Leonard, die von Guy Pearce gespielte Hauptfigur im großartigen
MEMENTO, hat ein Problem.
Da sein Kurzzeitgedächtnis gestört ist, weiß
er zwar alles aus seiner Vergangenheit, kann sich aber nichts
Neues merken.
Als Filmfreund kennt man diesen Zustand. Während man
die Klassiker von Hitchcock, Welles und Co. jederzeit abrufbereit
im Kopf hat, kann man sich an die Filme des letzten Jahres
nur schwer erinnern. Ursache dieses Problems ist weniger ein
körperlicher Defekt, als vielmehr das filmische Überangebot,
dass einen sowohl qualitativ als auch quantitativ Jahr für
Jahr zu erdrücken droht.
Leonard umgeht seine Vergesslichkeit, indem er sich die wichtigsten
Fakten eintätowiert. Diese Art der Gedächtnisstütze
ist nicht immer geeignet, weshalb hier ein sehr subjektiver
und garantiert nicht vollständiger Rückblick ausreichen
muss, um einige hervorragende Filme und Schauspieler, die
in 2001 übersehen, verdeckt, verdrängt oder ignoriert
wurden, wieder in Erinnerung zu rufen.
Zum Beispiel RIDE WITH THE DEVIL von Ang Lee, der von seinem
geistigen "Bruder" überstrahlt wurde. Denn
beinahe zeitgleich startete bei uns auch Lees TIGER
& DRAGON, der sowohl das Publikum als auch die Kritik
gleichermaßen begeistertet. Für RIDE WITH THE DEVIL,
der sich dem Pathos vieler Spätwestern und speziell der
Bürgerkriegsfilme konsequent verweigert, blieb da (zu)
wenig Aufmerksamkeit. Dabei ist dieser mal lakonisch, mal
unerbittlich erzählte Film über die Folgen von sturem
Fanatismus heute aktueller denn je.
Ausnahmsweise nicht mit Preisen überschüttet und
vielleicht deshalb weniger wahrgenommen, wurde BROTHER
von und mit Takeshi Kitano. Kitano als gewohnt schweigsamer
Gangster, diesmal in den Straßen Amerikas, zeigt uns
das andere, sperrige asiatische Kino, jenseits der choreographierten
Gewalt eines John Woo, den allgegenwärtigen Wire-Tricks
und akrobatischen Kämpfern wie Jet Li.
Ebenfalls kämpferisch, aber aus ganz anderen Gründen,
gab sich Michelle Rodriguez in GIRLFIGHT von Karyn Kusama.
Ein haltloses Mädchen voller Zorn lernt boxen und bewältigt
damit ihr Leben. Das klingt nach einer Million Klischees,
bedient aber kein einziges davon und erzielt damit einen klaren
Punktsieg gegen thematisch ähnliche Filme wie SAVE THE
LAST DANCE.
Auf RUSHMORE von
Wes Anderson mussten wir lange warten und als er dann endlich
kam, war er schnell wieder weg. Sehr sehr schade, den Jason
Schwartzman als präpotenter Schüler und Bill Murray
als frustrierte Fabrikant sind das obskurste Gespann seit
HAROLD AND MAUDE.
Über TRAFFIC
wurde eigentlich schon genug gesagt und die fast schon beängstigende
Regelmäßigkeit, mit der Steven Soderbergh brillante
Filme dreht, bewahrt ihn sicher vor dem Vergessen. Hingewiesen
sei jedoch auf den Darsteller Benicio Del Toro, der neben
Michael Douglas und den anderen namhaften Stars gerne übersehen
wurde.
Seine Klasse bewies Del Toro darüber hinaus noch als
leicht debiler Fallensteller in DAS
VERSPRECHEN. Ein kleine Rolle, die selbst neben der mächtigen
Leistung Jack Nicholsons nicht verblaßt.
Überhaupt war DAS VERSPRECHEN von Sean Penn absolut
sehenswert. Ein bedrückender, spannender und fesselnder
Film, über einen Inspektor, dem jedes Mittel Recht ist,
um einen Kindermörder zu finden. Der Mörder bleibt
in diesem Film ein Phantom, dafür lernt man die Schuld
in all ihren Facetten kennen.
Benicio Del Toro stand vielleicht ein wenig im Schatten von
großen Stars, dafür kann er sich damit trösten,
in zwei außergewöhnlichen Filmen gespielt zu haben.
Andere Darsteller hatten weniger Glück, mühten sich
in Werken von zweifelhafter Qualität ab und wurden -
ihren guten Leistungen zum Trotz - auch noch wenig beachtet.
Etwa Philip Seymour Hoffman als desillusionierter Rockkritiker
Lester Bangs in ALMOST FAMOUS oder Geoffrey Rush als agiler
SCHNEIDER VON PANAMA oder Colin Firth im Kampf gegen Hugh
Grant um das Herz von BRIDGET JONES oder James Gandolfini
als schwuler Killer in THE MEXICAN.
2001 war überhaupt das Jahr von Gandolfini, der vielen
in der Rolle des Tony Soprano, aus der gleichnamigen Fernsehserie,
bekannt sein dürfte. Seine Darstellungen sind immer sehenswert,
wenn auch die Qualität der ganzen Filmen sehr stark schwanken
kann. THE MEXICAN war weitgehend belanglos, DIE LETZTE FESTUNG,
in dem er ein gnadenlosen Gefängnisdirektor spielte,
war ein pathetisches Ärgernis, THE
MAN WHO WASN'T THERE, wo er als betrügender und betrogener
Geschäftsmann brillierte, war dagegen einfach genial.
Die Coen-Brüder haben mit diesem schwarzweißen
Meisterwerk erneut ihre Klasse bewiesen. Kollege Willmann
hat an dieser Stelle den Film entsprechend lobend besprochen
und dabei die Frage gestellt, ob der Hauptdarsteller Billy
Bob Thornton nicht gar der beste lebende amerikanische Schauspieler
ist. Ich wüßte nicht, was gegen diese Annahme spricht.
Nachzuprüfen war das etwa in BANDITEN!,
in dem Thornton einen extrem nervösen Hypochonder spielt
und somit das genau Gegenteil des lethargischen Friseurs aus
THE MAN... darbot. An Thorntons Seite spielt in BANDITEN!
die talentierte Cate Blanchett und der um ein neues Image
bemühte Bruce Willis, der zwischen den beiden aber schauspielerisch
auf verlorenem Posten stand.
2001 gab es erstaunlich viele Filme, die Engel bzw. Angels
im Titel trugen, doch keiner zeigte ein so unhimmlisches Leben
wie ENGEL DES UNIVERSUMS von Fridrik Thor Fridriksson. Der
Altmeister aus Island schickt den Schauspieler Ingvar Eggert
Sigurdsson in einen Teufelskreis aus Alltagsfrust, Liebeskummer,
Geisteskrankheit und Psychiatrie. Am Schluß springt
er von einem Hochhaus, ohne Hoffnung, ohne Engelsflügel.
Ein Film der einen noch lange beschäftigt.
Einen ebenso trügerischen Titel hatte JESUS' SON von
Alison Maclean, der mit Religion wenig zu tun hatte. Um Drogen
dreht sich das Leben des von Billy Crudup gespielten Herumtreibers
und dessen Suche nach dem nächsten High ist manchmal
zum Schreien komischen, manchmal auch todtraurig und in einigen
Szenen fast märchenhaft schön. An Crudups Seite
stehen dabei viel gute Schauspieler wie Denis Leary, Jack
Black, Holly Hunter und Dennis Hopper.
Nicht zu übersehen waren im letzten Jahr die Filme aus
Österreich. Der Sanitäter-Krimi KOMM
SÜßER TOD von Wolfgang Murnberger und die perfide
Moritat DER ÜBERFALL
von Florian Flicker beeindruckten voll und ganz. Beide Male
dabei, der Kabarettist Josef Hader. "Du glaubst es nicht,
wie gut der schauspielern kann", würde Wolf Haas
schreiben.
Dagegen nur teilweise überzeugen (vor allem durch seine
makabre Drastik) konnte Paul Harathers DIE GOTTESANBETERIN
mit Christiane Hörbiger in einer eher ungewohnten Rolle.
Besser war Harathers Low-Budget Film MAMA'S BOY (alternativ
THE RAGU INCIDENT), der auf dem Filmfest München zu sehen
war. Hier zeigt Harather die Welt eines klassischen Italo-Amerikaners,
dessen Liebe zu einer Frau an der falschen (wie könnte
es anders sein) Tomatensauce scheitert. In der Hauptrolle
der Komiker Paolo Romanacci.
Zu den Dokumentarfilm-Highlights zählten zum einen BLACK
BOX BRD von Andres Veiel, über Deutschland zur Zeit
des RAF-Terrors und ABSOLUT
WARHOLA von Stanislaw Mucha, über die slowakische
Heimat von Andy Warhol. Beiden Filmen wurde hier schon ausgiebig
gehuldigt.
Mit Lob überhäuft und deshalb nur der Vollständigkeit
halber sei AMORES PERROS von Alejandro Gonzalez Inarritu genannt.
Am Ende gewinnen hier die Bösen und die Guten stehen
dumm da. Aber wer sind in diesem furiosen Großstadtfilm
schon die Guten und wer die Bösen?
Kommen wir zum Schluß wieder zu MEMENTO, dieser filmischen
Denksportaufgabe mit Guy Pearce und der wunderbaren Carrie-Anne
Moss. Dieser Film handelt ja nicht nur vom Vergessen und Erinnern,
sondern auch davon, wie sich unser Gehirn die Vergangenheit
nach eigenem Willen zurechtlegt.
Vielleicht wurde bei diesem Rückblick deshalb manch wichtiger
Film vergessen oder in der Erinnerung erschien etwas viel
besser als es war. Um sich darüber zu ärgern bleibt
aber keine Zeit, denn die Filme des Jahres 2002 warten schon,
um unser Gedächtnis wieder auf die Probe zu stellen.
Michael Haberlander
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