70. Berlinale 2020
Kalter Winter, warme Herzen |
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Unprämiert wie nahezu sämtliche wirklich künstlerisch radikale Beiträge: Tsai Ming-liangs »Days« | ||
(Foto: © Homegreen Films, Berlinale Presseservice) |
»As long as the roots are not severed, all is well. And all will be well in the garden.«
»In the garden?«
»Yes. In the garden, growth has it seasons. First comes spring and summer, but then we have fall and winter. And then we get spring and summer again.«
Hal Ashby »Welcome Mr. Chance«, 1980
Der Film »There is no Evil« des Iraners Mohammad Rasoulof gewann am Samstagabend bei der 70. Berlinale den Goldenen Bären.
Es war alles andere als eine Überraschung, als Jurypräsident Jeremy Irons den Sieger verkündete. Zu gut passten der allerletzte Beitrag im Berlinale-Wettbewerb und der Iraner Mohammad Rasoulof ins Konzept einer typischen Berlinale-Preisverleihung und zu einer Jury, die sich ganz offensichtlich nicht auf ästhetisch-stilistische Kriterien einigen
konnte, deren Ansichten zur Filmkunst sich gegenseitig neutralisierten. Zu weit auseinander lagen die anderen Preise, um diesen Eindruck zu verschleiern.
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So blieb eine politisch-moralische Botschaft der vorhersehbare kleinste gemeinsame Nenner. Denn filmisch ist der neorealistische Inszenierungsstil Mohammad Rasoulofs altbacken und im Vergleich zu manch anderem großartigen iranischen Film bestenfalls Durchschnittsware. »Es gibt kein Böses« führt in vier Episoden moralische Konflikte seiner Hauptfiguren vor und stellt diese in Zusammenhang mit Fragen der im Iran nach wie vor praktizierten Todesstrafe.
Vor allem
geht es um Männer, alles clever und berechnend, Betrug und moralische Konflikte kommen vor, Menschen, die sich weigern, die Todesstrafe zu vollziehen, die alle ihrer Ämter beraubt werden und gezwungen sind, ins Exil zu gehen, ein Onkel, der tatsächlich der Vater einer Frau ist.
Dies ist ein Film, der Amerikaner zur Superlativen provoziert, es sind vier Geschichten, sie handeln von verschiedenen Männern und Frauen, der Film fragt: Was würdest du tun? Und fordert uns alle insofern
moralisch heraus.
Dies ist eine mindestens schlichte, vielleicht einfach etwas stupide Version von Hannah Arendts These von der »Banalität des Bösen«. Der Titel »There is no evil« bedeutet eigentlich auf Farsi etwas anderes. Wörtlich übersetzt etwa: »Das Böse hat kein Wesen« oder »Das Böse ist nicht«.
Um zu zeigen, wo er politisch steht, wird im Film mehr als einmal das Lied »Bella Ciao« gespielt.
Ein sehr kalkulierter Film, sehr berechnend.
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Womit sich Rasoulof den Preis aber in erster Linie verdient hatte, ist die Tatsache, dass über ihn im Iran zur Zeit ein Ausreiseverbot verhängt ist. Die Ursache: Sein letzter Film »A Man of Integrity«, der als regimekritisch eingeschätzt wird. Daher konnte der Regisseur nicht nach Berlin zur Filmpremiere anreisen – nun hatten die Berlinale-Medien ihre Geschichte und gute Gründe, sich nicht mit Fragen der Filmkunst und der Qualität des Films zu belasten. Dabei ist es eine wichtige Frage, ob filmkünstlerische Preise nach politischer Jahreszeit und moralischer Gefälligkeit vergeben werden sollten.
Mit Rasoulof hat nun nach Asghar Farhadi (Nader und Simin – Eine Trennung) 2011 und Jafar Panashi (Taxi Teheran) 2015 zum dritten Mal in zehn Jahren ein iranischer Dissident einen Goldenen Bären gewonnen – auch weil Berlin für iranische Oppositionsfilme offenbar eine perfekte Bühne ist, hatte der Preis am Samstag nur wenige überrascht.
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Die Berlinale und unsere Produktionsbedingungen hinterlassen ihre Spuren, leider auch bei mir. Ein Wirkungstreffer gewissermaßen war die Ursache für eine allzu forsche, allzu schnelle Formulierung bezogen auf Mohammad Rasoulofs Verbindung zu Hamburg und zur Hamburger Filmförderung. Für diese gestrichene, missverständliche Passage, die als ausgrenzend wahrgenommen werden konnte, möchte ich mich hiermit auch öffentlich entschuldigen – das war blöde von mir, und
hat überdies den falschen Eindruck erweckt, als wolle ich Mohammad Rasoulof irgendwie aus Hamburg ausbürgern wollen. Nichts liegt mir ferner. Genau wie Fatih Akin und andere ist Mohammad Rasoulof selbstverständlich Hamburger.
Es ist gut dass die Filmförderinstitutionen der Bundesrepublik Filmemacher, die sich – aus welchen Gründen auch immer – in Deutschland niederlassen, fördern und in das plurale Spektrum des vielfältigen Medienstandorts Deutschland
integrieren.
Auf all dies haben mich mehrere Menschen freundschaftlich aufmerksam gemacht. Danke dafür!
Eine Textnachricht von Albert Wiederspiel weist überdies auf Folgendes hin: Mohammad Rasoulof wohnt mit seiner Familie seit 2012 in Hamburg. Der gesamte Film ist aus Hamburg heraus produziert. Die gesamte Postproduktion hat in Hamburg stattgefunden.
Dem ist nichts hinzuzufügen.
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Auch sonst waren es sehr uninteressante Preise und überhaupt keine gute Jury – mit ihrer komplett uneindeutigen Preisvergabe, die ohne künstlerisches Statement auskommt, und nur billige Polit-Solidarität kommuniziert, wirkt alles eher wie ein SPD-Stadtteilfest, nicht wie ein Filmfestival.
So ein Preis hätte genauso unter Dieter Kosslick vergeben werden können. Eine türkische Kuratorin kommentierte am Samstagabend treffend: »Welcome Mr. Kosslick.«
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Die weiteren Preise gingen größtenteils an weniger bekannte Filmemacher, wie die Amerikanerin Eliza Hittman, während mit Ausnahme des Koreaners Hong Sang-soo (»Beste Regie«) die bekannten Namen im Wettbewerb wie die Amerikanerin Kelly Reichardt, der Franzose Philippe Garrel oder der Deutsche Christian Petzold leer ausgingen. Für dessen Filmmärchen »Undine« wurde Paula Beer immerhin als »Beste Schauspielerin« prämiert – eine vertretbare Entscheidung. Beer, die nach »Transit« zum zweiten Mal in Folge eine Petzold-Hauptrolle spielt, hat offensichtlich Nina Hoss als Muse des Regisseurs abgelöst. Im Gegensatz zu Hoss, die erst mit ihrem dritten Petzold-Auftritt 2007 für Yella einen Silbernen Bär gewann, gelang das Beer bereits mit der zweiten gemeinsamen Arbeit. Petzold will nun, wie er in Berlin erklärte, nach der Wassernixe Undine eine Erdgeister-Fabel in seiner eigentümlichen Form von Modernisierung und Symbolismus erzählen – höchstwahrscheinlich wird man Beer dort wiedersehen.
Unprämiert blieben am Samstag dagegen nahezu sämtliche wirklich künstlerisch radikale Beiträge: Ob der bildstarke meditative »Days« vom Taiwanesen Tsai Ming-liang oder der intensive Dokumentarfilm »Irradiated« vom Kambodschaner Rithy Panh (der immerhin den Berlinale Dokumentarfilmpreis erhalten hat), aber auch der zweite deutsche Wettbewerbsbeitrag, Burhan Qubadis Döblin-Update »Berlin Alexanderplatz« gingen zur Überraschung nicht weniger komplett leer aus.
Die
eine Ausnahme war der Silberne Bär »für eine herausragende künstlerische Leistung«, der an den deutschen Kameramann Jürgen Jürges ging – und damit an den umstrittensten Film des Wettbewerbs, das russisch-ukrainische Kunstprojekt »DAU«.
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Bei »DAU« handelt es sich um ein über zehnjähriges, experimentelles Kunstprojekt, das in Filmform dokumentiert wird. Zwei von bislang 13 Film-Auskoppelungen aus dem viele hundert Stunden umfassenden Material wurden in Berlin gezeigt. Wie zu hören ist, sollen während des Jahres weitere »DAU«-Filme gezeigt werden. In dem Projekt stellen Freiwillige unter Anleitung des Regisseurs Ilya Khrzhanovskiy und seines Teams das Leben unter dem Stalinismus nach – inklusive Terror
und Schauprozessen.
Die Vorführung von »DAU: Natascha« spaltete auch das professionelle Berlinalepublikum. Waren die einen fasziniert von starken ungesehenen Bildern und einer einmaligen Seh-Erfahrung, stellten andere die Legitimität von »DAU« infrage. Vorwürfe über Arbeitsbedingungen und die Darstellung des Regisseurs als »Diktator« im Vorfeld sorgten zusätzlich dafür, dass manch einer sich weigerte, sich auf die Erfahrung überhaupt einzulassen. Das aber wäre gerade
die Aufgabe von Filmkritik – nicht Kapitulation unter dem Vorwand moralischer Empfindlichkeit.
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Der wohl beste Berlinale-Film lief gar nicht im Wettbewerb, dafür kam er aus Ludwigsburg: The Trouble with Being Born von Sandra Wollner gewann einen »Special Jury Award« im neugegründeten zweiten Berlinale-Wettbewerb »Encounters«.
Für das neuberufene Berlinale-Leitungsteam Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek war das erste Jahr in der Nachfolge des Zampano-Direktors Dieter Kosslick kein leichtes. Dazu dann im nächsten Beitrag.
(to be continued)