Cinema Moralia – Folge 288
»Frei wie Tänzer, geistesgegenwärtig wie Fußballspieler, überraschend wie Guerrilleros« |
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Jonas (1957) entstand mit Kommentaren von Hans Magnus Enzensberger | ||
(Foto: Filmgalerie 451) |
»Keine Revolution ist auch keine Lösung.«
– Aufschrift auf einer Berliner Hauswand
Es war wie ein übler Scherz. Aber er hätte darüber gelacht: Auf der Videowand am Berliner Bahnhof Friedrichstraße lief die Schlagzeile »Deutsche Wirtschaft wächst überraschend«. Plötzlich fiel mir auf, dass unter dem Text Bilder von Hans Magnus Enzensberger zu sehen waren. Man konnte sich denken, warum.
So habe ich vom Tod von HME erfahren.
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Wie sonst nur Alexander Kluge und Karl Heinz Bohrer war Enzensberger die Bundesrepublik. Eine Institution in einem Fall verkörperte der Münchner Dichter und Denker Gegenwart wie erhoffte Zukunft der Republik. Ihre helle Seite. Ein Luftwesen. Man konnte ihn leicht für den freundlichen verschmitzten Lächler halten, als der er zuletzt in der Öffentlichkeit präsent war. Und darüber vergessen, dass Enzensberger Sätze geschrieben hatte wie diesen über die deutschen
Fernsehsender:
»Dem Programmangebot des Senderkartells entspricht das politische Angebot eines Machtkartells von autoritär verfassten Parteien. Marginale Differenzen der Plattform spiegeln in beiden Fällen ein Konkurrenzverhältnis vor, das in den entscheidenden Fragen nicht existiert.«
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In seinem Essay »Mittelmaß und Wahn« beschrieb er Deutschland als eine einzige Provinz, schrieb, dieses Land sei bevölkert mit Figuren, »von denen noch vor dreißig Jahren niemand sich etwas träumen ließ. Also golfspielende Metzger, aus Thailand importierte Frauen, V-Männer mit Schrebergärten, türkische Mullahs, Apothekerinnen in Nicaragua-Komitées, mercedesfahrende Landstreicher, Autonome mit Bio-Gärten, waffensammelnde Finanzbeamte, pfauenzüchtende Kleinbauern, militante Lesbierinnen, tamilische Eisverkäufer, Altphilologen im Warentermingeschäft.«
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Auch zur Kritik und Rolle der Medien hatte Enzensberger viel Kluges zu sagen: Sein »Baukasten einer Theorie der Medien« notiert, dass die Bewusstseinsindustrie zum Schrittmacher der Entwicklung spätindustrieller Gesellschaften geworden ist. »Sie infiltriert alle anderen Sektoren..., übernimmt immer mehr Steuerungs- und Kontrollfunktionen.«
»'Kritische' Bestandsaufnahme des status quo genügt nicht. Gefahr, die zunehmenden Konflikte im Medien-Bereich zu unterschätzen, zu verharmlosen... Ein solches Verständnis greift zu kurz und bleibt in taktischen Auseinandersetzungen stecken.«
»In einem Land, das den Faschismus (und den Stalinismus) am eigenen Leib erfahren hat, ist es vielleicht immer noch oder schon wieder nötig zu erklären, was das heißt, nämlich, die Menschen beweglicher machen als sie sind. Frei wie
Tänzer, geistesgegenwärtig wie Fußballspieler, überraschend wie Guerrilleros. Wer die Massen nur als Objekt der Politik betrachtet, kann sie nicht mobilisieren. Er will sie herumschicken. ... Propaganda, die Selbständigkeit nicht freisetzt sondern lähmt, gehorcht demselben Schema. Sie führt zur Entpolitisierung.
Zum ersten Mal in der Geschichte machen die Medien die massenhafte Teilnahme an einem gesellschaftlichen und vergesellschafteten produktiven Prozeß
möglich, dessen praktische Mittel sich in der Hand der Massen selbst befinden. Ein solcher Gebrauch brächte die Kommunikationsmedien, die diesen Namen bisher zu Unrecht tragen, zu sich selbst. In ihrer heutigen Gestalt dienen Apparate wie das Fernsehen oder der Film nämlich nicht der Kommunikation sondern ihrer Verhinderung.«
Mal schauen, ob wir in den nächsten Wochen dazu noch mehr entdecken.
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Sechs Thesen zur Zukunft der Kritik und ihrer ökonomischen Lage
1. Die ökonomische Lage der Kritik ist von ihrer kulturellen und politischen Lage nicht zu trennen.
Begründung: in der spätkapitalistischen Gesellschaft bestimmt die Bezahlung den Wert der Arbeit. Die Tatsache, dass Kritiker schlecht bezahlt sind und oft unter prekären Umständen arbeiten müssen, ist insofern eine Aussage über den Wert, der ihr von der Gesellschaft zugemessen wird.
2. Die Zukunft der Kritik ist nur als eine öffentlich-rechtliche oder als eine anderweitig ökonomisch komplett unabhängige denkbar.
Begründung: Kritik braucht Unabhängigkeit. Unabhängigkeit braucht (ein Mindestmaß) ökonomische Sicherheit.
Die alten Modelle für ökonomische Sicherheit taugen nicht mehr, und beginnen bereits seit langem, porös zu werden.
Das entspricht der gesamten Gesellschaft. Die Gesellschaften des Westens sind von Prozessen der Aufwertung und Abwertung, der Verdichtung und der Auflösung in den Bereichen Ökonomie, Politik und Kultur geprägt. Der Ökonomisierung i.S.v.
Effizienzsteigerung, Rationalisierung und Optimierung.
Auflösung und Abwertung treffen die Kultur besonders stark.
3. Kritik muss als Kunst und Kultur begriffen werden. Als Teil ihrer Substanz, nicht als ihr Akzidenz.
Begründung: Die Kunst der Kritik erfordert ähnliche Fähigkeiten, Begabungen und Haltungen wie andere Künste.
In einer Gesellschaft, in der große Unternehmen zu de facto Staatsbetrieben mutieren und in der ein wesentlicher und machtvoller Teil der Medien bereits öffentlich-rechtlich organisiert ist, in der sowohl Bürger wie Kleinunternehmer und mittelständische Betriebe, wie staatliche und private Kulturbetriebe wie oft genug auch größte Unternehmen und Banken durch
sogenannte Rettungspakete, Sonderfonds, Preisdeckel und themenbezogene Hilfen (z.B. Corona-Hilfe) alimentiert werden, ist ein Kritikbetrieb, der im Gegensatz zu nahezu dem gesamten Rest weitgehend ohne solche Unterstützungen auskommen muss, frei flottierend, ohne soziale Mindestsicherungen in der Wildnis des Marktes existiert, notgedrungen prekär.
4. Die Kunst, und damit auch die Kunst der Kritik, steht unter dem Druck/ dem Zwang, sich immer wieder neu zu positionieren. Dies macht gleichzeitig die Dynamik wie die Neurose der Verhältnisse aus.
Begründung: In der Gesellschaft der Optimierung bestimmt die Notwendigkeit, sich immer weiter zu optimieren, verbunden mit der Notwendigkeit, sich immer neu zu erfinden, das Handeln aller Beteiligten.
Daraus folgt auch die Notwendigkeit, sich immer neu gegenüber anderen Instanzen in der Öffentlichkeit legitimieren zu müssen.
5. Es gibt keinen Mainstream mehr, weder im Design, noch in den Diskursen. Sondern einen Schwarm aus Blasen.
Der gegenwärtige Rückzug in die Privatsphäre, der durch die digitalen Medien erheblich verstärkt und beschleunigt wurde, und der durch die Corona-Krise, und durch die gesellschaftliche Depression im Gefolge des Ukraine-Konflikts weiter befördert wurde, geht notwendig einher mit einem Verfall des öffentlichen Lebens und der Öffentlichkeit.
Vor dem Bildschirm und dem Fernseher kann man Kunst und Kultur genießen, ohne von ihr irritiert zu werden.
Ein Blick in das Programm des Fernsehens und in die Angebote der meisten Zeitungen und Magazine offenbart, dass es die gemeinsamen Bezugspunkte in unserer Gesellschaft zunehmend nicht mehr gibt. Der Mainstream ist total geworden, und damit ungreifbar, er befindet sich gleichzeitig immer im Fluss, richtet sich aus an immer niedrigeren, immer mehr verwässerten Maßstäben.
Nicht nur die Kultur selbst, sondern auch die Rahmenbedingungen von Kultur – zusammengefasst unter Stichworten wie u.a. kulturelle Aneignung, Irritation, Verstörung, triggern, Kanon, Elite – stehen inzwischen unter Verdacht, und sind grundsätzlich begründungspflichtig geworden. Weil sie sich nicht mehr von selbst verstehen.
6. Medien erfüllen ihre politische Aufgabe nicht. Und es zwingt sie keiner dazu das zu tun.
Medien sind zu schlichten Unternehmen verkommen. Wolfram Schütte hat dies schon vor Jahren beschrieben und im Stichwort der »Tchiboisierung« der Medien auf den Begriff gebracht. Dieses bedeutet: Medien könnten auch Wurst verkaufen oder Autoreifen oder Kaffee oder DVDs oder Terrassenstühle – und in den meisten Fällen tun sie das auch. Und zwar ökonomisch erfolgreicher als ihre ureigenen (Medien-)Produkte.
Demgegenüber besteht die Aufgabe der Medien nach wie vor in ihren klassischen Aufgabenfeldern: Recherche, Vermittlung, Erziehung, Kritik, Aufklärung – und das alles unabhängig von jedweden Zwängen und externen Einflüssen.
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Nachfolgend ein paar Fragen und Gedanken zu Ökonomien der Kritik.
Wie ist die Lage der Bezahlung in den öffentlichen Medien? Wie ist die Lage in Zahlen? Die Bezahlungen schwanken. Es gibt hier keine Regeln, sondern allenfalls Anhaltspunkte, denn Bezahlungen werden oft genug individuell ausgehandelt, unabhängig von allen Tarifordnungen. Und das ist grundsätzlich auch gut so. Das bedeutet: Wenn man Glück hat und gut ist, kann man sich gegenüber einer Redaktion ein höheres Honorar aushandeln als das, was nach Tarif bezahlt wird.
Grundsätzlich ist die Bezahlung im Fernsehen die beste, im Radio immer noch sehr gut und stabil, im Print schlecht und deutlich im Sinken begriffen, im Online-Bereich selten vorhanden, aber tendenziell zunehmend.
Wenn man von Ökonomien der Kritik redet, dann müsste man im Grunde genommen auch über Ökonomien in der Aufmerksamkeit sprechen. Neben der Währung, die hier vor allem gemeint ist, nämlich dem Geld, gibt es natürlich auch andere Währungen: Prestige, Aufmerksamkeit, Relevanz; dies auch übersetzt in Zugriffe oder in Clicks oder Likes und Ähnliches sind solche Währungen. Ab einer bestimmten Quantität schlägt diese in Qualität um. Dann kann man durch die digitalen symbolischen Währungen auch ökonomische Währungen erhalten.
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Der Erkenntnisgewinn durch einzelne Honorarsummen hält sich in Grenzen. Denn die einzelnen Honorare schwanken und es handelt sich bei den realen Kalkulationen eines freien Autors immer um Mischkalkulationen.
So ist es zum Beispiel so, dass wer relativ viele Moderationen macht, selbstverständlich für manche dieser Moderationen überhaupt kein Honorar bekommt, wenn es sich um sympathische, vielleicht befreundete Institutionen oder Personen handelt. Andererseits
bekommt man für manche Moderationen ein sehr hohes Honorar, also weit über 1000 €. Ansonsten bekommt man für Moderationen in der Regel zwischen 200 und 600 Euro oder auch mehr, je nachdem was man genau macht.
Andererseits gibt es auch Gesamtpakete, bei denen man für den Veranstalter mehrere Moderationen übernimmt.
Es ist dann auch die Frage, wie man eine solche Moderation macht – das heißt ob man trotzdem gut ist, wenn man sich nicht allzu ausgiebig vorbereitet, ob man in der Lage ist zu improvisieren, und mit anderer Arbeit Synergien herzustellen. Eigentlich sind das alles Selbstverständlichkeiten.
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Stichworte:
- In den Medienhäusern gibt es Pauschalistenverträge.
- Im Print immer noch oft Zeilenhonorare. Die sind oft sehr niedrig.
- Online und Print nähern sich einander an. Denn auch im Print liegen Honorare (zum Beispiel für eine Filmkritik) bei oft genug deutlich unter 100 Euro.
- Das Negativbeispiel »taz«: Niedrige Honorare, nur durch Prestige gerechtfertigt. Der zur Schau getragene, das Prestige überhaupt erst rechtfertigende Anspruch des
Alternativen, des (von was eigentlich?) unabhängigeren Journalismus wird längst nicht mehr eingelöst: Die »taz« ist eine linksliberale Zeitung, die sich nicht grundsätzlich von der »Süddeutschen« und der »Frankfurter Rundschau« unterscheidet – es sei denn durch ihre schlechtere Bezahlung.
Zugespitzt formuliert könnte man sagen, dass die »taz« ziemlich genau die gleiche Entwicklung als Medium durchmacht wie die Grünen als Partei: Sie ist in die Mitte der
Gesellschaft gewandert und längst ein Medium des urbanen Mainstream und des ästhetischen Kleinbürgertums geworden.
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Wie kann man die Lage der Kritik verbessern?
Öffentliche Präsenz, insbesondere öffentliche Medienpräsenz, sogenannte Relevanz ist für das einzelne Individuum ebenso eine Antwort wie es auch für eine Organisation oder für ein Problem und ein Thema eine Antwort sein kann.
Das heißt: Wenn man ökonomisch überleben will, muss man sichtbar sein, bzw sich sichtbar machen. Man muss für relevant gehalten werden.
Es geht also um PR. Denn unsere Gesellschaft ist nicht nur eine Gesellschaft der Optimierung, es ist auch eine
PR-Gesellschaft. Es geht im Wortsinne darum (und hier ist der deutsche Wortgebrauch überaus verräterisch) sich zu verkaufen.
Ansonsten kann man es nur ganz einfach so sagen: um die Lage der Kritik zu verbessern, müssen die Kritiker besser bezahlt werden. Um besser bezahlt werden zu können, muss man die Honorare erhöhen, insbesondere auch Honorare vorsehen für die Zeit, die mit Recherche, mit Vorbereitung und Nachbereitung verbunden ist. Das heißt: Man muss die Honorare für einen Text in Honorare für Arbeitszeit umwandeln bzw durch solche ergänzen.
Um das tun zu können, muss das finanzielle Volumen,
das zur Verfügung steht, deutlich erhöht werden. Umschichtung alleine, also die Umwandlung von Redakteursstellen in freie Stellen, die Umwandlung von Geldern, die etwa bei öffentlich-rechtlichen Sendern in den Erhalt der Strukturen, in private Zusatzrenten und ähnliche grundsätzlich zu begrüßende Sozialleistungen investiert werden, in Honorargelder, genügt nicht.
Um das Modell der öffentlich-rechtlich finanzierten Kritik auch über die bereits so finanzierte Kritik an den Rundfunkhäusern wird man nicht herumkommen.
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Was sind die Orte der Kritik? Die Orte der Kritik sind alle möglichen Orte bzw. alle Orte, in denen Kritik möglich ist. Wenn das Medium die Message ist, und wenn in den digitalisierten Gesellschaften jeder zum Sender werden kann, also zum Medium, dann ist auch jeder Ort ein möglicher Ort, um mediale Botschaften (und Botschaften medial) zu versenden und medial aufzutreten.
Es kommt also in der hypermodernen Gesellschaft darauf an, sich selbst solche Orte überhaupt erst neu zu schaffen. Oder vorhandene Orte umzudefinieren zu Orten, in denen man medial auftreten kann. Oder darum, leerstehende oder verlassene oder zurückgelassene Orte zu erobern. Reclame the space!
Nachbemerkung
Die Fragen, auf dieser Text eingeht, sind ganz wesentlich inspiriert durch María Inés Plaza Lazo, die in der vergangenen Woche das Panel bei der Tagung »Die Zukunft der Kritik« an der »Akademie der Künste« moderiert hat. Nur durch ihren anregenden, klugen Input und das immer wieder Nachschärfen ihrer Fragestellungen habe ich meine Position
formulieren können. Danke dafür!
(to be continued)