64. Filmfestspiele von Venedig 2007
Kiffer killen keine Kinder |
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Scheiß mit Biedermeiermoral : The Darjeeling Limited |
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(Foto: Twentieth Century Fox of Germany) |
»Aus der Kriegsschule der Seele: Ein für allemal einen Charakter darstellen, aber ohne dass erkennbar wird, dass man noch fünf oder sechs andere hat.« Ein Zitat von Friedrich Nietzsche, angeblich aus »Die fröhliche Wissenschaft«. Bei der Schnellsuche im Internet nicht zu finden, aber wir wollen es Alexander Kluge (und unserer Mitschreibekunst) einmal glauben, der den Satz in seinem »Programm 4« durch Technorhythmen grundiert zitiert. Der Nietzsche-Rave passt zu blendend zu einigen Lido-Filmen, als dass man auf es verzichten wollte.
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1881-1882, als Nietzsche an der »Fröhlichen Wissenschaft« schreibt, erlebt Jesse James gerade seine letzten Monate, und ist, wenn man Andrew Dominiks Film glauben darf, auch damit beschäftigt, die verschiedenen Charaktere – oder Ungeheuer – in seinem Inneren unter Kontrolle zu halten. Für den Jesse-James-Darsteller Brad Pitt wiederum, wie eigentlich für jeden Darsteller, hat Nietzsche hier eine gute Gebrauchsanweisung formuliert.
Jetzt wünschen wir uns eigentlich,
dass Brad Pitt einmal Nietzsche spielt, und zwar so, dass alle sieben Charaktere sichtbar werden.
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Warum es ausgerechnet sieben sein müssen? Oder gibt hier immer noch die Magie des Märchens den Ton an? Aber auch in Johnnie To’s Mad Detective geht es um die verschiedenen Charakterfacetten der Seele, und auch dort begegnet man einem Schurken, der gleich sieben verschiedene Personen in sich trägt. Einmal fahren alle sieben zusammen im Auto, da wird es eng, aber das ist eine
schöne Filmszene.
Dass er schön sei, kann man über den Rest des Films leider nicht sagen. Er lief hier als »Überraschungsfilm«, der vierte im vierten Müller-Jahr, und der Überraschungseffekt beginnt sich auch abzunutzen, wenn man die Überraschung schon erwartet, noch dazu weiß: Es muss ein Film aus Asien sein.
Mad Detective ist ein schwacher To. Vielleicht ist die Story um
einen Cop, der im Wahnsinn zum Medium und also Superermittler wird, als Kurzgeschichte sogar ganz gut. Aber im Film nervt das. Das Hauptproblem: Der Film ist nicht schön anzusehen. Und das ist es doch, was bei To immer funktioniert.
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»Wo Dinge zerkleinert werden, fällt Staub an.« heißt es einmal in Bitomskys STAUB-Film. Gilt auch für Bob Dylan. Er ist ungreifbar, und wer ihn dennoch zu fassen versucht, dem entzieht er sich wie Staub zwischen den Händen. So gesehen könnte es auch keinen besseren Titel für einen Bob-Dylan-Film geben, als I’m Not There (Ich bin nicht da). Und so gesehen ist es nicht
nur eine sehr originelle, sondern auch eine angemessene Entscheidung, diesen multiplen Künstler und seine verschiedenen Facetten statt von einem gleich von sechs Darstellern verkörpern zu lassen, und zwar unter anderem von einer Frau und von einem Schwarzen, und das alles nicht etwa chronologisch, sondern parallel. Man kann diese Entscheidung allerdings auch ziemlich manieriert finden, und wären nicht unter anderem Cate Blanchett, Richard Gere und Christin Bale unter diesen
Dylan-Darstellern, würde man alldem noch weniger wohlwollend folgen. So ist I’m Not There im Grunde ein ziemlich typische Hollywood-Biografie, die ihren Mainstream-Charakter durch Stilmätzchen zu übertünchen sucht, aber auch genau daran krankt. Was Todd Haynes eigentlich erzählen will, bleibt völlig unklar. Vielleicht dass Dylan Gott ist; und er, Haynes, sein Ästhet? Zu sehr erstarrt
sein Film, der soeben im Wettbewerb von Venedig Premiere hatte, in Ehrfurcht vor seinem Gegenstand, versucht diesen zu imitieren, statt eine eigene Haltung sichtbar werden zu lassen.
Jedenfalls wird hier endlich sichtbar, dass Haynes' Kino immer schon purer Ästhetizismus gewesen ist, wogegen ja auch nichts zu sagen ist. Aber es nutzt sich halt ab.
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Womit es sich jetzt nicht mehr vermeiden lässt, auf Darjeeling Limited zu kommen. Eigentlich ist alles über den Film gesagt, wenn man daran erinnert, dass Hauptdarsteller Owen Wilson vor zwei Wochen einen Selbstmordversuch unternommen hat – schon wenn man das Filmposter sieht, bekommt man eine Ahnung, warum.
Es macht keinen Spaß, über den Film zu schreiben, darum machen wir es so
kurz, wie möglich: Wes Andersons Film ist wie seine letzten beiden Filme geprägt von Wichtigtuerei, Schmunzelhumor, der Abwesenheit von irgendetwas, das man erzählen möchte und der Mädchenliebe für kleine, süße und teure Gegenstände. Weil Anderson inzwischen eine Marke geworden ist, produziert er auch Markenfilme, weswegen wir uns auf noch etwa weitere 20 ähnliche Werke einzustellen haben…
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Nun macht es tatsächlich Spaß, American rich kids in einem Zimmer des Pariser Nobelhotels Raphael zuzusehen, wie sie Musik auf dem I-Pod hören, Cheeseburger essen, in einem gelben Bademantel oder nackt herumlaufen und über sich reden. Das orangene Gelb, der Bademantel, vor allem aber Portman mit sehr kurzen Haaren, roten Fingernägeln, und schließlich ihr nackter Hintern machen den Film zu einer schönen Erfahrung.
Aber Hotel Chevalier ist ja nur der
13-minütige Vorfilm zu Darjeeling Limited. Er ist besser und inhaltsreicher – was nicht heißt, dass er viel zu sagen hätte, oder nicht auch vor allem vom Marken-Fetischismus geprägt wäre. Aber immerhin geht es um etwas.
Der Spaß wird nur dadurch gemildert, dass man zuvor im Pressefach eine schwachsinnige Pressnote erhalten hatte, folgenden Wortlauts: »There are two parts of Darjeeling Limited. The first part, the short film, which you will see first, is a seperate story from, but is slightly related to the main feature. It will not be shown in theatres but instead on the internet and also at film festivals and on the DVD. Our goal is to try to get every person who goes to see the film, to see the short first. Thank you very much.«
Soviel zur Wichtigtuerei.
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In Darjeeling Limited aber geht es um gar nichts mehr. Bzw. darum, wie lustig und originell doch Wes Anderson ist. Ein indisches Taxi fährt schnell zum Bahnhof, Bill Murray sitzt drin, vepasst den Zug im Gegensatz zu drei Brüdern deren einzige Gemeinsamkeit ihre orangenen Luis Vuitton-Koffer sind.
Es folgen zwei Stunden im Zug, die nichts mit Menschen oder Indien zu tun haben. Ein auf
Hermes-Boutique gestyltes Indien, völlig orientalistisch, nie eine Geschichte, soll aber witzig sein, auch der Tod eines Kindes. Nur Gelaber, Gerede, in Halbtotalen und Close-Ups, alles wird auf seine Gagfunktion zurechtgestutzt. Ein so offensichtlicher Scheiß, dass er schon in 20 Jahren niemanden mehr interessieren wird, auch nicht als Zeitzeugnis. Und am Schluß darf natürlich trotz aller Leere die Biedermeier-Moral nicht fehlen: Große Kinder müssen erwachsen werden, Brüder
einander vertrauen.
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Erst recht hat das nichts mit irgendeiner Erfahrung zu tun – außer der, wenn Anderson in den Spiegel guckt. Bzw: Wenn er eine Droge ausprobiert. Denn da wäre eine Erklärung: Solche Filme macht man, wenn man auf Drogen ist.
»Ein Ort ist unverständlich, wenn man seine Bewegung nicht versteht.« sagt Aristoteles bei Kluge. Ein Kommentar zu Andersons Indien-Bild, der aber von der Fehlannahme ausgeht, dass Anderson verstehen will. Ob Aristoteles Drogenerfahrungen hatte?
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Was der 87jährige Eric Rohmer so raucht, wüsste man auch mal gerne. Les Amours D’Asrée Et De La Céladon ist erst der vierte Kostümfilm in der langen Karriere Rohmers. Die Adaption eines seinerzeit berühmten, heute völlig vergessenen Romans »Astrée« aus dem frühen 17. Jahrhundert. Es umfasst fast 4000 Seiten, ist in fünf Teilen zwischen 1607 und 1628 erschienen, ist das einzige Werk von Honoré d’Urfe (1568-1625), und war im 17. und 18. Jahrhundert
überaus populär. Im Zentrum steht die Liebe von Astrée zu Celadon, die überaus umfangreich und detailliert, von zahllosen Exkursen unterbrochen erzählt wird.
Es gibt Druiden und Nymphen, weil alles in früher Vorzeit angesiedelt ist, und Rohmer konzentriert sich eher auf das Schicksal des jungen Mannes: Astrée liebt den Schäfer Celadon, er liebt sie auch, doch bei einem Maskenspiel wird sie eifersüchtig und verletzt. Seine Erklärungen und Entschuldigungen, die Beteuerung der Liebe
nimmt sie nicht hin, woraufhin er sich in den nahen Fluß stürzt. Von Nymphen gerettet kostet es ihn einige Anstrengungen und eine neue Maskerade – als Mädchen verkleidet gewinnt er zunächst Astrées »keusche« Freundschaft – um sie zurückzugewinnen.
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Gewiß ist es verdienstvoll diesen vergessenen Stoff der Vergessenheit zu entreißen. Gewiß kann man sich Stoff und Film mit dem gesammelten Instrumentarium der Genderforschung nähren, man kann im Spiel der Illusionen eine Reflexion der eigenen Kunst entdecken, und in dem Film Rohmers fortgesetzte Liebe zum Ideal, eine Ode an die Kunst und an das Leben.
Nur muss man da fragen: Ist dies das, was man auf der Leinwand sieht, oder was man sich dazu denkt?
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Was man sieht, das sind pastellig-helle Bilder, dem die Gelbtöne ein wenig entzogen sind. Das Bildformat ist altmodisches 4:3. Vogelzwitschern und das Kikeri der Hähne, das hohe Gras im Wind und die Schafe im Hintergrund dieses Schäferspiels schaffen die Aura einer weitgehend unberührten Natur. Um so unnatürlicher ist die Sprache. Künstlich, theaterhaft deklamierend, Bedeutung betonend reden die Figuren so, dass einem nur das Wort »geschwollen« bleibt. Und wenn sie immer
wieder singen, wird es einfach unerträglich.
Die Frauen sind immer schön bei Rohmer. Ihre Busen schlackern, mal entblößt, meist eng eingeschnürt in Kleider aus ebenso feinen wie leichten Stoffen. Das Mädchen Astrée hat lange blonden Haare, der Junge Celadon ein androgynes Aussehen.
Ein Alterswerk, dem man als Fan alles Mögliche unterstellen kann, aber eine »Reinheit« und »Unschuld« der Gesten und der Sprache, die so sichtbar inszeniert und behauptet ist, dass alles um so
künstlicher wirkt, und die an der Grenze zur unfreiwilligen Lächerlichkeit liegt.
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»Merda voi« – haben wir heute noch gelernt. Über die guten Filme reden wir morgen in Ruhe, jetzt noch schnell zu Freischwimmer von Andreas Kleinert. Kleinert, 1962 geboren, wurde bei uns mit Wege in die Nacht bekannt, einem strengen Film über die Folgen von 1989, der ihn 1999 sogar nach Cannes brachte. Seitdem viel Fernsehen gemacht, »Polizeirufe« und »Schimanski« gedreht. Mit Freischwimmer versucht er jetzt ein Comeback auf der großen Leinwand – das leider gründlich misslungen ist. Dabei ist der Film sehr gut besetzt: Alice Dwyer, Dagmar Manzel, Devid Striesow und August Diehl gehören zur Creme de la Creme der deutschen Darsteller. Doch die halb märchenhafte, halb augenzwinkernde Inszenierung geht nicht auf, und die Story will zu viel auf einmal sein, ist gleichzeitig Komödie und Giftmörderkrimi, Pubertätsdrama-Drama und Paukerfilm, und ein Hauch von Schulmassaker kommt am Ende auch noch dazu – die Schüler, denen von einem wahnsinnigen Lehrer und seinem gestörten Lieblingsschüler die Kehle durchgeschnitten wird, sind allerdings nur aus Plastik und selbstgebastelt. Alice Dwyer mit blonden Haaren ist nur ein unsinniger Gag, permanent signalisiert die Musik »Komödie«, schafft eine schmunzelige Kitschstimmung, der Held ist wiedermal ein vaterloser deutscher Junge, wie man ich so oft im Kino trifft. Wenns ein guter Film, wäre würde man alles aushalten. Aber bei Sätzen wie »Man kann sie hören, die Stille. Selbst in der stillsten Stille«, fragt man sich: Wer liest denn hier die Drehbücher? Und warum wird ausgerechnet dieser Film nach Venedig eingeladen?
Man merkt schon, dass man hier sehr viel Wohlwollen braucht, um den Film durchzusitzen, weil sehr sehr viel zusammengepackt ist, zu viel beim besten Willen. Keine Hand rührte sich am Ende der Premiere zum Applaus, und auch nur ein spärliches »Buh« – stattdessen stilles Entsetzen im Kino.
Rüdiger Suchsland