64. Filmfestspiele von Venedig 2007
Ein Grund zu leben, ein Grund zu sterben |
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Ein Film, der einen nicht loslässt: Redacted von Brian De Palma |
Ein Skorpion kämpft um sein Leben, erfolglos, denn die vielen kleinen Ameisen, die ihn attackieren, sind des Skorpions Tod, trotz seiner Größe, trotz seines Giftstachels, trotz seiner scheinbaren Überlegenheit. Dieses brutale, dabei überaus schön anzusehende kleine Bild, relativ zu Anfang von Brian De Palmas neuem Film Redacted, ist klug gewählt: Ein keineswegs zufälliges Zitat des Beginns von Sam Peckinpahs Spätwestern The Wild Bunch, bei dem ein Haufen Bad Guys in Mexiko einfällt, und natürlich damit auch gleich im doppelten Sinn eine treffende Metapher für das, was derzeit im Irak geschieht.
Der Irak-Krieg ist das Thema von Redacted, und dies ist nicht der einzige US-Film, der ihn ins Zentrum stellt. Bereits am heutigen Samstag läuft bei den Filmfestspielen von Venedig, wo Redacted gestern Premiere hatte, mit In the Valley of Elah von Paul Haggis noch ein zweiter Film dazu; wie einst Vietnam kommt nun auch der Irak-Krieg über das Kino ins Herz Amerikas zurück. Und wie im Fall des Indochinafeldzugs, steckt auch diesmal Hollywood den Finger tief in die moralischen Wunden, klagt an, nimmt kompromisslos auch politisch Partei gegen den Krieg.
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Doch Redacted wäre kein Film von Brian De Palma, wenn er es sich einfach machte, wenn er auf billiges Thesenkino und moralische Stimmungsmache setzte. Stattdessen tut er etwas viel Wirkungsvolleres: Er zeigt einfach was passiert, mit einer unglaublichen Ruhe und Gelassenheit, hinter der man die Empörung nur ahnen kann, hinter der aber auch ein wütendes Gelächter, ein verzweifelter Sarkasmus angesichts des Wahnwitzes und der Absurdität der
gegenwärtigen Wirklichkeit im Irak spürbar ist. Mitunter wirkt alles wie eine Dokumentation. Minutenlang sieht man den Ablauf einer Straßenkontrolle, begleitet man US-Soldaten auf Patrouille. Aber alles wurde mit Schauspielern in Jordanien inszeniert.
De Palma, dessen ganzes Werk um die Frage kreist, was Sehen bedeutet, wie man etwas zeigen kann, und wie das Verhältnis des Betrachters zu dem beschaffen ist, was er sieht, versucht den Fallen zu entgehen, in die einer fast
zwangsläufig gerät, wenn er den Krieg ins Kino bringt. Im Gegensatz zum Beispiel zu Michael Winterbottom, der „Realismus“ dadurch visualisiert, dass die Kamera wackelt und schnell schwenkt, und die Bilder grobkörnig sind, zeigt er „saubere“ Bilder, und gibt doch immer zu verstehen, dass man ihnen nicht absolut trauen, sie nicht für bare Münze nehmen kann. So mischt er dokumentarische und nachgestellte Bilder, wechselt auch einmal auf die Perspektive der
Iraker um. Ein Tabu bricht er, indem er zeigt, wie US-Soldaten eine 15-jährige vergewaltigen – ein beglaubigter Fall. Redacted ist überaus unangenehm, anstrengend, dabei packend – ein Film, der einen nicht loslässt.
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Das mal nur als Bericht und allererster Versuch einer Auseinandersetzung. Redacted, auch das spricht für den Film, arbeitet in einem weiter. Man ertappt sich zwischendurch beim Gedanken: Was macht er da überhaupt? Geht das?
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Wir müssen bei unseren Lesern Abbitte leisten: Wer nämlich nach der ersten Folge unserer Notizen doch Lust hatte, »Atonement«, Ian McEwans Vorlage zur gleichnamigen Verfilmung, zu lesen, dem könnn wir jetzt – dank fixer Info von Sarika aus London – gleich die Mitteilung geben, dass das Buch entgegen unserer Info sehr wohl auch auf Deutsch erschienen ist, unter dem vielleicht weniger wörtlichen, aber natürlich ungleich poetischeren Titel »Abbitte«.
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Nach drei Tagen ist dieser Eröffnungsfilm allerdings schon völlig von stärkeren Eindrücken verdrängt worden. Im Gedächtnis blieben allein – weil hässlich – die dicken Wurstfingerpatschehändchen des Hauptdarstellers James McAvoy, mit denen er die aristokratische Gazelle Keira Knightley betatschen durfte.
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Auch sonst begannen die Filmfestspiele auf gutem Niveau: Ein überraschendes Debüt bot der bereits 52jährige US-Regisseur Tony Gilroy: Michael Clayton ist unter anderem eine One-Man-Show von George Clooney, der den Film produziert hat, und die Titelrolle spielt – den „Wundermann“ einer New Yorker Top-Anwaltskanzlei. Als sein Boss einen Nervenzusammenbruch erleidet, droht man einen milliardenschweren Wirtschaftsprozeß zu verlieren. Als Clayton eingreift, gerät er in die Mühlen einer komplizierten Intrige. Nach längerer Zeit ist Michael Clayton wieder einmal ein spannender Wirtschaftsthriller. Auch stilistisch steht er zwischen Oliver Stones Wall Street und Michael Manns The Insider, und damit auch eine Komödie über die Realität des Kapitalismus: Alle stehen permanent unter Hochdruck, sind gestresst, alle sind in irgendeiner Weise süchtig oder wahnsinnig oder beides. Neben Clooney glänzt auch Tilda Swinton als eine eiskalte Zwangsneurotikerin, die Karriere macht, weil sie im Wortsinn über Leichen geht. Filmisch betritt Michael Clayton zwar kein Neuland, doch gefallen an dem Film die sehr gut geschrieben Dialoge, und das präzise Portrait einer Geschäftswelt aus blaugrauen Anzügen, Arroganz und Ritualen.
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Bei der anschließenden Pressekonferenz konnten dann alle George-Clooney-Fans aufatmen, die schon um den Seelenfrieden ihres Idols gefürchtet hatten: Denn während er in Michael Clayton zwar cool, aber zugleich ständig genervt und missgelaunt , müde und älter denn je erscheint, präsentierte er sich persönlich am Lido dann ganz als der gewohnte Charmeur.
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Vier Frauen sitzen um einen Tisch, spielen Mahjong. Sie sagen Sätze wie »Reis ist wichtiger als Gold heutzutage« oder »Die dummen Japaner ahnen gar nicht, dass es über ihrem Kaiser noch einen anderen Himmel gibt.« Und lachen. Eine wunderbare Gesprächsszene, ganz konzentriert auf Objekte: Die edlen Mahjong-Steine. Wohlgepflegte Fingernägel. Erlesene Kleider, Cheongsams in verrschiedenen Farben. Schmuck an den Armen. Und auf die Blicke. Die Szene ist exzellent geschnitten, sodass man, ohne dass der Film es je im plumpen Sinne »zeigt«, doch sofort verstanden hat: Die eine jüngere Frau hat ein Verhältnis mit dem Ehemann der Gastgeberin.
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Shanghai 1942. Die Leere ist auffällig, eine der allgemeinen Zeit, wie der besonderen Verhältnisse. Wenig Autos auf der Straße, dafür arme Leute, die für Reisrationen anstehen. Eine Welt voller Spione, ein Hauch von Verschwörung. Lust, Caution von Ang Lee beginnt ein bisschen als »Der dritte Mann in Shanghai«.
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Einmal mehr entfernt sich der Regisseur darin sehr weit von seinem Vorgängerfilm Brokeback Mountain, der hier genau vor zwei Jahren Premiere hatte, und den Goldenen Löwen gewann, und begibt sich, als wolle er alle Spuren verwischen ins mondäne Shanghai der 40er-Jahre: Während China unter der Besatzung durchs faschistische Japan leidet, geht es den Chinesen, die kollaborieren, um so besser. Eine Gruppe junger idealistischer Widerständler plant ein Attentat gegen den Geheimdienstchef, doch das als Lockvogel eingesetzte Mädchen verliebt sich in den Schurken. Ang Lee zeigt Liebe und Moral im Widerstreit, einen Lernprozeß mit diesmal unglücklichem Ausgang – für Ang Lee eigentlich ungewöhnlich, aber schon in den letzten beiden Filmen konnte man bei diesem Regisseur einen Zug ins Pessimistische wahrnehmen. Filmisch glänzt Lust, Caution durch prächtige Ausstattung, und gefällt nicht zuletzt als Portrait von Shanghai und Hongkong während des Krieges – letzterer als Hoffnungsort. »Von dort werde ich die Welt sehen.«
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Zweimal sieht man die Hauptfigur im Kino weinen. Einmal in einem Ingrid-Bergman-Film, einmal in Penny Serenade mit Cary Grant. Pure Sehnsucht. Dann ein schlechtes Theaterstück, in dem das Publikum sich erregt, aufspringt, »China wird nicht fallen« ruft. Diese Gegenüberstellung ist nicht nur eine politische, es ist auch die zwischen guter und schlechter Kunst. In Venedig konnte man das dann gleich noch am eigenen Leib erfahren: Kenneth Branaghs allzu hölzern inszeniertes Liebesdrama Sleuth ist wieder so ein typischer Branagh-Film, der sich in einer „Theaterlust“ und „Spielfreude“ suhlt, die nur behauptet und überdies absolut unfilmisch ist.