01.12.2022
Cinema Moralia – Folge 288

»Frei wie Tänzer, geis­tes­ge­gen­wärtig wie Fußball­spieler, überra­schend wie Guer­ril­leros«

Jonas 1957
Jonas (1957) entstand mit Kommentaren von Hans Magnus Enzensberger
(Foto: Filmgalerie 451)

Sechs Thesen zur Zukunft der Kritik und zu Ökonomien der Kritik; und Hans Magnus Enzensberger – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogehers, 288. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Keine Revo­lu­tion ist auch keine Lösung.«
– Aufschrift auf einer Berliner Hauswand

Es war wie ein übler Scherz. Aber er hätte darüber gelacht: Auf der Videowand am Berliner Bahnhof Fried­richstraße lief die Schlag­zeile »Deutsche Wirt­schaft wächst über­ra­schend«. Plötzlich fiel mir auf, dass unter dem Text Bilder von Hans Magnus Enzens­berger zu sehen waren. Man konnte sich denken, warum.
So habe ich vom Tod von HME erfahren.

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Wie sonst nur Alexander Kluge und Karl Heinz Bohrer war Enzens­berger die Bundes­re­pu­blik. Eine Insti­tu­tion in einem Fall verkör­perte der Münchner Dichter und Denker Gegenwart wie erhoffte Zukunft der Republik. Ihre helle Seite. Ein Luftwesen. Man konnte ihn leicht für den freund­li­chen verschmitzten Lächler halten, als der er zuletzt in der Öffent­lich­keit präsent war. Und darüber vergessen, dass Enzens­berger Sätze geschrieben hatte wie diesen über die deutschen Fern­seh­sender:
»Dem Programm­an­gebot des Sender­kar­tells entspricht das poli­ti­sche Angebot eines Macht­kar­tells von autoritär verfassten Parteien. Marginale Diffe­renzen der Plattform spiegeln in beiden Fällen ein Konkur­renz­ver­hältnis vor, das in den entschei­denden Fragen nicht existiert.«

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In seinem Essay »Mittelmaß und Wahn« beschrieb er Deutsch­land als eine einzige Provinz, schrieb, dieses Land sei bevölkert mit Figuren, »von denen noch vor dreißig Jahren niemand sich etwas träumen ließ. Also golf­spie­lende Metzger, aus Thailand impor­tierte Frauen, V-Männer mit Schre­ber­gärten, türkische Mullahs, Apothe­ke­rinnen in Nicaragua-Komitées, merce­des­fah­rende Land­strei­cher, Autonome mit Bio-Gärten, waffen­sam­melnde Finanz­be­amte, pfau­en­züch­tende Klein­bauern, militante Lesbie­rinnen, tami­li­sche Eisver­käufer, Altphi­lo­logen im Waren­ter­min­ge­schäft.«

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Auch zur Kritik und Rolle der Medien hatte Enzens­berger viel Kluges zu sagen: Sein »Baukasten einer Theorie der Medien« notiert, dass die Bewusst­seins­in­dus­trie zum Schritt­ma­cher der Entwick­lung spät­in­dus­tri­eller Gesell­schaften geworden ist. »Sie infil­triert alle anderen Sektoren..., übernimmt immer mehr Steue­rungs- und Kontroll­funk­tionen.«

»'Kritische' Bestands­auf­nahme des status quo genügt nicht. Gefahr, die zuneh­menden Konflikte im Medien-Bereich zu unter­schätzen, zu verharm­losen... Ein solches Vers­tändnis greift zu kurz und bleibt in takti­schen Ausein­an­der­set­zungen stecken.«
»In einem Land, das den Faschismus (und den Stali­nismus) am eigenen Leib erfahren hat, ist es viel­leicht immer noch oder schon wieder nötig zu erklären, was das heißt, nämlich, die Menschen beweg­li­cher machen als sie sind. Frei wie Tänzer, geis­tes­ge­gen­wärtig wie Fußball­spieler, über­ra­schend wie Guer­ril­leros. Wer die Massen nur als Objekt der Politik betrachtet, kann sie nicht mobi­li­sieren. Er will sie herum­schi­cken. ... Propa­ganda, die Selb­stän­dig­keit nicht freisetzt sondern lähmt, gehorcht demselben Schema. Sie führt zur Entpo­li­ti­sie­rung.
Zum ersten Mal in der Geschichte machen die Medien die massen­hafte Teilnahme an einem gesell­schaft­li­chen und verge­sell­schaf­teten produk­tiven Prozeß möglich, dessen prak­ti­sche Mittel sich in der Hand der Massen selbst befinden. Ein solcher Gebrauch brächte die Kommu­ni­ka­ti­ons­me­dien, die diesen Namen bisher zu Unrecht tragen, zu sich selbst. In ihrer heutigen Gestalt dienen Apparate wie das Fernsehen oder der Film nämlich nicht der Kommu­ni­ka­tion sondern ihrer Verhin­de­rung.«

Mal schauen, ob wir in den nächsten Wochen dazu noch mehr entdecken.

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Sechs Thesen zur Zukunft der Kritik und ihrer ökono­mi­schen Lage

1. Die ökono­mi­sche Lage der Kritik ist von ihrer kultu­rellen und poli­ti­schen Lage nicht zu trennen.

Begrün­dung: in der spät­ka­pi­ta­lis­ti­schen Gesell­schaft bestimmt die Bezahlung den Wert der Arbeit. Die Tatsache, dass Kritiker schlecht bezahlt sind und oft unter prekären Umständen arbeiten müssen, ist insofern eine Aussage über den Wert, der ihr von der Gesell­schaft zuge­messen wird.

2. Die Zukunft der Kritik ist nur als eine öffent­lich-recht­liche oder als eine ander­weitig ökono­misch komplett unab­hän­gige denkbar.

Begrün­dung: Kritik braucht Unab­hän­gig­keit. Unab­hän­gig­keit braucht (ein Mindestmaß) ökono­mi­sche Sicher­heit.
Die alten Modelle für ökono­mi­sche Sicher­heit taugen nicht mehr, und beginnen bereits seit langem, porös zu werden.
Das entspricht der gesamten Gesell­schaft. Die Gesell­schaften des Westens sind von Prozessen der Aufwer­tung und Abwertung, der Verdich­tung und der Auflösung in den Bereichen Ökonomie, Politik und Kultur geprägt. Der Ökono­mi­sie­rung i.S.v. Effi­zi­enz­stei­ge­rung, Ratio­na­li­sie­rung und Opti­mie­rung.
Auflösung und Abwertung treffen die Kultur besonders stark.

3. Kritik muss als Kunst und Kultur begriffen werden. Als Teil ihrer Substanz, nicht als ihr Akzidenz.

Begrün­dung: Die Kunst der Kritik erfordert ähnliche Fähig­keiten, Bega­bungen und Haltungen wie andere Künste.
In einer Gesell­schaft, in der große Unter­nehmen zu de facto Staats­be­trieben mutieren und in der ein wesent­li­cher und macht­voller Teil der Medien bereits öffent­lich-rechtlich orga­ni­siert ist, in der sowohl Bürger wie Klein­un­ter­nehmer und mittelstän­di­sche Betriebe, wie staat­liche und private Kultur­be­triebe wie oft genug auch größte Unter­nehmen und Banken durch soge­nannte Rettungs­pa­kete, Sonder­fonds, Preis­de­ckel und themen­be­zo­gene Hilfen (z.B. Corona-Hilfe) alimen­tiert werden, ist ein Kritik­be­trieb, der im Gegensatz zu nahezu dem gesamten Rest weit­ge­hend ohne solche Unter­s­tüt­zungen auskommen muss, frei flot­tie­rend, ohne soziale Mindest­si­che­rungen in der Wildnis des Marktes existiert, notge­drungen prekär.

4. Die Kunst, und damit auch die Kunst der Kritik, steht unter dem Druck/ dem Zwang, sich immer wieder neu zu posi­tio­nieren. Dies macht gleich­zeitig die Dynamik wie die Neurose der Verhält­nisse aus.

Begrün­dung: In der Gesell­schaft der Opti­mie­rung bestimmt die Notwen­dig­keit, sich immer weiter zu opti­mieren, verbunden mit der Notwen­dig­keit, sich immer neu zu erfinden, das Handeln aller Betei­ligten.
Daraus folgt auch die Notwen­dig­keit, sich immer neu gegenüber anderen Instanzen in der Öffent­lich­keit legi­ti­mieren zu müssen.

5. Es gibt keinen Main­stream mehr, weder im Design, noch in den Diskursen. Sondern einen Schwarm aus Blasen.

Der gegen­wär­tige Rückzug in die Privat­sphäre, der durch die digitalen Medien erheblich verstärkt und beschleu­nigt wurde, und der durch die Corona-Krise, und durch die gesell­schaft­liche Depres­sion im Gefolge des Ukraine-Konflikts weiter befördert wurde, geht notwendig einher mit einem Verfall des öffent­li­chen Lebens und der Öffent­lich­keit.

Vor dem Bild­schirm und dem Fernseher kann man Kunst und Kultur genießen, ohne von ihr irritiert zu werden.
Ein Blick in das Programm des Fern­se­hens und in die Angebote der meisten Zeitungen und Magazine offenbart, dass es die gemein­samen Bezugs­punkte in unserer Gesell­schaft zunehmend nicht mehr gibt. Der Main­stream ist total geworden, und damit ungreifbar, er befindet sich gleich­zeitig immer im Fluss, richtet sich aus an immer nied­ri­geren, immer mehr verwäs­serten Maßstäben.

Nicht nur die Kultur selbst, sondern auch die Rahmen­be­din­gungen von Kultur – zusam­men­ge­fasst unter Stich­worten wie u.a. kultu­relle Aneignung, Irri­ta­tion, Vers­törung, triggern, Kanon, Elite – stehen inzwi­schen unter Verdacht, und sind grund­sätz­lich begrün­dungs­pflichtig geworden. Weil sie sich nicht mehr von selbst verstehen.

6. Medien erfüllen ihre poli­ti­sche Aufgabe nicht. Und es zwingt sie keiner dazu das zu tun.

Medien sind zu schlichten Unter­nehmen verkommen. Wolfram Schütte hat dies schon vor Jahren beschrieben und im Stichwort der »Tchi­bo­i­sie­rung« der Medien auf den Begriff gebracht. Dieses bedeutet: Medien könnten auch Wurst verkaufen oder Auto­reifen oder Kaffee oder DVDs oder Terras­sen­s­tühle – und in den meisten Fällen tun sie das auch. Und zwar ökono­misch erfolg­rei­cher als ihre ureigenen (Medien-)Produkte.

Demge­genüber besteht die Aufgabe der Medien nach wie vor in ihren klas­si­schen Aufga­ben­fel­dern: Recherche, Vermitt­lung, Erziehung, Kritik, Aufklärung – und das alles unab­hängig von jedweden Zwängen und externen Einflüssen.

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Nach­fol­gend ein paar Fragen und Gedanken zu Ökonomien der Kritik.

Wie ist die Lage der Bezahlung in den öffent­li­chen Medien? Wie ist die Lage in Zahlen? Die Bezah­lungen schwanken. Es gibt hier keine Regeln, sondern allen­falls Anhalts­punkte, denn Bezah­lungen werden oft genug indi­vi­duell ausge­han­delt, unab­hängig von allen Tarif­ord­nungen. Und das ist grund­sätz­lich auch gut so. Das bedeutet: Wenn man Glück hat und gut ist, kann man sich gegenüber einer Redaktion ein höheres Honorar aushan­deln als das, was nach Tarif bezahlt wird.

Grund­sätz­lich ist die Bezahlung im Fernsehen die beste, im Radio immer noch sehr gut und stabil, im Print schlecht und deutlich im Sinken begriffen, im Online-Bereich selten vorhanden, aber tenden­ziell zunehmend.

Wenn man von Ökonomien der Kritik redet, dann müsste man im Grunde genommen auch über Ökonomien in der Aufmerk­sam­keit sprechen. Neben der Währung, die hier vor allem gemeint ist, nämlich dem Geld, gibt es natürlich auch andere Währungen: Prestige, Aufmerk­sam­keit, Relevanz; dies auch übersetzt in Zugriffe oder in Clicks oder Likes und Ähnliches sind solche Währungen. Ab einer bestimmten Quantität schlägt diese in Qualität um. Dann kann man durch die digitalen symbo­li­schen Währungen auch ökono­mi­sche Währungen erhalten.

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Der Erkennt­nis­ge­winn durch einzelne Hono­rar­summen hält sich in Grenzen. Denn die einzelnen Honorare schwanken und es handelt sich bei den realen Kalku­la­tionen eines freien Autors immer um Misch­kal­ku­la­tionen.
So ist es zum Beispiel so, dass wer relativ viele Mode­ra­tionen macht, selbst­ver­s­tänd­lich für manche dieser Mode­ra­tionen überhaupt kein Honorar bekommt, wenn es sich um sympa­thi­sche, viel­leicht befreun­dete Insti­tu­tionen oder Personen handelt. Ande­rer­seits bekommt man für manche Mode­ra­tionen ein sehr hohes Honorar, also weit über 1000 €. Ansonsten bekommt man für Mode­ra­tionen in der Regel zwischen 200 und 600 Euro oder auch mehr, je nachdem was man genau macht.
Ande­rer­seits gibt es auch Gesamt­pa­kete, bei denen man für den Veran­stalter mehrere Mode­ra­tionen übernimmt.

Es ist dann auch die Frage, wie man eine solche Mode­ra­tion macht – das heißt ob man trotzdem gut ist, wenn man sich nicht allzu ausgiebig vorbe­reitet, ob man in der Lage ist zu impro­vi­sieren, und mit anderer Arbeit Synergien herzu­stellen. Eigent­lich sind das alles Selbst­ver­s­tänd­lich­keiten.

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Stich­worte:
- In den Medi­en­häu­sern gibt es Pauscha­lis­ten­ver­träge.
- Im Print immer noch oft Zeilen­ho­no­rare. Die sind oft sehr niedrig.
- Online und Print nähern sich einander an. Denn auch im Print liegen Honorare (zum Beispiel für eine Film­kritik) bei oft genug deutlich unter 100 Euro.
- Das Nega­tiv­bei­spiel »taz«: Niedrige Honorare, nur durch Prestige gerecht­fer­tigt. Der zur Schau getragene, das Prestige überhaupt erst recht­fer­ti­gende Anspruch des Alter­na­tiven, des (von was eigent­lich?) unab­hän­gi­geren Jour­na­lismus wird längst nicht mehr eingelöst: Die »taz« ist eine links­li­be­rale Zeitung, die sich nicht grund­sätz­lich von der »Süddeut­schen« und der »Frank­furter Rundschau« unter­scheidet – es sei denn durch ihre schlech­tere Bezahlung.
Zuge­spitzt formu­liert könnte man sagen, dass die »taz« ziemlich genau die gleiche Entwick­lung als Medium durch­macht wie die Grünen als Partei: Sie ist in die Mitte der Gesell­schaft gewandert und längst ein Medium des urbanen Main­stream und des ästhe­ti­schen Klein­bür­ger­tums geworden.

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Wie kann man die Lage der Kritik verbes­sern?

Öffent­liche Präsenz, insbe­son­dere öffent­liche Medi­en­prä­senz, soge­nannte Relevanz ist für das einzelne Indi­vi­duum ebenso eine Antwort wie es auch für eine Orga­ni­sa­tion oder für ein Problem und ein Thema eine Antwort sein kann.
Das heißt: Wenn man ökono­misch überleben will, muss man sichtbar sein, bzw sich sichtbar machen. Man muss für relevant gehalten werden.
Es geht also um PR. Denn unsere Gesell­schaft ist nicht nur eine Gesell­schaft der Opti­mie­rung, es ist auch eine PR-Gesell­schaft. Es geht im Wortsinne darum (und hier ist der deutsche Wort­ge­brauch überaus verrä­te­risch) sich zu verkaufen.

Ansonsten kann man es nur ganz einfach so sagen: um die Lage der Kritik zu verbes­sern, müssen die Kritiker besser bezahlt werden. Um besser bezahlt werden zu können, muss man die Honorare erhöhen, insbe­son­dere auch Honorare vorsehen für die Zeit, die mit Recherche, mit Vorbe­rei­tung und Nach­be­rei­tung verbunden ist. Das heißt: Man muss die Honorare für einen Text in Honorare für Arbeits­zeit umwandeln bzw durch solche ergänzen.
Um das tun zu können, muss das finan­zi­elle Volumen, das zur Verfügung steht, deutlich erhöht werden. Umschich­tung alleine, also die Umwand­lung von Redak­teurs­stellen in freie Stellen, die Umwand­lung von Geldern, die etwa bei öffent­lich-recht­li­chen Sendern in den Erhalt der Struk­turen, in private Zusatz­renten und ähnliche grund­sätz­lich zu begrüßende Sozi­al­leis­tungen inves­tiert werden, in Hono­rar­gelder, genügt nicht.

Um das Modell der öffent­lich-rechtlich finan­zierten Kritik auch über die bereits so finan­zierte Kritik an den Rund­funk­häu­sern wird man nicht herum­kommen.

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Was sind die Orte der Kritik? Die Orte der Kritik sind alle möglichen Orte bzw. alle Orte, in denen Kritik möglich ist. Wenn das Medium die Message ist, und wenn in den digi­ta­li­sierten Gesell­schaften jeder zum Sender werden kann, also zum Medium, dann ist auch jeder Ort ein möglicher Ort, um mediale Botschaften (und Botschaften medial) zu versenden und medial aufzu­treten.

Es kommt also in der hyper­mo­dernen Gesell­schaft darauf an, sich selbst solche Orte überhaupt erst neu zu schaffen. Oder vorhan­dene Orte umzu­de­fi­nieren zu Orten, in denen man medial auftreten kann. Oder darum, leer­ste­hende oder verlas­sene oder zurück­ge­las­sene Orte zu erobern. Reclame the space!

Nach­be­mer­kung
Die Fragen, auf dieser Text eingeht, sind ganz wesent­lich inspi­riert durch María Inés Plaza Lazo, die in der vergan­genen Woche das Panel bei der Tagung »Die Zukunft der Kritik« an der »Akademie der Künste« moderiert hat. Nur durch ihren anre­genden, klugen Input und das immer wieder Nach­schärfen ihrer Frage­stel­lungen habe ich meine Position formu­lieren können. Danke dafür!

(to be continued)