ABSTAND/ZOOM
K_KIPPE |
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Jetzt steht fast schon dieser Text auf der Kippe. Gia Coppolas Mainstream | ||
(Foto: Filmfest München) |
Von Nora Moschuering
Rauchen würde mir ausnehmend gut stehen, da bin ich mir sicher. Erst mal natürlich die Handhaltung, das lässig abknickende Handgelenk, dann das Daranziehen, das leise Knacken des brennenden Tabaks, das Nebenbei des Ausatmens. Die Lässigkeit unbewusster Gesten, ein Blick durch den Rauch in die Welt und dann: das Abaschen. Der ganze Vorgang eine kurze Pause in unserer andauernden Bewegung. Viele meinen, dass so eine Art Pause auch durch die Pandemie entstanden ist, aber es fühlt sich einfach überhaupt nicht nach einer langen, coolen Zigarettenpause an. Im Gegenteil. Trotz dem eben Beschriebenen habe ich noch nie geraucht, weil es sehr ungesund ist und überhaupt: stinkt und schwarz und teerig ist, und Haut, Nägel und Haare gelblich davon werden und porig. Von der Lunge gar nicht zu reden. Aber ich habe eine Zeit lang viel gedreht. Zigaretten. Für andere. Es beruhigt mich. Es passiert konzentriert und sorgfältig und trotzdem kann man das, was um einen herum passiert, wahrnehmen. Ich mag Menschen, die einem dabei in die Augen sehen können. Eigentlich ein schöner Filmmoment, leider fällt mir kein Film ein, in dem er vorkommt. Rauch an sich dagegen spielt immer wieder eine Rolle, Rauch ist wie ein bewegter und unkontrollierter Mitspieler. Über eine Person kann durch ihr Rauchen viel erzählt werden: Es kann Genuss bedeuten oder Stress. Kippen dagegen sind wenig filmisch.
Ich erinnere mich an das Kino »Smoky & Movie« in Ottobrunn (das gibt es noch immer), im Smoky konnte man rauchen und im hinteren Bereich gab es auch eine Bar. Das fand ich alles ziemlich faszinierend als junges Mädchen, das hier ihren ersten Kinofilm sah. Wir waren da aber nur ein einziges Mal, dann sind meine Eltern – beide Nichtraucher – nicht mehr ins Smoky gegangen. Das machte es für mich eine Zeit lang fast ein bisschen mythisch, bis ich dann als Jugendliche wieder drinnen war, das war dann weniger geheimnisvoll, dass alle Nase lang jemand aufstand, um sich ein Bier von der Bar zu holen, eine Zigarette nach der anderen angezündet wurde und sich das Licht des Projektors im Rauch verfing. Starkes Husten.
Dabei kann man den Rauch auch nutzen, im Expanded Cinema wurde auf Rauch (nun gut, vielleicht auch auf dichtem Dampf) projiziert. In den 60er und 70er-Jahren schwappte so der Film in den Raum bzw. ließ sich anfassen. BilderhauerInnen arbeiteten auf diese plastische Art mit Film, was Sinn macht, da beides sich mit Körperlichkeit und Räumlichkeit beschäftigt. (3D-Filme machen das gewissermaßen auch, aber eben auf der zweidimensionalen Leinwand). Auf der anderen Seite gab es FilmemacherInnen, die sich mit den skulpturalen Dimensionen des Filmes beschäftigten. Ein Klassiker ist Anthony McCall’s »Line Describing a Cone« von 1973. Zuerst sieht man den Film als weißen Punkt auf einer schwarzen Oberfläche. Dieser Punkt wächst zu einer Linie, die sich zu einem Kreis schließt. Währenddessen sieht man zwischen der Wand und dem Projektor die Lichtprojektion als einen immer weiter wachsenden Kegel, den man sieht, weil das Licht auf Partikel, sagen wir einfach mal Rauch, trifft. Im Raum kann man dann seine Blicke, aber auch seinen Körper bewegen und in den Kegel einsteigen.
Apropos Körper im Licht: Vor dem Rauchverbot trafen Lichter im Club auf Körper und Rauch, und Kippen manchmal auch auf Menschen, die das gar nicht wollten. Es kam vor, dass man Bierflaschen abstellt, aus denen man dann wieder trank und sich an einer Kippe verschluckte. Danach stand der Abend schon auch auf der Kippe.
Legerer Übergang zum Film: Sandra Wollners The Trouble with Being Born steht immer auf der Kippe. Der Film punktiert einen mit Andeutungen, die leicht schmerzen, und findet dafür Bilder, die so zart und schön wie grenzwertig sind. Eine große Kunst.
Der Film beginnt mit der flüsternden Stimme eines jungen Mädchens. Sie flüstert scheinbar Erinnerungen und dabei gleitet die Kamera und unser Blick mit ihr schwerelos durch das Grün eines Waldes und daraus hervor. Da sehen wir einen Mann auf einer Liege an einem kleinen Pool. Man hat das Gefühl, aus den Augen des Mädchens zu sehen, sich auf ihn zuzubewegen, aber dann taucht ein Mädchen von links auf, während wir direkt auf beide zugehen und das Flüstern aufhört. Es ist nicht so einfach, mit nichts: der Perspektive, der Erinnerung oder der Verortung eines Bewusstseins. Allein die Konstellation: ein mittelalter, vielleicht auch etwas älterer Mann alleine mit einem 10-jährigen Mädchen, das meistens wenig anhat. Sein Gesicht ist ähnlich unbewegt wie ihres. Beide wohnen über den Sommer in einer kühlen Hausarchitektur, so elegant wie unpersönlich, so futuristisch wie aus den spießigen Fünfzigern. Wie in jedem Film, in dem künstliche Menschen eine Rolle spielen, geht es natürlich vor allen Dingen um uns, die »unechten« Körper sind Dummies, an denen wir uns selbst philosophische Seins-Fragen stellen können. The Trouble with Being Born ist dabei unvergleichlich besser als Ich bin Dein Mensch von Maria Schrader, in dem es, in einer hipsterigen Berliner Wohlfühlatmosphäre, zwar auch darum geht, was Liebe ist, aber auf jeden Fall mit erklärtem Ziel: Dass es für diese/ jede Frau unbedingt nötig ist, einen Mann zu haben. The Trouble with Being Born ist klüger, komplexer und uneindeutiger und hat damit auch wirklich alles, was »Mainstream«, über den ich zum Schluss schreibe, nicht hat: Tiefgang, Lücken, Zeit für Gedanken und eine Stimmung, die man wirklich nur in einem Film erzeugen kann und das, ohne dabei von der Realität losgelöst zu sein.
In Filmen, in denen künstliche Menschen vorkommen, steht ja vor allem auch immer einer auf der Kippe: Der Mensch. Aber »das auf der Kippe stehen« ist ja nicht nur eine Gefahr, es kann auch eine Möglichkeit sein, das möchte ich in einer »Late Night Film Lecture« auf den Münchner Filmkunstwochen am 12.08.21 zeigen (Follow the cyborg ... eine Welt ohne Gender?).
Der erste Film, den ich wieder im Kino gesehen habe, pünktlich zum 01.07., war Nomadland von Chloé Zhao. Fern, eine 60-jährige Witwe, wird nach dem Verlust ihres Mannes und des Arbeitsplatzes zu einer Nomadin und zieht ziellos in ihrem Van im Westen der USA herum. Ferns Leben steht auf der Kippe, sie ist auf der Suche nach einer Richtung, die sie in Zukunft einschlagen kann. Diesen Kipppunkt kann man natürlich auch auf ein ganzes Land ummünzen. Fern schafft es schließlich, den Kreis zu schließen oder besser: Etwas abzuschließen, um weiterzugehen, weiter unterwegs zu sein, denn auch in der Bewegung kann das Ziel liegen. Auch für einige, die sie unterwegs trifft, ist es eine freie Entscheidung, für andere eine Notwendigkeit (z.B. aus ökonomischer Not). Diese Menschen – im für uns scheinbaren Dazwischen – schaffen es, dass der Film sich so warm anfühlt, menschlich. Das macht ihn irgendwie versöhnlich, dabei werden in den USA Menschen in armen Verhältnissen in Trailern geboren und sterben dort, in Downtown L.A. in Skid Row, aber auch woanders leben Menschen in Zeltstädten auf den Straßen.
Ich habe das selber vielleicht erst 2010 bei Winter’s Bone von Debra Granik so richtig verstanden, dass da irgendetwas auf der Kippe steht in den USA oder dass das Bild des Lebens dort, das durch Hollywood-Filme verbreitet wird, nur für eine Handvoll Menschen gilt, wenn überhaupt. Dann habe ich weitere Filme von VertreterInnen des US-Independent-Kinos gesehen, wie die von Kelly Reichardt, z.B. Wendy and Lucy (2008). Darin fährt Wendy mit ihrer Hündin Lucy nach Alaska, sie ist auf der Suche nach einem Job. Ihr Auto gibt irgendwann den Geist auf, und die beiden werden obdachlos. Natürlich begegnen sie dabei netten Menschen, die ihr helfen, aber eben auch weniger netten. Wendy versucht dabei immer, ihre Würde zu behalten, aber auch Lucy, ihre einzige Freundin.
Auch in Jake Mahaffys War (2004) oder Wellness (2008) leben Menschen zumindest teilweise in ihren Autos. In War fährt ein Vertreter mit seinem Auto herum und raucht. »On the Road« und »auf der Kippe« sind sich oft sehr ähnlich. Alle Personen in War suchen verzweifelt nach einem Auskommen im verlassenen Hinterland, den ländlichen Regionen der USA. Der Vertreter aus War (Jeff Clark) wird bei Wellness (2008) zum Hauptcharakter als unterste, aber vielleicht willigste Stufe des Kapitalismus, der sich 24/7 für ein Produkt einsetzt. Ein Vertreter mit einer Vision für seine Karriere oder einer Art Ignoranz für die Realität – oder er ist einfach nur verzweifelt. Er ist ein nicht fest angestellter Freiberufler, der versucht, sein Investment wieder reinzuholen, und sich mit attraktiven Berufsbezeichnungen ablenken lässt, aber eigentlich ein korruptes Schneeballsystem befördert (»Wellness« ist das Produkt, und das Schneeballsystem die einzige Strategie). Auf der anderen Seite sägt er leere Hornissennester von kargen Bäumen, kauft sich vom letzten Geld Rubbellose und man hofft, dass da eine Frau an der anderen Seite der Leitung ist, die er täglich anruft (sicher ist man sich nicht). Irgendwie erscheint er gutmütig und naiv, mit seiner Brille, seiner Frisur, den lächerlichen Statussymbolen, wie den dicken Ringen an den Fingern oder den Zigarren, die er als Bonus erhält (und die der andere sicher auch mal als »Bonus« erhalten hat). Aus solchen Zigarren werden sehr große Kippen.
Was passiert eigentlich, wenn in Filmen nichts auf der Kippe steht? Wenn alles safe ist, kein Schwanken nah und fern, das Ziel klar und der Weg geräumig und ausgebaut?
Bei dem zweiten, und auch schon letzten Film auf dem Filmfest, den ich gesehen habe: Mainstream, spielt Arthur Garfield (aka Spiderman), den ich gar nicht kannte, weil ich mich zwar für Roboter, aber relativ wenig für SuperheldInnen interessiere, einen Influencer. InfluencerInnen sind ein bisschen so wie VertreterInnen: Personifizierungen des amerikanischen Traums: Wenn du nur willst, fleißig, aber auch skrupellos genug bist, kannst du reich und berühmt werden. InfluencerInnen sind nur noch ein wenig individualistischer getrimmt, weil das einzige Produkt, das sie anzubieten haben, meist sie selbst sind: Sei irgendwie etwas, das authentisch erscheint, und sei laut, denn du bist nicht der einzige Vertreter, der an der Tür klingelt, sondern einer von Millionen.
Mainstream ist sehr voraussehbar und funktioniert wahrscheinlich auch nur für Menschen in Garfields Alter oder dem von Gia Coppola (wie der Opa so die Enkelin), also die, die Mitte dreißig sind und sich distanziert mit dem Netz auseinandersetzen, die irgendwie befremdet, aber auch fasziniert davon sind. Es wirkt dann auch etwas altbacken, aber das soll wohl auch so sein. Das Altbackenste ist allerdings das Happy End: Während Link (Garfield) immer mehr durchdreht, kehrt sich seine Freundin Frankie (Maya Hawke) von ihm ab, um sich dem Dritten im Bunde Jake (Nat Wolff) zuzuwenden. Jake ist ein freundlicher schreibender Zauberer, moralisch unantastbar und darauf wartend, dass die Frau endlich zur Vernunft kommt und bemerkt, dass der coole Typ der Klasse eben kein Beziehungsmaterial ist. Puh. Teenie-Schmonzette, aber insgesamt auch ganz lustig: einerseits steht da Garfield immerzu auf der Kippe, mit einer wahrscheinlich narzisstischen Erkrankung, der die Liebe & Aufmerksamkeit aller Menschen braucht und dem das Netz einen perfekten Platz dafür bietet, andererseits reizt der Film natürlich auch das aus, was man als Aufmerksamkeitsökonomie kennt und aus einer permanenten Steigerung und Hyperaktivierung besteht: eine Blase, die irgendwann implodiert. Da steht etwas auf der Kippe, und Link weiß das und reizt es aus. Frankie gibt dazu zwar kurz den Impuls, wird dann aber einfach mitgezogen. Also Link performt und Jake schreibt – die Aktion der Frau ist die Entscheidung zwischen den beiden Männern, und sie entscheidet sich für den Netten. Merkt ihr’s? Aber das ist ein anderes Thema, jetzt steht ja schon fast dieser Text auf der Kippe.