77. Filmfestspiele von Venedig 2020
Ohne Abstand sitzt sich's schöner |
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Ein starker Film, aber einer, über den man streiten kann: Dear Comrades von Andrei Konchalovsky. | ||
(Foto: BIENNALE CINEMA 2020 Press Service) |
»Tatsächlich befindet man sich auf Festivals stets auf Tauchfahrt unter Wasser, und wenn man das Kino verlässt, fühlt man sich, als würde man wieder emporsteigen ans grelle Tageslicht, wo alle Träume im Nu verdampfen. Da sieht man dann Tom Cruise und Nicole Kidman auf der Pressekonferenz, und nichts, aber auch gar nichts erinnert an den Zauber, den sie in Kubricks Film entfalten. Ein nettes, junges Paar, das übermüdet versucht zu erklären, was nicht zu erklären ist. Dass der Mann hinter diesem Film keineswegs ein Sonderling, sondern ein Familienmensch gewesen sei. Nett, verständnisvoll, zugewandt. So what! Und draußen kreischen die Mädchen, wenn Tom auftaucht, und wissen nicht warum.«
Michael Althen, SZ 04.09.1999 Feuilleton
Einen Roten Teppich gibt es auch dieses Jahr. Er ist allerdings hinter einem Sperrholzverschlag derart zugehämmert, dass nichts von dem Schaulaufen mehr möglich ist, das ihm überhaupt Sinn gibt.
Nur für die Photographen und die Kamera der RAI existiert er überhaupt – ein potemkinscher Roter Teppich am Adriastrand. Irgendwo da drüben, gegenüber auf der anderen Seite des Meeres hatte Tito einst ein kleines jugoslawisches Hollywood errichten lassen, zu seinem
Privatvergnügen. Auch ein Richard Burton half seinerzeit mit, um Filmindustrie zu simulieren, er spielte den jungen Partisanenführer Tito in einem dieser Jugo-Blockbuster.
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Die Leere selbst am Samstag oder Sonntag in den Kinos – sie macht bestimmt Gesundheitspolitiker und Hysteriker glücklich, einen Kinofan kann sie nicht glücklich machen. Denn Kino, das ist unter anderem auch dichtes Aufeinandersitzen, es ist das Gefühl einer intensiven Menge.
Zuschauen mit Distanz und Sicherheitsabstand zwischeneinander ist eine Perversion des Kinos, auch wenn es vielen gefällt. Aber dieser große Abstand, die Tatsache, dass die Kinos manchmal auch
nicht mal zur Hälfte gefüllt sind, wie sie dürften, die nervt auf Dauer.
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Um den Kinobesuch unter den Pandemiebedingungen zu organisieren, gibt es ein ausgeklügeltes Buchungssystem für Akkreditierte. Drei Tage im Voraus kann und muss man buchen, man wählt einen bestimmten Sitz, und da die jeweiligen Nachbarsitze abmontiert sind oder so festgeschnallt, dass sich dahin keiner setzen kann, ist sichergestellt, dass jeder allein sitzt, keiner nebeneinander.
Wo man im Kino sitzen sollte, ist ein ewiges Thema. Eher vorne – das ist klar.
Die Mitte ist irgendwie doof, man braucht Perspektive.
In Venedig gucke ich eigentlich in allen Sälen von rechts auf die Leinwand. Warum, das kann ich nicht erklären. In Locarno auch, in Cannes und San Sebastian in der linken Hälfte, kommt zum Teil auch auf die Kinos an.
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Am Wochenende hat das Festival die Ansage verändert. Jetzt sagen sie nicht nur an, dass man die Gesichtsmaske auch während des Screenings tragen muss und auch die Nase bedeckt halten soll, sondern sie weisen auch darauf hin, dass man seinen Platz nicht wechseln darf. Wahrscheinlich ist die gute Absicht dabei die, dass mögliche Infektionen nachverfolgbar sein sollen. Was dabei allerdings komplett unter den Tisch fällt, ist die Tatsache, dass nicht selten Plätze von ihren Inhabern gar
nicht eingenommen werden, sondern diese die vorher gebuchten Tickets verfallen lassen. Auch das ist keine böse Absicht, es ist nur natürlich, bei einem Filmfestival, wo zumindest ein paar Dinge spontan funktionieren und man sich auch manchmal entscheidet, etwas sausen zu lassen, oder arbeitet, oder man hat einen wichtigen Film mehrfach gebucht, um sicher hineinzukommen, wenn man nicht weiß, ob man bestimmte Screenings zeitlich schaffen wird. Oder man hat einfach vergessen, die gebuchte
Karte zurückzugeben. Alles das kann passieren, alles das gehört zu einem Filmfestival – nur sind eben eine ganze Menge Plätze, die vorher gebucht waren, frei. Und das bedeutet, dass man die Zuschauer noch viel Corona-gesicherter verteilen könnte.
Wie es dann im Infektionsfall wirklich aussähe, ist gar nicht vorstellbar – wahrscheinlich müsste man sowieso alle Saal-Insassen informieren, egal wo sie saßen.
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Es ist ein relativ einsames Festival diesmal, eine ganze Reihe von Kollegen, mit denen ich ansonsten auch mal abends was trinken würde, sind nicht hier. Außerdem ist es so, dass wir durch die Reservierungs-Pflichten und die Verteilung der Vorführungen mehr Kinos haben als sonst und noch nie so getrennt saßen. Nach dem Kino verabreden ist damit alles etwas komplizierter und auch zeitlich schwieriger – wir verbringen mehr Zeit in den Kinos, aber es bedeutet auch, dass man für
andere Dinge eigentlich sehr wenig Zeit hat. Überraschend wenig. Ich bin schon jetzt gespannt, ob das beim nächsten Filmfestival, das stattfindet, in San Sebastian, ähnlich sein wird. Oder es wieder vollkommen spontane Begegnungen oder Zufallsbekanntschaften gibt.
Manche Kollegen, von denen ich weiß, dass sie hier sind, die habe ich noch nicht ein einziges Mal gesehen. Anderen geht es, glaube ich, genauso. An dem Ort, wo ich manchmal zwischendurch schreibe, ein Café auf dem
Festivalgelände, wo es auch ziemlich viele Stühle und Tische gibt, da habe ich diesmal eine ganze Reihe von Menschen gesehen, die alleine herumsitzen.
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Ein starker Film, aber einer, über den man streiten kann, ist Dear Comrades von Andrei Konchalovsky.
Gedreht in Schwarz-Weiß, im 4 zu 3 Format, geht es mit der sowjetischen Nationalhymne los. Ein Ort in der Provinz im Sommer, im Don-Becken des Südens: Nowotscherkassk im Jahr 1962.
Zu Beginn wirkt vieles ein bisschen nostalgisch romantisierend, der Film zeigt auch das Schöne des Lebens damals, die Musik, die Möbel, die kleinen Dinge: auch für die UdSSR ist 1962 eine gute Zeit, eine Zeit des Aufbruchs. Es scheint sich eine ganz private Geschichte zu entspinnen – nur im
Hintergrund gibt es natürlich im Radio leichtes Rumoren um die Preiserhöhungen.
Ludmilla ist eine Frau in den mittleren Jahren, vielleicht ist sie erst 40, vielleicht auch schon 50. Sie hat eine politische Position in der lokalen KP und deswegen Privilegien, weil sie besser an Essen und Trinken herankommen kann, auch an Zigaretten und sonstige kleine Gefälligkeiten – trotz aller Rationierungen.
Sie hat ein Verhältnis mit einem verheirateten Mann, von dem sich herausstellt, dass er ihr Vorgesetzter in der Partei ist. Das erste Gespräch dreht sich bereits darum, dass sie alle gegenseitig von der Situation profitieren und das in einem gewissen Sinn natürlich auf dem Rücken anderer.
Sie hat eine Tochter. Wir können uns schon jetzt ausrechnen, dass diese Tochter ungefähr 20 Jahre alt ist, also noch im Zweiten Weltkrieg geboren wurde, der damals erst 18 Jahre zurücklag. in den Gesprächen zeigt sich schnell die Generations-Differenz zwischen ihr und ihrer Tochter: Sie selbst hat eine Tendenz, Stalin zu verklären: »Das war die gute alte Zeit ... wenn er noch da wäre, dann wäre alles nicht so schlimm ... damals machte alles Sinn.«
Dann dreht sich der Film und entfaltet ein präzises Bild des komplexen Räderwerks der Partei und Staatsapparate, des Militärs, der Jugendorganisationen. Es geht auch um die Funktionsbedingungen der alltäglichen Bürokratie. Immer ist noch einer drüber in der allgegenwärtigen Hierarchie.
Als ziemlich bald vor Ort ein Streik ausbricht, der ziemlich schnell eskaliert, ist die Partei alarmiert. »Erinnern Sie sich an 1956« heißt es. So wird der Arbeiteraufstand niedergeschossen, über 20 Menschen sterben – Nachrichten über diese Ereignisse werden unterdrückt.
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Was Dear Comrades von naturalistischem Nachstellungskino unterscheidet, das etwa Jasmila Zbanics-Massakerfilm vom Donnerstag praktiziert, ist, dass die allermeisten Figuren uneindeutig und ambivalent sind, und dadurch glaubwürdig.
Als sie über die Opfer der Revolution und des Bürgerkriegs debattieren, sagt die Hauptfigur »Was there a better way?«
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Der Film spaltet. Mir und zum Beispiel Carlos hat er gut gefallen, aber der Italiener Ugo schimpfte über einen »Bourgeoisen Film«: »This is a stupid woman. I don’t want stupid women. I am not interested in stupid women. I am not interested in this one single person and her daughter – I’m interested in history and the historic event.«
(to be continued)