ABSTAND/ZOOM
L_LUFT |
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Überall fehlt es hier an Luft. Mohammad Rasulofs Doch das Böse gibt es nicht | ||
(Foto: Grandfilm) |
Von Nora Moschuering
Also die Luhhft, lang und frei, oder ganz kurz und weich, eher eine Art pffft, wie der kleine, zarte Ton den es macht, wenn man bei einer Luftmatratze die Luft rauslässt. Luft ist ganz anders als das englische Wort Air, das sehr räumlich ist. Luft klingt nach atmen, es ist etwas Fassbares, fast schon Lapidares, etwas, was nebenbei existiert, das wir aber sehr sch ätzen.
Luftholen. Gerade auch ein Bild für die Öffnung der Kinos. Wobei es möglicherweise eher eine Pause von der Pause ist, was einigermaßen verwirrend ist. Das Luftholen ist hier eben ein Tun im Nichts-Tun, wo man doch normalerweise Luft holt, weil man zu viel tut.
Luftholen. In ein Gefäß füllen, es luftdicht verschließen. Eine Beatmungsmaschine anstellen und die Lungen mit Beatmungsgas/Luft füllen.
Luft kann aber auch genommen werden.
In leichter Form in Radu Judes Bad Luck Banging or Loony Porn. Er hat auf der diesjährigen Berlinale den Goldenen Bären gewonnen (zu dem Gewinner des letzten Jahres komme ich zum Schluss). Es ist unmöglich, sich diesen Titel zu merken, man nuschelt also irgendetwas von Bad Luck und Porn, um ins Kino zu kommen.
Im ersten von drei Teilen, in »Einbahnstraße« flieht eine Frau durch die
Straßen Bukarests vor einer Nachricht. Sie hatte fröhlichen Sex mit ihrem Mann (oder wem auch immer), allerdings sind die Filmaufnahmen, die dabei entstanden sind, ins Netz gelangt und waren dort, zumindest für Menschen, die sich auf »pornhub« aufhalten, sichtbar – was offenbar viele tun, ohne das verwerflich zu finden. Es geht in dem Film auch um Doppelmoral. Die Lehrerin Emilia »Emi« Cilibiu ist also unfreiwillig Teil einer öffentlichen Debatte geworden, die sie nicht mehr
aufhalten kann. Und wir sitzen erst einmal gefühlt eine Ewigkeit vor den Amateur-Pornofilmaufnahmen, die ziemlich explizit sind. Hier wird mit voller Absicht keine Lücke gelassen, wir können uns nicht dafür entscheiden, unsere Phantasie walten zu lassen oder auf »pornhub« zu klicken, wir ZuschauerInnen müssen Teil der Debatte werden und uns innerlich dazu verhalten. Zum Schluss des Filmes wird das sehr schön gespiegelt, wenn die StellvertreterInnen verschiedener gesellschaftlicher
Positionen ziemlich genüsslich, dreist und lüstern die Szene auch noch mal ansehen und wir uns ganz darauf konzentrieren können sie – also auch uns – dabei zu beobachten. Aber zurück zum ersten Teil, im Anschluss folgt man der Lehrerin durch die Stadt: Immer wieder schwenkt dabei das Bild von ihr weg auf Werbetafeln, Graffitis, Geschäfte, Poster. Emi laviert sich um Menschen herum, überquert Kreuzungen und trifft auf immer größer werdende Autos die ihr den Gehweg verstellen.
Beim ersten Mal legt sie sich mit dem Fahrer an, dann lässt sie es. Alle sind rastlos. Atemlos. Viele Menschen tragen Masken, auch Emi, der man eigentlich schon so nahe gekommen ist, die sich aber im analogen Stadtraum verliert.
Teil 2: »Kurzes Wörterbuch der Anekdoten, Zeichen und Wunder«, ein Alphabet verschiedener Begriffe aus der rumänischen Geschichte oder Gesellschaft. Zuerst scheinbar assoziativ (wie diese Reihe hier) dann aber doch auf das vorbereitend was kommt, die
Inszenierung der rumänischen Gesellschaft auf Basis dieser Hintergründe.
Im dritten Teil »Praxis und Anspielungen (Sitcom)« trifft man wieder auf Emi. Sie betritt die Schule, in der sie unterrichtet. In ihrem Innenhof – sei es aus Pandemie-Gründen oder als eine Art Agora – trifft sie zuerst auf die Lehrerschaft, die schließlich in die Elternschaft und damit eine Art Bild der rumänischen Gesellschaft, aber auch der digitalen Gesellschaft allgemein, übergeht. Es wird
verhandelt, unterschiedliche Meinungen treffen aufeinander, jeder und jede darf noch mal kommentieren und sich einmischen und von den eigenen und eigentlichen Problemen ablenken. Hier tragen alle Masken, auf ihre ganz eigene individuelle Art. Das ist metaphorisch gemeint, aber eben auch wortwörtlich. Die Masken tragen Zeichen und Hinweise und sind, wie auch die Kleidung, Kostüme, über die etwas erzählt wird. Dabei werden die Menschen nicht individualisiert, sondern sie
repräsentieren verschiedene Gruppen. Mittendrin Emi, die sich tapfer schlägt und versucht, wieder Luft zu bekommen und etwas zu rechtfertigen, was sie nicht mehr rückgängig machen kann und aus dem sie, das bemerkt man recht schnell, nicht mehr rauskommt. Aber sie argumentiert, sie argumentiert gut und erfährt auch Rückhalt. Der Schluss ist erstaunlich uneindeutig eindeutig und dabei richtig kraftvoll.
Das Luftholen in Bad Luck Banging or Loony Porn ist eines in einer hyperventilierenden, digitalen, (un-)moralischen Gesellschaft, das durch die Masken eine Gestalt bekommt, in Promising Young Woman von Emerald Fennell, einem Rape-and-Revenge-Film, geht es um das Luftholen auf verschiedene Art
und Weise. Man kann den Film diese (Sub-)Genrebezeichnung geben, kann es aber auch sehr gut lassen, es ist vielleicht auch Zeit dafür, damit aufzuhören, simple Genrebezeichnungen für komplexe und besonders traumatisierende Ereignisse zu benutzen.
Cassandra »Cassie« Thomas sucht nach einem Ventil zur Verarbeitung des Selbstmords ihrer Freundin Nina. Nina wurde die Luft genommen, als sie auf einer Party von mehreren Männern vergewaltigt wurde. Das, aber auch das dies, sowohl
von den beteiligten Männern, als auch von den unbeteiligten, aber mitwissenden Frauen, verharmlost oder verdrängt wurde, hat Nina in den Selbstmord und Cassie zur Rache getrieben. Nach Ninas Tod hat Cassie das Medizin-Studium abgebrochen und arbeitet seither in einem Café. Sie ist wütend, wütend auf den eigentlichen Vorgang, aber auch wütend darauf, dass alle so weiterleben wie bisher und das es offenbar Strukturen gibt, die das Ganze mittragen und die Täter in Sicherheit wiegen.
Sie besucht ein Mal in der Woche eine Bar, gibt vor betrunken zu sein und lässt sich mitnehmen. Weder ein »Nein«, noch das sie ganz offensichtlich nicht mehr »Frau ihrer Sinne ist« hält die, meist nett ausschauenden Jungs, davon ab, sie »benutzen« zu wollen. Gerade diese Harmlosigkeit der Jungs und die Länge der von Cassie geführten Liste ist wahrscheinlich eines der stärksten Indizien dafür, dass hier massiv und gesellschaftlich etwas falsch läuft. Cassie selber wohnt – wie die
Jungs und wahrscheinlich auch ihre ehemaligen KommilitonInnen – in der völligen Geschmacklosigkeit eines US-amerikanischen Pseudo-Biedermeier-Vororts, dessen Künstlichkeit und inszenierte Unschuld trotzdem oder gerade, solche katastrophalen Übergriffe fast schon zu einer Art Tradition/Normalität werden lassen, über die man nicht spricht – ähnlich wie beim Spring Break, den Universitäts-Partys, dem Abschlussball oder auch auf dem Oktoberfest oder eben ohne
»traditionalisierten Rahmen«: Frau. Alleine. Kurzer Rock. Betrunken. Selbst schuld. Cassie versucht, das zu durchbrechen, indem sie wieder »nüchtern wird« und sie mit ihrem Handeln konfrontiert. Im besten Fall nimmt jeder der Männer, die von ihr bloß gestellt werden, etwas mit, denkt nach, wird emphatisch, ist nicht von ihrer plötzlichen Nüchternheit, sondern von seinem eigenen Tun schockiert.
Dann verliebt sich Cassie. Natürlich. Die Love-Story als scheinbar beruhigender
Punkt, der kurz so etwas wie Normalität suggeriert.
Promising Young Woman erschreckt, befriedigt aber gleichzeitig auch, weil es die Rache eben gibt, aber eben wieder einmal die sehr individualisierte einer Einzelkämpferin, wie es Hollywood-Filme so gerne machen. Sie geht nicht zur Polizei, nicht zu einem Anwalt, so das im besten Fall nicht nur Gerechtigkeit für Nina hergestellt
werden würde (natürlich kommt zum Schluss die Polizei, und vielleicht können hier Schritte in diese Richtung angedacht werden, kommen aber im Film nicht vor).
Die interessanteste Figur ist dann auch der Anwalt, der die Täter von damals verteidigt hat und den ein schlechtes Gewissen plagt (offenbar wirklich als Einzigsten), weil er zwar »gewonnen« hat, aber moralisch nicht damit umgehen kann. Das sonst keine einzige der Figuren diese Ambivalenzen aufweist, sich schämt, bereut oder
zweifelt (auch Cassie nicht), ist schade, das hätte man in jedem Fall komplexer machen können, genauso, wie mögliche Erklärungen zu zeigen, wie es überhaupt dazu kommen konnte, warum diese Jungs Frauen objektivizieren und warum das die Frauen selber auch machen, statt sich solidarisch zu verhalten (die Jungs dagegen haben dieses Brotherhood-Ding am Laufen). Eine andere Frau gibt ihr zwar schließlich den entscheidenden Hinweis und Beweis, aber das weniger aus Einsicht und Solidarität,
sondern ihrerseits aus Rache. Am Schluss bekommt Cassie wirklich keine Luft mehr und das ist schon etwas bitter, besonders weil sich wieder einmal die Frau opfern muss.
Der Aufbau von Promising Young Woman entspricht dann tatsächlich diesen zwei zu Beginn genannten Begriffen: Vergewaltigung und Rache und vielleicht/hoffentlich trägt der Film zu einer Sensibilisierung für bestimmte Themen bei und unterhält nicht nur für eine kurze Zeit, weil der Film in sich so abgeschlossen ist. Ganz anders erzählt der Episodenfilm Doch das Böse gibt es nicht von Mohammad Rasulof, der auf der letztjährigen Berlinale den Goldenen Bären gewonnen hat. In Doch das Böse gibt es nicht geht es in vier lose miteinander verbundenen Episoden um die Todesstrafe im Iran, etwas das eine Gesellschaft ersticken lassen kann. Rasulof
hat mit diesem Film dafür ein sehr ruhiges und leises Ventil gefunden, eben kein Rache-Film, sondern ein psychologischer und menschlicher Film, der zeigt, was es mit den Menschen macht, wenn sie damit direkt oder auch nur indirekt zu tun haben.
Zu Beginn fährt ein Mann mit stoischem Gesicht, mit einem Sack Reis nachts von der Arbeit nach Hause, später begleiten wir ihn und seine Frau durch Teherans Verkehr. Sie holen ihre Tochter, besuchen seine Mutter, sprechen über eine
bevorstehende Hochzeit. Er ist dabei liebevoll, aber unbewegt. Der erste Hinweis für das, was er macht, ist die schwere Tür, durch die er muss und die lange Mauer an der er vorbeifährt, der zweite der, dass er sein Gehalt nie selber von der Bank abholen möchte. Das alles sind kleine Hinweise, sonst erleben wir ihn in seinem Alltag und denken erst zum Schluss des Filmes über den gleichen Tag von vier anderen Menschen nach, deren letzter es war und deren Vollstrecker er ist. Sie sterben
durch Erhängen, er öffnet die Falltüren.
In der zweiten Episode geht es um das moralische Dilemma von Soldaten, die den Stuhl umschmeißen sollen, auf dem die Delinquenten stehen. Offenbar war diese Art der Vollstreckung im Iran mal der Fall, ist es aber jetzt nicht mehr. Eine Information, die man nicht bekommt, die ich aber wichtig fände. Der junge Soldat verzweifelt fast daran, schafft es aber, schließlich zu fliehen und entkommt mit seiner Verlobten.
In der dritten Episode
besucht ein ebenso junger Soldat seine Freundin im Haus ihrer Familie in dem eine merkwürdige Stimmung herrscht, weil sich alle auf die Trauerfeier eines Freundes, eines im Gefängnis umgebrachten Mannes, vorbereiten. Der junge Soldat erkennt ihn wieder, er hat ihm den Stuhl unter den Füßen weggezogen. Verzweifelt versucht er, sich daraufhin im See zu ertränken, den Kopf unter Wasser zu halten, selbst keine Luft mehr zu bekommen. Ein erstickter Schrei. Luftblasen.
Im vierten Teil
besucht eine Nichte ihren Onkel, einen Arzt und seine Frau, die zusammen abseits in den Bergen leben, weil er sich geweigert hat, die Todesstrafe umzusetzen. Der Mann ist krank und hustet Blut, während er versucht, sich für Entscheidungen zu rechtfertigen, zu denen seine Nichte/Tochter, die in Deutschland lebt, keinen Zugang hat.
Im Film geht es nicht um die Menschen, die zum Tode verurteilt sind oder Vertreter des Regimes, die die Urteile fällen, sondern darum, welche Auswirkung es
auf Menschen hat, ein Teil dieses Systems zu sein und wie es an ihnen zehrt.
Überall fehlt hier Luft: Im Staub von Teheran, in der, wie eine Gefängniszelle wirkenden Unterkunft der Soldaten, im Wasser des Sees und in den trockenen Bergen.
Der Film selber lässt Luft: Alles ist ganz still und leise. Rasulof lässt den Geschichten Zeit, sich zu entfalten, und die Personen haben die Möglichkeit, sich anders zu entscheiden, widerständig zu sein, müssen aber mit den Konsequenzen leben.