ABSTAND/ZOOM
Film-Alphabet: W_WIMMELBILD |
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Wimmelbild in die Tiefe hinein: Everything Everywhere All at Once | ||
(Foto: Leonine) |
Von Nora Moschuering
Ich beginne mit einer sehr plakativen Metapher, die noch dazu völlig überproportional mit Sinn aufgeblasen wird: »Mein Leben ist eine Baustelle – Das Leben ist eine Baustelle.« Es sieht aus wie ein riesengroßes, unübersichtliches Wimmelbild und einen Walter gibt’s da drin auch nicht: Überall nur Löcher, Fundamente und halbfertige Häuser und ich werkle mal hier, mal da herum. Dann umzäune ich es ordentlich, mit einem rot-weißen Flatterband, um zu verhindern, dass da andere Leute hineinfallen. Dann marschiere ich zur nächsten Baustelle, oh, einen Moment, ich habe eine Textnachricht erhalten, ah, ich muss doch in die andere Richtung. Ich habe mir einen Bauarbeiterhelm gekauft, von wegen der Sicherheit, und ab und an werfe ich einen Blick über den Bauzaun auf die große Welt und sehe da noch mehr und um einiges größere Baustellen.
Jetzt aber weg von der Selbstreflexion und Weltresignation und hin zum filmischen Wimmelbild à la Wes Anderson, denn diese machen meistens ziemlich viel Spaß.
Zur Funktion des gemeinen Wimmelbildes: Manchmal dient ein Wimmelbild, z.B. ein belebter Marktplatz als Establisher, als Einführung in einen Ort, der dann beim nächsten Schnitt, von einer Totale zu z.B. einem speziellen Haus oder einer Person, also auf jeden Fall zu etwas Unwimmligem führt. Wir erinnern uns an Harry Potter und Hagrid, wie sie das erste Mal die Winkelgasse betreten, die Kamera bleibt hinter ihnen stehen und fährt dann nach oben, so dass die beiden kurz verlorengehen, und wir sehen die Gasse mit all den kleinen Läden und den bunten Figuren, die geschäftig zwischen ihnen hin und herlaufen. Lange steht das nicht, dann wird man selber Teil davon und geht neben den beiden her, die Gasse entlang. Dann gibt es aber auch die Wimmelbilder, die kein Zwischenschritt sind, keine Einführung von Ort und Zeit oder einer Atmosphäre, sondern ein autarkes Werk, eine Einstellung, die mehrere Geschichten erzählt, die wir entdecken können, weil uns kein Schnitt, Schwenk oder Zoom die Blickrichtung vorgibt.
Bevor ich aber zu ihnen komme, kurz zu einem bestimmten Typ des Wimmelbildes, das mir bei der Netflix-Serie »King of Stonks« aufgefallen ist, dem Mitarbeiter*innenpartywimmelbild! »King of Stonks« ist einer Satire (oder Groteske) über die Fintech-Firma CableCash, die zusammen mit ihrem CEO (Matthias Brandt) und ihrem COO (Thomas Schubert) an die Börse geht, mit, na sagen wir mal, ziemlich vielen Noch-Nicht-Kunden und Null-Geschäften in Asien, aber trotzdem mit hohen Beträgen in ihre Bilanzen. Klar das erinnert an Wirecard und, wenn man sich da noch mal einlesen möchte, wird es einem auffallen, wie nah die Serie an den Wirecard-Fakten bleibt. Der Wirecard-Skandal geht ja mittlerweile in seine nächste Runde. Jan Marsalek (ehemaliger COO) ist flüchtig und wahrscheinlich in Russland und Markus Braun (ehemaliger CEO) steht bald vor Gericht, schiebt aber alle Verantwortung auf Marsalek. Die beiden haben Hunderte von Anleger*innen um ihr Geld gebracht, aber soweit ist es bei »King of Stonks« noch nicht, die Serie schließt, bevor der Bilanzen-Skandal auffliegt, in dem Moment, in dem es ein Verbot gibt, auf CableCash und seinen Untergang zu wetten, also mit Leerverkäufen (Short Selling) Geld zu verdienen. (Die Staatsanwaltschaft München hat das eine Zeit lang unterbunden, obwohl es schon 2016 begründete Hinweise darauf gab, dass Wirecard-Geschäfte fragwürdig waren). Kein Wunder, dass sie da total ausflippen, zumindest in der Serie, denn noch schöner, als dass ein Betrug nicht entdeckt wird, ist ja wohl, dass er sogar noch gedeckt wird. Ich freue mich auf jeden Fall auf eine Fortsetzung, mit mehr crazy Wirtschaftsprüfern, einer erfolgshörigen BaFIN und seltsam agierenden Aufsichtsräten, im Umkreis eines, dann, DAX-Unternehmens. Die Serie ist großartig und sie schafft es, ähnlich wie Wolf of Wallstreet, The Big Short oder auch »Bad Banks«, uns ein System näher zu bringen, das komplex und total absurd ist und doch die gesamte Welt bestimmt.
Aber zurück zu den Partys, denn diese werden alle Nase lang gefeiert, die CableCash-Mitarbeiter*innen feiern alles und ständig, denn so lange alle dran glauben, funktioniert das eben mit dem Kapitalismus, und um tiefere Gedanken daran zu verhindern, lenkt man die Leute eben ab, oder sie lenken sich ab. Sie lassen sich aber sicher auch gerne in den scheinbaren Erfolgsstrudel mitziehen, auch die Digitalministerin (Eva Löbau) tanzt mit, denn wer wäre nicht gerne Teil eines hippen Start-ups, das von allen hofiert wird? Also wird gefeiert, wo die Feste hinfallen, und das Büro ähnelt eher einem Sektausschank als einem Arbeitsplatz, but who cares, läuft doch. Große Freiheiten, Visionen und ein bisschen Wahnsinn, wer will das nicht, da ist man dabei. Sie feiern im Büro, am Pool ihres Chefs, beim Global Economic Forum in Genf, als eine Art grotesk lachende Gruppe, die in Slow-Motion Sekt oder wahrscheinlich Champagner versprüht: »CableCash: Was für eine geile Firma«. Man lernt bei jeder Partyszene ein paar Mitarbeiter*innen besser kennen, allerdings nur ihre Partyvorlieben, und auch einer der Autoren, Jan Eichberg, feiert immer mal wieder mit (sonst habe ich niemanden erkannt, aber wer weiß). Auch beim (Düsseldorfer) Karneval wird ordentlich geschunkelt, aber es melden sich hier zum ersten Mal einzelne zu Wort, um ihrem CEO, der als Karnevalskönig verkleidet ist, zu erklären, was Sache ist. Aber eben nur auf sehr leichte, trunkene Art, wie das eben ursprünglich auch so gedacht war beim Karneval: Eine Kurzkritik. Daneben hat die Serie aber auch eine rasante Schnittfrequenz, die aus ihr per se schon mal ein einziges, großes Wimmelbild macht, nur in der Zeit, dazu später auch noch mal mehr.
Wimmelbilder überwältigen und schaffen dadurch Distanz oder sie lassen einen eintauchen. Tableaux vivants sind dabei die wortwörtlichste Umsetzung des Eintauchens. Seit dem 18. Jahrhundert war es ein beliebtes Party-Spiel, bei dem eine größere Gruppe von Menschen Gemälde nachstellte. Es gibt einen Film, der sich komplett der Nachstellung eines Gemälde-Wimmelbildes gewidmet hat: Lech Majewskis Die Mühle und das Kreuz (2010). Darin stellt er die »Kreuztragung Christi« (1564) von Pieter Bruegel dem Älteren nach. Während ein so gewaltiges Wimmelbild wie z.B. Peter Paul Rubens »Das Große Jüngste Gericht« (1617), von dem man sich in der Alten Pinakothek München erschlagen lassen kann, durch die Anzahl, Dichte und Größe der Körper, allein auf die Gefühle der Betrachtenden abzielt, hat Bruegel kleine, detailversessene Szenen rund um den im Zentrum, relativ klein, sein Kreuz tragenden Jesus geschaffen, wobei er sowohl an die Phantasie als auch an den kritischen Geist seiner Zeitgenoss*innen appelliert. Dieses durchkomponierte Gemälde überträgt Majewski in ein Medium, in dem auch die Zeit eine große Rolle spielt. Dabei schafft er sich eine Art Alter Ego, den Maler Bruegel, der durch sein Gemälde oder seinen Film streift und die Szenen und seine Interpretation erklärt. Irgendwann hebt der Maler dann die Hand, und der Müller, oben auf dem Felsen, auf dem erhaben seine Mühle steht, hebt auch die Hand und hält die Mühle und damit die Zeit an. Freeze. Da weiß man, wo die schöpferische Kraft liegt, mit dem richtigen Kontakt zum Himmel, bzw. zu dessen Vermittler, beim Künstler. Der Film selbst erzählt kurze Episoden eines möglichen Davors und Danachs einzelner, stummer Personen. Dass er auch die Kreuzigungsgeschichte bis zur Grablegung erzählt, nimmt dem Film tatsächlich etwas von der subversiven Kraft des Bildes, die gerade in der Gleichzeitigkeit steckt. In Flandern, wo zu Bruegels Zeit gerade die Spanier und die Inquisition herrschte (die rot gekleideten Reiter), und in das er die eigentlich ältere Geschichte transferiert, töten die Reiter Jesus, auf dessen »Leben« ihre Existenz ja quasi basiert, zudem wird zwei Todeskandidaten die letzte Ölung gegeben, obwohl Jesus noch gar nicht gestorben ist. Damit befragt Bruegel, worauf sich die Kirche seinerzeit überhaupt noch bezieht. Der Film erzählt das aus, indem er Jesus sterben und ins Grab legen lässt. Damit schließt sich ein Kreis, den das Gemälde offen lässt. Die Aussage bleibt immer noch bestehen, doch sie ist weniger eindringlich. Der Maler, der Auftraggeber und die Mutter Jesu alleine haben eine Stimme, alle anderen: Bauern und Bäuerinnen, Mütter, Handwerker, Händler und Schergen sind stumm, man hört sie nur weinen, lachen und atmen und dabei liegt über allem ein subtiler Tonteppich. Vielleicht sprechen nur die drei, weil es die einzigen Personen sind, von denen Überliefertes existiert, aber ein bisschen schade ist es trotzdem. Ob Majewski dann auch das gelingt, was Bruegel gelungen ist, nämlich eine Aktualisierung und Identifizierung mit einem eigentlich alten Stoff, ist eine Frage, die andere, ob er das wollte.
Zum Schnitt und zum Gefühl eines Wimmelbildes, das kein Tableau ist, aber aufgrund der schieren Anzahl von Schnitten so wirken kann. Everything Everywhere All at Once von Dan Kwan und Daniel Scheinert ist so ein Film. Er erzählt von Multiversen – die man auch von Dr. Strange oder dem Spider-Verse kennt – also sozusagen filmische Wimmelbilder durch parallele Welten, Zeiten, Ebenen. In klassischen Wimmelbildern wird auch manchmal eine Art Gleichzeitigkeit suggeriert, in dem ein oder mehrere Personen an vielen Stellen gleichzeitig zu sehen sind, was eigentlich nicht gehen kann. Wir antizipieren dann einfach, dass die Szenen nacheinander stattfinden, aber in einem Multiversum geht das natürlich schon. Bei Dr. Strange gibt es mehrere Parallelwelten mit unterschiedlichen Versionen seiner selbst, in Everything Everywhere All at Once ist das anders, wir sind hier einzig in den Welten der Hauptfigur Evelyn und das entsteht so: Jedes Mal, wenn Evelyn eine Entscheidung trifft, öffnet sich eine neue Parallelwelt, in dem sie die andere trifft (bei I_ IRREN habe ich von derUniverse Splitter-App berichtet, da ist das ähnlich). Wenn man das weiter denkt, würde es aber auch bedeuten, dass z.B. ihr Mann und ihre Tochter auch jeweils ein Multiversum haben und alle anderen auch und du und ich. Ähnlich wie bei Zeitreisen wird es bei Multiversen auch immer komplizierter, je tiefer man reingeht. Na ja, eigentlich geht es ja auch darum, was es heißt, Entscheidungen zu treffen, um dieses Thema wird aber ziemlich viel herumgestrickt. Anders auch als bei Tykwers Lola rennt (1998), spielen die Entscheidungen und ihre Begründungen und Folgen gar keine wirkliche Rolle bei Everything Everywhere All at Once, hier geht es eher um ein phantasievolles Spiel mit Effekten und absurden Kampfszenen, von denen es für mich gerne ein paar weniger, aber dafür ein paar mehr Momente der Reflexion hätte geben können. Zur groben Orientierung: da ist die unzufriedene Evelyn, die mit ihrem freundlichen Mann einen Waschsalon betreibt und mit ihrem Vater, ihrer Tochter und dem Finanzamt zurechtkommen muss und schließlich gegen eine Version ihrer Tochter kämpft, die gleich alle Universen zerstören will, weil alles sinnlos ist. Da helfen dann Liebe, Ernstnehmen, die Akzeptanz anderer Meinungen und Freundlichkeit dagegen, das ist so schön wie einfach. Daneben geht es aber auch um Existenzialismus und Nihilismus, also um große, philosophische Fragen der Sinnsuche. Evelyn nun kann immer wieder Kräfte, die sie sich in anderen Universen antrainiert oder gelernt hat, aktivieren und sie für ihren Kampf verwenden. Da ist dann ziemlich viel cooler Wahnsinn dabei, der richtig viel Spaß macht, wie das Hot-Dog-Finger-Universum (das eigentlich schlecht auf einer ihrer eigenen Entscheidungen basieren kann, aber wer weiß), der erste Wimmerl/Crossbody-Bag-Kampf, viel Kung Fu und filmische Zitate. Allerdings geht es mir hier ein bisschen so: Je mehr ich über den Film nachdenke, desto uninteressanter finde ich ihn. Schon allein, weil in jedem Universum die gleiche Konstellation an Menschen existiert und nur die Waschsalon-Evelyn auserzählt wird, vielleicht aber auch wegen eben jener Schnitteffekthascherei, die erst Mal für Verwirrung sorgt, aber nicht so recht zu Tiefgang führt, aber eben ein Wimmelbild in einem zeitbasierten Medium versucht. Und Spaß macht’s auf jeden Fall.
Im Anschluss verlässt man dann das Kino und taucht ein in das Wimmelbild der Sonnenstraße, man spricht mit einer ebenfalls alleine im Kino Gewesenen über den Film – was ich eine echt schöne Geste finde, wird dann noch zu einem buddhistischen Ritual eingeladen, bei dem zum Verzehr gezüchtete Fische in der Würm freigelassen werden und steht noch eine Weile vor dem Sausalitos und guckt dabei zu, wie zwei Roboter Cocktails mixen, bis einen jemand nach einem Handykabel fragt. Nö. Freeze.