ABSTAND/ZOOM
I_IRREN |
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Kurzzeitschwester: Schwer zu erkennen, ob etwas richtig oder falsch ist, also ob man sich irrt... | ||
(Foto: NDR/ARD) |
Von Nora Moschuering
Dass ich mich irren kann, geschenkt. Dass auch alle anderen sich irren können auch. Schwierig wird es bei Programmen oder Algorithmen, aber auch das Irren kann man programmieren oder vielleicht sind Bugs der Irrtum eines Programms. Ich glaubte aber, Pflanzen irren sich nie. Lange ähnelten sich darin für mich Pflanzen und Filme (Programme, Pflanzen, Filme, nicht schlecht, was ich da gleich zu Beginn auffahre): Eine ganze Zeit war ich der Meinung, dass sich Filme nicht irren können, weil sie einfach so sind wie sie sind. Quasi richtig gewachsen. Als gäbe es da ein Naturgesetz und sie würden so wachsen wie sie müssten, vom Anfang zum Schluss hin, weil anders rum keinen Sinn machen würde. Ich bin zu Beginn meiner Filmerfahrung nicht auf die Idee gekommen, dass man an dem, was einem da gezeigt wird, irgendetwas in Frage stellen könnte. Bei Büchern war das auch so. Ich akzeptierte sie so, wie sie waren. Ihr So-Sein. Das heißt allerdings nicht, dass mir alles gefiel, sondern nur, dass ich zu bestehenden Versionen keine Alternativen sah. FilmemacherInnen, SchriftstellerInnen, MalerInnen, ja alle Künste basierten für mich auf einer intrinsischen Notwendigkeit, aus einem Drang von etwas Organischem nach außen, zwar haftete es an einer Person, aber die hatte streng genommen eigentlich gar keine Wahl. Etwas romantisch und naiv hing ich an einer Art Geniebegriff. Ein Genie irrte sich nie. Das hat sich dann nach und nach geändert als ich aus der Pubertät rauswuchs.
Es ist auch weniger ein Irren, das ich mittlerweile in einem Film sehen kann – denn dann gäbe es ja ein definitives Richtig oder Falsch – sondern eher eine Art Zweifel oder ein Zögern auf meiner Seite, der ZuschauerInnenseite, das aber mitunter die fruchtbarsten Film-Diskussionen auslösen kann.
Also kann ein Film doch nicht irren? Kann er nur Zweifel an ihm in mir hervorrufen? Oder hat er sich dann schon für mich geirrt oder in etwas Falschem verirrt?
Erst einmal einfacher: Kann ich mich im Bezug auf den Film irren? Auch wenn zum Beispiel meine Erwartungen nicht erfüllt werden? Wenn ich einen Film sehen und nach fast der Hälfte merke, dass es doch kein Gangster- oder Roadmovie, sondern ein Horrorfilm ist wie bei Psycho oder sich bei Westworld ein Science-Fiction mit einem Western mischt, dann erzeugt das in mir selbst einen Wendepunkt, dann hat man sich im Genre geirrt und ist überrascht und ein bisschen beschämt.
Innerhalb von fiktiven Filmen selber wird sich natürlich massiv geirrt, sonst gäbe es wohl kaum eine interessante Figurenentwicklung. In den besseren Filmen hört dieses Irren wahrscheinlich auch nie auf, in den schlechteren oder vielleicht weniger motivierten, irrt sich der Held beispielsweise in der Auswahl seiner Geliebten oder auch seiner Ziele und findet nach ein paar Wendepunkten doch zur scheinbar besten Wahl. Dabei erfahren er und wir glücklicherweise zwischendurch, dass das andere definitiv die falsche Wahl gewesen wäre. Schön auch, dass er die Chance hat, seinen Irrtum rückgängig zu machen. Nicht unbedingt wie im echten Leben. Alles nicht. Aber eben ein Lehrstück: hab acht, wähle genau!
Aber ich kann beruhigen, es gibt Abhilfe, auch im echten Leben, natürlich fast schon traditionell mit einer App: mit der Universe Splitter-App. Damit kann man, mit einer simplen Eingabe und einem Knopfdruck, ein Duplikat unseres Universums erstellen. Also wenn man sich nicht entscheiden kann oder mag, dann kann man in dem einen Universum die eine Entscheidung treffen und im Universums-Duplikat entscheidet sich das Duplikat-Ich für die andere. Die App oder die Idee dazu, basiert auf der Viele-Welten-Interpretation, einer Interpretation der Quantenmechanik. Viele PhysikerInnen halten freilich die Interpretation ihrer KollegInnen für einen Irrweg.
In einem Universums-Duplikat hätte sich Neo, in dem in unserem Universum nicht existierenden Film: »Matrix – The Very Reverse«, für die blaue Pille entschieden und der Film wäre im Universums-Duplikat wahrscheinlich ein Flop gewesen – wahrscheinlich wäre er das auch in diesem, aber das ist reine Spekulation, hier hat er sich ja anders entschieden.
In Lola rennt (1998) werden wenigstens drei alternative Wege durchgespielt, allerdings in einer linearen Abfolge, nicht parallel wie in der App. Wie auch immer stellt aber doch beides auch die Idee von richtig oder falsch in Frage. Und spätestens hier kommt ins Spiel, was ich als Teenagerin noch unhinterfragt akzeptiert habe: Eine Geschichte kann auch ganz anders laufen (oder besetzt werden).
Auch in Rashomon – Das Lustwäldchen (1950) wird ein Vorgang aus vier Perspektiven erzählt, dabei geht es nicht um faktische Entscheidungen, sondern um das Geschichtenerzählen, um die Frage nach Wahrheit, subjektiver Wahrnehmung, Motivation und Erinnerung. Lola rennt macht es uns ja gewissermaßen einfach, es stellt jede mögliche Handlung nicht als Erinnerung, sondern als momentanen Fakt dar, er konstruiert drei Verläufe, während Rashômon die Vertrauenswürdigkeit von Geschichten dekonstruiert. Ja wer irrt sich denn da? Alle oder niemand?
Die Netflix-Serie Matrjoschka spielt mit der Zeit und ihrer Relativität, ähnlich wie die App, es gibt verschiedene Zeitschleifen und vielleicht auch das ein oder andere Universums-Duplikat. Trotzdem geht es natürlich im Großen und Ganzen darum, die richtige Entscheidung zu treffen, aber eben auch Fehlentscheidungen durchspielen zu dürfen. Mir scheint, man soll sich im Film sogar irren, sonst wäre er viel zu schnell vorbei.
Bei Dokumentarfilmen passiert es mir manchmal, dass ich das Gefühl habe, da hat sich jemand im Fokus geirrt, z.B. bei Zuhurs Töchter, in dem ich lieber mehr von der Mutter, dem Vater und den Geschwistern und ihrer Flucht erfahren hätte, als von den beiden Schwestern. Oder bei Anny, der mir sehr und auch etwas gewollt auf das Thema Sexarbeit und weniger auf
die Protagonistin hin geschnitten wurde (beide liefen auf dem eben beendeten DOK.fest). Dokumentarfilm ist immer ein Versuch, eine Begleitung, die sich erst mal zur Orientierung einen roten Faden gibt, gleichzeitig aber auch in der Bewegung des Lebens mitgehen muss, und die ist eben nicht immer planbar. Gerade der Moment des Irrens kann den Dokumentarfilm und auch das Leben, so interessant machen.
Eigentlich
ist es auch anmaßend so etwas zu schreiben, weil man ja eben gar nicht wissen kann, was in der Realität war, es sind ja nur Wünsche, die ich hier äußere, ein eigener roter Faden, den ich mir gebe, der vielleicht so in der Realität gar nicht existiert hat oder den man eben nicht einfangen konnte.
Kurzzeitschwester, eine dreiteilige Dokumentation in der ARD-Mediathek, erzählt vom Zweifeln einer Familie darüber, ob es richtig gewesen ist, ein Pflegekind aufzunehmen und ob es richtig gewesen ist, es wieder abzugeben. Der Sohn, dem seine Schwester genommen wurde, erzählt diese Geschichte. Er erzählt sie ganz unaufgeregt und ohne Vorwürfe. Der Kurzzeitbruder fragt seine Mutter zu Beginn der zweiten Folge, ob sie Angst davor habe, als die Böse dargestellt zu werden, und die Mutter antwortet, dass sie immer das Gefühl habe, sie müsse sich verteidigen, obwohl sie versucht hat, es richtig und gut zu machen. Und so einfach ist das mit Entscheidungen eben auch nicht, sie entstehen in einem Verbund, dem Mann, den Kindern, Fehlgeburten, der eigenen Familienvorstellung, den Vorstellungen der Eltern. In diesem Geflecht kann man schwer erkennen, ob etwas richtig oder falsch ist, also ob man sich irrt.
Ich bin auch schon öfter wortwörtlich herumgeirrt, ich mag das eigentlich sehr gerne. Forste und ihr Schachbrettmuster führen beispielsweise entweder dazu, dass man richtig oder drei Mal völlig falsch fährt. Ich habe mich schon ein paar Mal beim Radfahren im Forst verirrt. Letztens, es wurde schon langsam dunkel, da sind rechts von mir, auf dem Waldweg, im langen Schatten der Bäume 10-12 Wildschweine aufgetaucht oder besser: Die standen da so rum. Ich habe sie eine Weile beobachtet. Ich bin dann weitergefahren und, als ich umkehren musste, weil ich mich um 180 Grad vertan hatte, versperrten sie mir den Weg. Den Weg, den ich nehmen musste! Fatal. Aber so eine Wildschweinrotte verschwindet sehr schnell im Wald, wenn man auf sie zufährt. Sie beobachten einen dann aus dem Wald heraus, das spürt man. Das zu bemerken ist ein richtig durchdringender Moment, dafür kann man sich auch mal irren.
Ich muss übrigens noch hinzufügen, dass sich auch Pflanzen irren können, die Feige einer Freundin hat gerade alle ihre Blätter abgeworfen, sie scheint zu denken, dass es Winter ist, aber da irrt sie sich. Aber wer weiß, vielleicht hat sie doch recht, hier oder in einem anderen Universum.