunderbar konge­niale Musik aus Wagners »Tristan und Isolde« mit dem Beweis, dass die Oper doch immer noch die beste Filmmusik liefert.
(18) Family Romance, LLC (2019) von Werner Herzog hat noch keinen deutschen Kino­ver­leih, dabei ist dieser Film Herzogs , und disku­tiert die mora­li­sche Verant­wor­tung des Illu­si­ons­künst­lers auf höchstem Niveau mit der Idee, man könne die Illu­si­ons­pro­duk­tion am Besten einfach einstellen.
(19) Peter Handke – Bin im Wald. Kann sein, dass ich mich verspäte (2016). Darin lässt Corinna Belz den damals noch nicht zum Nobel­preis­träger gekürten Peter Handke einfach über sich und seine Arbeit sprechen und zeigt sehr deutlich, dass Doku­men­tar­filme ohne eine enge und empa­thi­sche Beziehung zur darge­stellten Person – wie hier – kaum möglich sind. Endlich einmal Literatur und Literat im Film.
Und deshalb sei unbedingt noch erinnert an (20) Howl – Das Geheul von Robert Epstein und Jeffrey Friedman aus dem Jahr 2010: Ein Film­ge­dicht nach dem Canto von Alan Ginsberg: »I saw the best minds of my gene­ra­tion destroyed by madness....« Ein Film als Gedicht. Ein Gedicht als Film. Das Kino ist ein viel zu reiches Medium, um es nur den Geschich­ten­er­zäh­lern zu über­lassen.
Und so kommen wir am Ende doch noch zu Gott, auch wenn er sich in seiner Keller­woh­nung in Brüssel in Jaco van Dormaels Film (21) Das brandneue Testament (2015) ausdenkt, in dem es zum Beispiel darum geht, dass das Marme­la­den­brot immer mit der Marme­la­den­seite nach unten hinfällt. Doch zum Glück hat er eine kluge Frau und eine noch klügere Tochter, und die hat unter anderen Catherine Deneuve, die mit einem Orang-Utang zusammen lebt, als Jüngerin. Und so wird aus einem Film mit albernem Anfang ganz schnell wunder­barer Tiefsinn, der das ganze Jahrzehnt über gehalten hat. Natürlich gab es, wenn man Festivals mitrechnet, mindes­tens 5000 Filme, unter denen noch einige mehr sehens­wert waren. Aber das ist meine Auswahl. Schließ­lich sind zum Beispiel die meist gehassten Filme auch nicht nur die schlech­testen.