01.09.2007
64. Filmfestspiele von Venedig 2007

Ein Grund zu leben, ein Grund zu sterben

Filmszene »Redacted«
Ein Film, der einen nicht loslässt:
Redacted von Brian De Palma

Krieg, schöne Männer und schöne Kleider, blaugraue Anzüge, Arroganz und Rituale – Tagebuchnotizen, Folge 2

Von Rüdiger Suchsland

Ein Skorpion kämpft um sein Leben, erfolglos, denn die vielen kleinen Ameisen, die ihn atta­ckieren, sind des Skorpions Tod, trotz seiner Größe, trotz seines Gift­sta­chels, trotz seiner schein­baren Über­le­gen­heit. Dieses brutale, dabei überaus schön anzu­se­hende kleine Bild, relativ zu Anfang von Brian De Palmas neuem Film Redacted, ist klug gewählt: Ein keines­wegs zufäl­liges Zitat des Beginns von Sam Peckin­pahs Spät­wes­tern The Wild Bunch, bei dem ein Haufen Bad Guys in Mexiko einfällt, und natürlich damit auch gleich im doppelten Sinn eine treffende Metapher für das, was derzeit im Irak geschieht.
Der Irak-Krieg ist das Thema von Redacted, und dies ist nicht der einzige US-Film, der ihn ins Zentrum stellt. Bereits am heutigen Samstag läuft bei den Film­fest­spielen von Venedig, wo Redacted gestern Premiere hatte, mit In the Valley of Elah von Paul Haggis noch ein zweiter Film dazu; wie einst Vietnam kommt nun auch der Irak-Krieg über das Kino ins Herz Amerikas zurück. Und wie im Fall des Indo­china­feld­zugs, steckt auch diesmal Hollywood den Finger tief in die mora­li­schen Wunden, klagt an, nimmt kompro­misslos auch politisch Partei gegen den Krieg.

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Doch Redacted wäre kein Film von Brian De Palma, wenn er es sich einfach machte, wenn er auf billiges Thesen­kino und mora­li­sche Stim­mungs­mache setzte. Statt­dessen tut er etwas viel Wirkungs­vol­leres: Er zeigt einfach was passiert, mit einer unglaub­li­chen Ruhe und Gelas­sen­heit, hinter der man die Empörung nur ahnen kann, hinter der aber auch ein wütendes Gelächter, ein verzwei­felter Sarkasmus ange­sichts des Wahn­witzes und der Absur­dität der gegen­wär­tigen Wirk­lich­keit im Irak spürbar ist. Mitunter wirkt alles wie eine Doku­men­ta­tion. Minu­ten­lang sieht man den Ablauf einer Straßen­kon­trolle, begleitet man US-Soldaten auf Patrouille. Aber alles wurde mit Schau­spie­lern in Jordanien insze­niert.
De Palma, dessen ganzes Werk um die Frage kreist, was Sehen bedeutet, wie man etwas zeigen kann, und wie das Verhältnis des Betrach­ters zu dem beschaffen ist, was er sieht, versucht den Fallen zu entgehen, in die einer fast zwangs­läufig gerät, wenn er den Krieg ins Kino bringt. Im Gegensatz zum Beispiel zu Michael Winter­bottom, der „Realismus“ dadurch visua­li­siert, dass die Kamera wackelt und schnell schwenkt, und die Bilder grob­körnig sind, zeigt er „saubere“ Bilder, und gibt doch immer zu verstehen, dass man ihnen nicht absolut trauen, sie nicht für bare Münze nehmen kann. So mischt er doku­men­ta­ri­sche und nach­ge­stellte Bilder, wechselt auch einmal auf die Perspek­tive der Iraker um. Ein Tabu bricht er, indem er zeigt, wie US-Soldaten eine 15-jährige verge­wal­tigen – ein beglau­bigter Fall. Redacted ist überaus unan­ge­nehm, anstren­gend, dabei packend – ein Film, der einen nicht loslässt.

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Das mal nur als Bericht und aller­erster Versuch einer Ausein­an­der­set­zung. Redacted, auch das spricht für den Film, arbeitet in einem weiter. Man ertappt sich zwischen­durch beim Gedanken: Was macht er da überhaupt? Geht das?

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Wir müssen bei unseren Lesern Abbitte leisten: Wer nämlich nach der ersten Folge unserer Notizen doch Lust hatte, »Atonement«, Ian McEwans Vorlage zur gleich­na­migen Verfil­mung, zu lesen, dem könnn wir jetzt – dank fixer Info von Sarika aus London – gleich die Mittei­lung geben, dass das Buch entgegen unserer Info sehr wohl auch auf Deutsch erschienen ist, unter dem viel­leicht weniger wört­li­chen, aber natürlich ungleich poeti­scheren Titel »Abbitte«.

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Nach drei Tagen ist dieser Eröff­nungs­film aller­dings schon völlig von stärkeren Eindrü­cken verdrängt worden. Im Gedächtnis blieben allein – weil hässlich – die dicken Wurst­fin­ger­pat­schehänd­chen des Haupt­dar­stel­lers James McAvoy, mit denen er die aris­to­kra­ti­sche Gazelle Keira Knightley betat­schen durfte.

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Auch sonst begannen die Film­fest­spiele auf gutem Niveau: Ein über­ra­schendes Debüt bot der bereits 52jährige US-Regisseur Tony Gilroy: Michael Clayton ist unter anderem eine One-Man-Show von George Clooney, der den Film produ­ziert hat, und die Titel­rolle spielt – den „Wunder­mann“ einer New Yorker Top-Anwalts­kanzlei. Als sein Boss einen Nerven­zu­sam­men­bruch erleidet, droht man einen milli­ar­den­schweren Wirt­schafts­prozeß zu verlieren. Als Clayton eingreift, gerät er in die Mühlen einer kompli­zierten Intrige. Nach längerer Zeit ist Michael Clayton wieder einmal ein span­nender Wirt­schafts­thriller. Auch stilis­tisch steht er zwischen Oliver Stones Wall Street und Michael Manns The Insider, und damit auch eine Komödie über die Realität des Kapi­ta­lismus: Alle stehen permanent unter Hochdruck, sind gestresst, alle sind in irgend­einer Weise süchtig oder wahn­sinnig oder beides. Neben Clooney glänzt auch Tilda Swinton als eine eiskalte Zwangs­neu­ro­ti­kerin, die Karriere macht, weil sie im Wortsinn über Leichen geht. Filmisch betritt Michael Clayton zwar kein Neuland, doch gefallen an dem Film die sehr gut geschrieben Dialoge, und das präzise Portrait einer Geschäfts­welt aus blau­grauen Anzügen, Arroganz und Ritualen.

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Bei der anschließenden Pres­se­kon­fe­renz konnten dann alle George-Clooney-Fans aufatmen, die schon um den Seelen­frieden ihres Idols gefürchtet hatten: Denn während er in Michael Clayton zwar cool, aber zugleich ständig genervt und miss­ge­launt , müde und älter denn je erscheint, präsen­tierte er sich persön­lich am Lido dann ganz als der gewohnte Charmeur.

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Vier Frauen sitzen um einen Tisch, spielen Mahjong. Sie sagen Sätze wie »Reis ist wichtiger als Gold heut­zu­tage« oder »Die dummen Japaner ahnen gar nicht, dass es über ihrem Kaiser noch einen anderen Himmel gibt.« Und lachen. Eine wunder­bare Gesprächs­szene, ganz konzen­triert auf Objekte: Die edlen Mahjong-Steine. Wohl­ge­pflegte Fingernägel. Erlesene Kleider, Cheong­sams in verr­schie­denen Farben. Schmuck an den Armen. Und auf die Blicke. Die Szene ist exzellent geschnitten, sodass man, ohne dass der Film es je im plumpen Sinne »zeigt«, doch sofort verstanden hat: Die eine jüngere Frau hat ein Verhältnis mit dem Ehemann der Gast­ge­berin.

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Shanghai 1942. Die Leere ist auffällig, eine der allge­meinen Zeit, wie der beson­deren Verhält­nisse. Wenig Autos auf der Straße, dafür arme Leute, die für Reis­ra­tionen anstehen. Eine Welt voller Spione, ein Hauch von Verschwörung. Lust, Caution von Ang Lee beginnt ein bisschen als »Der dritte Mann in Shanghai«.

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Einmal mehr entfernt sich der Regisseur darin sehr weit von seinem Vorgän­ger­film Brokeback Mountain, der hier genau vor zwei Jahren Premiere hatte, und den Goldenen Löwen gewann, und begibt sich, als wolle er alle Spuren verwi­schen ins mondäne Shanghai der 40er-Jahre: Während China unter der Besatzung durchs faschis­ti­sche Japan leidet, geht es den Chinesen, die kolla­bo­rieren, um so besser. Eine Gruppe junger idea­lis­ti­scher Wider­s­tändler plant ein Attentat gegen den Geheim­dienst­chef, doch das als Lockvogel einge­setzte Mädchen verliebt sich in den Schurken. Ang Lee zeigt Liebe und Moral im Wider­streit, einen Lern­prozeß mit diesmal unglück­li­chem Ausgang – für Ang Lee eigent­lich unge­wöhn­lich, aber schon in den letzten beiden Filmen konnte man bei diesem Regisseur einen Zug ins Pessi­mis­ti­sche wahr­nehmen. Filmisch glänzt Lust, Caution durch prächtige Ausstat­tung, und gefällt nicht zuletzt als Portrait von Shanghai und Hongkong während des Krieges – letzterer als Hoff­nungsort. »Von dort werde ich die Welt sehen.«

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Zweimal sieht man die Haupt­figur im Kino weinen. Einmal in einem Ingrid-Bergman-Film, einmal in Penny Serenade mit Cary Grant. Pure Sehnsucht. Dann ein schlechtes Thea­ter­s­tück, in dem das Publikum sich erregt, aufspringt, »China wird nicht fallen« ruft. Diese Gegenü­ber­stel­lung ist nicht nur eine poli­ti­sche, es ist auch die zwischen guter und schlechter Kunst. In Venedig konnte man das dann gleich noch am eigenen Leib erfahren: Kenneth Branaghs allzu hölzern insze­niertes Liebes­drama Sleuth ist wieder so ein typischer Branagh-Film, der sich in einer „Thea­ter­lust“ und „Spiel­freude“ suhlt, die nur behauptet und überdies absolut unfil­misch ist.