01.10.2009

Der Fuchs, die Nach­ti­gall und das Licht

Yuki & Nina
Yuki & Nina

Schneeweißchen und Blutrot, Wellenreiter und Wellenbrecher, Leben und Tod und König und Königin – Eindrücke vom Filmfestival in San Sebastián

Von Rüdiger Suchsland

Wie schön: Ein Film­fes­tival, bei dem einen die Karten­ab­reißer im Kino gleich begrüßen, weil sie einen noch vom Vorjahr kennen. Und das Príncipe ist zwar nicht das schönste, aber das ange­nehmste Kino vor Ort. Vor einem kleinen Platz, fast am Meer gelegen, direkt nebendran die Bar des sozia­lis­ti­schen Kultur­in­sti­tuts, wo man allen offi­zi­ellen Vorschriften zum Trotz selbst­ver­s­tänd­lich raucht – wie an vielen Orten hier – wo man zwischen den Filmen einen Kaffee, ein Bier, einen »Pintxo« zu sich nimmt. Das Festival von San Sebastián ist überhaupt das schönste unter den europäi­schen »A-Festivals« – weil es das entspann­teste unter ihnen ist. Trotzdem bietet es ein in jeder Hinsicht hoch­karä­tiges Programm. In manchen Jahren kann man hier mühelos mit dem Programm von Venedig mithalten. 2009, der 57. Ausgabe, gelang das zwar nicht ganz – zu stark war dieses Jahr der Wett­be­werb am Lido gewesen, als das da noch genug Erst­klas­siges übrig geblieben wäre. Aber immerhin liefen im Programm von San Sebastián die neuen Filme von Atom Egoyan, Woody Allen (außer Konkur­renz), François Ozon, Chris­tophe Honoré, Bruno Dumont – um nur die bekann­testen Namen aufzu­zählen. Auch sonst drehte sich diesmal auffal­lend viel um Frank­reich: Mehrere Filme in den Neben­pro­grammen, und die thema­ti­sche Retro­spek­tive, die unter dem Titel »La ContraOla«, also die »Gegen­welle« eine Auswahl von 40 fran­zö­si­schen Filmen des letzten Jahr­zehnts zusam­men­fasste. Diese Auswahl ist so disparat, wie extrem hoch­wertig, und reicht von dezi­dierten Auteurs wie Claire Denis, Bruno Dumont und Arnaud Desplechin über eigen­wil­lige und grenz­gän­ge­ri­sche Regis­seure wie Gaspard Noé und Leos Carax bis hin zu anspruchs­vollen Genre­ver­su­chen in den Filmen von Julien Maury oder Robin Campillo. Insgesamt reprä­sen­tieren diese Filme übrigens keines­wegs den Bruch mit der Nouvelle Vague, sondern ihre Fort­set­zung mit anderen Mitteln – oder, wenn man so will: Die Frage, wie sich die Haltung dieses unver­gleich­li­chen Aufbruchs in unseren Tagen fort­setzen ließe, was es bedeuten könnte, sie überhaupt fort­zu­setzen. Die einzige, die hier aus uner­find­li­chen Gründen fehlt, ist Agnès Jaoui. Ansonsten aber ist dies eine ungemein inter­es­sante Reihe – mit der allein man dieses Festival, surfend zwischen Entde­ckungs­ver­gnügen und Wieder­se­hens­freude, gut zubringen konnte.

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Der Wald und die Wahrheit. Auch ein fran­zö­si­scher Film, aber eben ein neuer und das erste aktuelle Highlight in San Sebastián lief am zweiten Tag in der Neben­reihe Zabaltegi und man ahnte gleich, dass dies einer »der« Filme dieses Festivals bleiben würde. So intensiv war die Erfahrung, so außer­or­dent­lich die Wirkung dieses bezau­bernden Films: Yuki & Nina, eine Gemein­schafts­ar­beit der Regis­seure Nubohiro Suwa und Hippolyte Girardot, die ihre Premiere im Frühjahr in der Quinzaine von Cannes hatte.
Tatsäch­lich geht es auch in dem Film um fran­zö­sisch-japa­ni­sche oder europäisch-ostasia­ti­sche Nähe und Ferne, aber so wenig didak­tisch, so fern von aller Iden­ti­täts­hu­berei, wie nur denkbar ist. Statt­dessen sieht man einen Film, dem das Kunst­stück gelingt, ganz aus Kinder­sicht zu erzählen, und diese Perspek­tive vom ersten bis zum letzten Bild durch­zu­halten. Aus Kinder­sicht, das heißt auch, dass es hier tatsäch­lich immer wirkliche Kinder sind, um die es geht, nie kleine Erwach­sene.

Die Haupt­person des Films ist Yuki. Nina ist ihre beste Freundin. Beide sind acht Jahre alt und leben in Paris. Am Anfang sieht man beide, wie sie zusammen von der Schule zu Nina nach Haus kommen, reden. Vor allem Nina redet, viel und bestimmt. Yuki ist meist still. Eine Beob­ach­terin mehr als eine Träumerin. Irgendein Geheimnis scheint sie zu umwehen, und viel­leicht ist es ihre Herkunft aus zwei Kulturen, die ihr ein Gefühl des Anders­seins, eine Distanz und zunächst kaum spürbare Zöger­lich­keit gibt. Viel­leicht ist sie auch nur einfach die stillere der beiden. »Je suis comme ça.«, »ich bin eben so« wird sie später mal sagen, als Nina sie fragt, warum sie immer so ängstlich ist.

Die aller­erste Szene zeigte Nina mit ihrer Familie bei einem Picknick im Park. Ein alter Mann, vermut­lich der Großvater, malt ein Bild. Ein Fuchs und eine Nach­ti­gall sind darauf, und der Alte erklärt Yuki geduldig, warum er den Baum in Gelb gemalt hat – »weil er das Licht der Sonne reflek­tiert« – und warum der Fuchs nicht unbedingt böse ist, wenn er die Nach­ti­gall fressen will. Eine Lektion übers Kino und übers Leben ist das also, die auch uns Zuschauern gilt, man muss genau hinschauen, und es ist nie nur eine Seite, die recht hat.

Yuki wird das lernen im Laufe des Films. Sehr bald erfährt sie, dass sich ihre Eltern, sie haben sich schon länger nicht mehr verstanden, trennen werden. Die Mutter will zurück nach Japan, Yuki soll mit. »ich will nicht nach Japan« sagt sie, und wir hören mit ihr ihren Eltern zu, die sich streiten: »Sie ist fran­zö­sisch.« sagt der Vater, »sie ist nicht nur fran­zö­sisch« die Mutter.

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Es entspinnt sich nun die Geschichte einer allmäh­li­chen Eman­zi­pa­tion der Kinder, die keines­wegs ein »Abschied von den Eltern« ist, sondern eine Vertei­di­gung der Kindheit. Was an Yuki & Nina wohl unter anderem so gut funk­tio­niert, ist, dass man selbst mit den Erfah­rungen der Mädchen zurück­ge­rissen wird in die eigene Kindheit, in die Ohnmacht und die Flucht­be­we­gungen, die Ausbrüche, die univer­sale Distan­zie­rung von den Zumu­tungen der Eltern, die wohl ein Erwach­sen­werden ist, aber auch einfach Hilf­lo­sig­keit.

Man sieht zunächst zwei Mädchen aus bürger­li­chen Verhält­nissen – natürlich ist das insofern ein »typisch fran­zö­si­scher« FIlm, als das er einmal mehr in der Pariser Bour­geoisie ange­sie­delt ist, ihren uns so wohl­be­kannten Verhal­tens­weisen entspricht, Mahl­zeiten zeigt und Kunst­werke, schöne Möbel und schöne Ausblicke –, wie sie der Liebesfee einen Brief schreiben, mit den Eltern disku­tieren – vor allem mit Ninas Muter, die bereits geschieden ist, und ihnen erklärt, dass das »Leben nicht immer so ist, wie wir es wollen.«, dass es ein »Ende der Liebe« gibt, und dann fragt: »Liebt ihr Euch immer?« – und dann vor allem unter­ein­ander: »Du hast keine Ideen. Was tust du?« regt Nina sich auf, und Yuki sagt mal wieder nichts. Das ist auch immer wieder lustig, gerade weil der Film sich nie anbiedert, die Erfah­rungen und Erleb­nis­weise der Kinder ernst nimmt; und auch, weil immer klar ist: Nichts ist perfekt in diesen Leben, weder bei den Erwach­senen, noch bei den Kindern.

Dann als klar ist, dass Yuki wohl nach Japan muss, sieht man lauter letzte Tage. »J'irais pas au Japon.« sagt Yuki. Die Mädchen hauen einfach ab zusammen. Zuerst sieht man sie sich in der Stadt bewegen, dann geht es ins Landhaus von Ninas Vater, sie zelten im Wohn­zimmer, reden sie über Feen und Goblins, doch als sie auch da nicht bleiben können, gehen sie in den Wald. Der ist nicht fran­zö­sisch, nicht zivi­li­siert, sondern japanisch oder rous­se­au­is­tisch: Ein Ort der Gebor­gen­heit, ein Zurück zur Natur. Elfen und Geister gibt es hier wohl auch, aber sie sind nicht gefähr­lich. Die Kamera betont das Geheimnis. Sie zeigt das Licht der Sonne auf dem Farn und plötzlich sieht alles ganz gelb aus, dann wieder dunkel. Zwischen­durch sind wir mit Yuki auch plötzlich schon mal in Japan, da verläßt der Film die realis­ti­sche Ebene, wird spiri­tuell, und das Können der Regis­seure zeigt sich darin, dass wir das schon sehen können, bevor wir es erfahren.

Sehr gut erzählt ist alles, in stillen, inten­siven Bildern, die immer mehr zeigen, als sie abbilden. Und man denkt bei diesem Weg in den Wald, bei der Trans­for­ma­tion Yukis auch an den letzten Film von Naomi Kawase. Wie dort gehen Traum und Wirk­lich­keit zwischen­durch inein­ander über.
Eine Geschichte, ein Märchen fast über Fremdheit und Gren­zü­ber­schrei­tung. Wenn der Film eine Moral hat, dann die Kinder und ihre Erfah­rungen erst zu nehmen, nicht zu verkind­li­chen, und die, dass Kinder sich trennen müssen von Eltern, auch um deret­willen. »Are you happy to be here?« fragt die Mutter, »Yes«, sagt Yuki, und wir glauben, dass sie nicht nur lügt in diesem Moment. Und der Refrain des Liedes, das dann aus dem Off kommt, heißt: »My parents depend on me.«

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Der Tag der Märtyrer. Manchmal tun sich auf Festivals die selt­samsten Koin­zi­denzen auf: Filme, die nichts mitein­ander zu tun haben, treffen aufein­ander, korre­spon­dieren, spiegeln oder ergänzen sich. Und es tun sich Zusam­men­hänge auf, die plötzlich, nach dem dritten oder vierten Film das schon Gesehene auch rück­wir­kend noch einmal wieder in anderem Licht erscheinen lassen. So gab es in San Sebastián diesmal einen Tag der Märtyrer:

Zunächst lief am Morgen City of Life and Death vom Chinesen Lu Chuan. Direkt nach der Vorstel­lung wusste man: An diesem Film kommt die Jury nicht vorbei. Die grausigen Ereig­nisse, die der Film zeigt, und das prächtige, aber doch kühle Schwarz­weiß, in dem er sie erzählt, kontras­tierten so stark mit dem warmen Spät­som­mer­wetter beim Festival von San Sebastián, das es einen unwill­kür­lich fröstelte.

Lu Chuan erzählt die Geschichte der Bewohner der alten chine­si­schen Kaiser- und Haupt­stadt Nanking im Winter 1937/38. Nachdem Japan China bereits besiegt hatte, kam es zum schlimmsten Massaker des japanisch-chine­si­schen Krieges – unvor­stell­bare Grau­sam­keiten, Massen­morde und Massen­ver­ge­wal­ti­gungen, die in ihren Details unsere Vorstel­lungs­kraft sprengen. City of Life and Death ist eine Darstel­lung der Ereig­nisse aus chine­si­scher Sicht – mit bemer­kens­wertem Verzicht auf alle Propa­ganda. Der Film, ganz auf Schwarz­weiß gedreht, sieht im Kontrast zu seinem Inhalt schön aus, vage gar ans Kino des Neorea­lismus erinnernd, und ist ein Spielfilm, dessen Inhalt fast völlig histo­risch beglau­bigt ist, und zeigt mit erschre­ckender Deut­lich­keit die Wirk­lich­keit im Nanking unter japa­ni­scher Besatzung. Hier sieht Krieg aus, wie man sich vorstellen kann, dass er tatsäch­lich aussieht, man sieht keine Kulissen wackeln, und wenn Menschen sterben erscheint keine Sonne im nebeligen Morgen­licht. Damit ist der Film zum einen das über­fäl­lige Korrektiv zur allzu konsu­mier­baren, zudem recht deutsch-natio­na­lis­ti­schen Darstel­lung dieser Geschichte in Florian Gallen­ber­gers John Rabe. Vor allem die Frauen machen hier Schreck­li­ches durch, auch Kinder werden verge­wal­tigt, und je mehr man sich die Ereig­nisse in Nanking vertraut macht, um so unver­s­tänd­li­cher werden sie. Auch irgend­welche Erklärungen aus der Relation zwischen Sieger und Besiegtem, oder aus der Japa­ni­schen Kultur führen nicht weit.

Aber so recht weiß man nicht, was man mit der Bemerkung des Regis­seurs auf der Pres­se­kon­fe­renz anfangen soll, »jeder« könne »ein japa­ni­scher Soldat sein.« Wirklich? Wann? Unter welchen Umständen? Widerlegt diese Vorstel­lung nicht bereits der Film, der keine Helden und kaum Haupt­fi­guren hat, aber unter anderem von einem japa­ni­schen Soldat erzählt, der sich nicht an den Massakern beteiligt, sondern ange­wi­dert erschießt?
Jetzt hat der junge chine­si­sche Regisseur mit seinem dritten Spielfilm die Goldene Muschel und damit den Sieg beim viert­wich­tigsten europäi­schen Film­fes­tival errungen. Auch der Preis für die beste Kamera und der Preis der ökume­ni­schen Jury ging an den Film.

Direkt danach sagen wir Isaoaren Alaba von Josu Martínez. San Sebastián ist immer auch ein Ort, an dem das Basken­land sich mit sich selbst beschäf­tigt. Nicht immer ist das, was dabei heraus­kommt über­zeu­gend, und manchmal ist es richtig peinlich, und dabei leider auch ein wenig verrä­te­risch für die Menta­li­täten, die hier auch in nicht geringem Maß vertreten sind.

Isaoaren Alaba bedeutet »Tochter des Meeres« und der Film handelt von Mikel Goikoetxea, einem führenden ETA-Mitglied, das 1983 von der geheimen Regie­rungs­or­ga­ni­sa­tion GAL getötet wurde. Im Zentrum des Films steht Goikoet­xeas Tochter Haize, die heute 26 ist, und ihren Vater nie persön­lich, sondern nur aus Erzäh­lungen gekannt hat. Haize fungiert im Film als Erzäh­lerin. Immer wieder sitzt sie wie die kleine Meer­jung­frau am Strand und sehnt sich nach ihrem Vater, dessen Asche in der kantabri­schen See verstreut wurde, träumt vom Bad in den Wellen als Gespräch mit dem Vater – eine seltsame Verei­ni­gungs­phan­tasie und persön­lich unbedingt eine traurige Geschichte. Politisch oder histo­risch bringt der Film aber nichts.

Wie Alice durchs Wunder­land geht dieses reichlich unbe­darfte Geschöpf durch den unge­pflegten Garten der baski­schen Geschichte, und trifft Monster, Fabel­wesen und Geister, die mit ihren Erin­ne­rungen jeweils ein paar neue Puzzle­steine zur Geschichte ihres Vaters hinzu­fügen. Das ist irgendwie inter­es­sant und trotzdem gar nicht ergiebig – zugleich vor allem aber ein Dokument schrei­ender Unbe­lehr­bar­keit und Selbst­ge­rech­tig­keit. Denn nie im Film wird die Position des Vaters oder der ETA ernsthaft infrage gestellt, und über die GAL erzählt der Film auch nichts. Zwischen lauter sich fort­wäh­rend selbst bemit­lei­denden Terro­risten und aufrechten Terro­ris­ten­witwen werden nicht ein einziges Mal die Opfer der anderen Seite auch nur erwähnt. Aber gerade eine Position, die es für möglich hält, dass der bewaff­nete Kampf der ETA auch nach Francos Tod und dem Beginn der spani­schen Demo­kratie noch etwas Legitimes gehabt haben könnte, gibt sich hier zu viele Blößen. So ist Isaoaren alaba vor allem natio­na­lis­ti­scher Kitsch.

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Was uns dann aller­dings in der Retro zu Filmen aus Frank­reich begegnete, spottete jeder Beschrei­bung, und stellte auch City of Life and Death noch einmal in ein anderes Licht: Pascal Laugiers Film Martyrs beginnt wie ein x-belie­biger Horror­film: Lucie, ein Mädchen, das eine Weile von einer Frau in einem Keller­ver­ließ gefangen gehalten wurde, kann entkommen. Es ist stark trau­ma­ti­siert, vertraut auch in den folgenen Jahren nur ihrer besten Freundin Anna. 15 Jahre später nimmt sie blutige Rache an der Frau die sie für ihre Taten verant­wort­lich macht und ihrer Familie. So weit, so blutig. Aber dieser Teil der Handlung ist nach 20 Film­mi­nuten erledigt. Dann geht es um das Verhältnis der beiden Freun­dinnen, und um jenen Dämon, der Lucie seit ihrer Gefan­gen­schaft heimsucht. Da sieht man den Film auch ganz kurz – a propos Koin­zi­denzen – als Geschichte einer Mädchen­freund­schaft und könnte ihn insofern als tief­schwarzes, pessi­mis­ti­sches Spie­gel­bild zu Yuki & Nina in der Zabaltegi-Reihe begreifen: Auch hier zwei Mädchen im Wald, weitab von der Welt. Ein Märchen, Schnee­weißchen und Blutrot. Aber auch das führt ganz in die Irre und ist nach einer knappen Drei­vier­tel­stunde mit dem Selbst­mord Lucies vorbei. Schon bis dahin hat man Bilder von einer selten massiven Bruta­lität gesehen. Der Gipfel folgt aber erst: Anna, nun scheinbar allein im Haus, entdeckt dort ein Keller­ver­ließ in dem genau jenes weibliche Wesen gefan­gen­ge­halten wird, dass wir und sie zuvor für ein Hirn­ge­spinst ihrer schwer gestörten Freundin hielten. Und ehe wir uns versehen, ist Anna dort selbst gefangen, die neueste und viel­ver­spre­chendste mensch­liche Labor­ratte im Expe­ri­ment einer katho­li­schen Sekte, die eine Art Privat­fa­brik hat, in der sie wort­wört­lich Märtyrer produ­ziert, Menschen, die durch Leiden in einen Zustand zwischen Leben und Tod versetzt werden, um dort von ihm zu berichten.

Man kann das für Schwach­sinn halten, für kalku­liert, für die typische Sicht unre­li­giöser Leute auf religiöse Erfahrung als ein Phänomen, das ihnen unbe­greif­lich ist. Der Wirkung des Films tut das wenig Abbruch. Während man im üblichen Kunstkino, auch höheren Niveaus, viel Muße hat, in Ruhe über Ästhetik, Machart und Theorie nach­zu­denken, ist diese Art von Gore-Horror reines Körper­kino, das den Betrachter direkt packt, schüttelt, anwidert viel­leicht, ihn zum Wegschauen nötigt unter Umständen, das aber, wenn man sich bis dahin ein wenig Offenheit erhalten hat, in jedem Fall mit ihm etwas anstellt, dem er sich nicht entziehen kann. Und das hat die heraus­for­dernde Seherfah­rung von Martyrs dann wieder mit allem guten Kunstkino gemeinsam.

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Zum Abschluss des Tages noch einmal Roi & Reine von Desplechin gesehen. Großartig wie alles von diesem immer noch unter­schätzten Regisseur. Und ange­sichts der vorhe­rigen Filme eine große Erholung, Trost und Glück. Wunderbar! Aber auch hier kann man, ist der Blick nur erstmal sensi­bi­li­siert, in den beiden verwöhnten, narziss­ti­schen Bourgois-Egomanen Märtyrer erkennen, Menschen, die stell­ver­tre­tend leiden und sich opfern, weil sie nicht anders können.

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Wenn Regis­seure zu wenig lieben... dann kommen die neuesten Filme von Atom Egoyan und Woody Allen heraus: Chloe, das ist der erste Film von Atom Egoyan, zu dem der Kanadier nicht selbst das Drehbuch schrieb. eine »Auftrags­ar­beit«, wie Egoyan auf der Pres­se­kon­fe­renz auch selbst sofort freimütig einräumte. So sieht das Ganze dann auch aus: Ein Film, der aus Sicht des Regis­seurs spürbar eine Mischung aus Lange­weile und Gelas­sen­heit bestimmt ist. Die Passion fehlt.

Trotzdem kann man Chloe einiges abge­winnen. Der dies­jäh­rige Eröff­nungs­film beim Festival von San Sebastián ist ein Thriller aus dem Alltag, mit dem sich der Regisseur von The Sweet Hereafter zwar weiter von seinen filmi­schen Ursprüngen entfernt, aber immerhin eine Weile lang auf den Spuren von Hitchcock bewegt. Julianne Moore spielt die Ärztin Catherine. Ihren Mann, einen Univer­si­täts­pro­fessor (Liam Neeson) hat sie im Verdacht, fremd­zu­gehen. Um die Treue ihres Mannes zu testen, verpflichtet sie Chloe, ein attrak­tives Highclass-Callgirl, das ihre Arbeit in den gehobenen Kreisen findet. Vorher­sehbar lässt sich David tatsäch­lich verführen... Ganz witzig ist jetzt Egoyans Ansatz, sich auf Catherine zu konzen­trieren, die die ihrem Mann nun nicht etwa eine Szene macht, sondern die Affaire weiter finan­ziert, und sie sich von Chloe in allen Details berichten lässt. Aber bald verliert sie die Kontrolle über das Geschehen – und der Zuschauer das Interesse.

Soweit, so sehr erinnert das ans bürger­liche Boule­vard­theater aus dem späten 19.Jahr­hun­dert. Das könnte man auch über Whatever Works sagen, Woody Allens neuen Film – außer dass dessen Dialoge viel witziger sind. Das Drehbuch schrieb Allen bereits zur Zeit von Der Stadt­neu­ro­tiker, aber diese Nachricht hätte er besser unter Verschluß gehalten, dann hätte alles viel­leicht unter »Alters­werk« durch­gehen können. So aber stößt der misan­thro­pi­sche, kalte Grundzug des Films bitter auf. Was bleibt ist ein alter Mann, der jedem jungen hübschen Mädchen, das ihm über den Weg läuft, Vorträge über die Vergäng­lich­keit der Jugend hält – und darüber, warum Beethoven nichts taugt. Das ist ein bisschen zu wenig.

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Desperate Housewive in Madrid. Eine Frau am Morgen im Bade­mantel. Sie ist schon älter, aber nicht alt. Sie hat keine Eile, sich anzu­ziehen. Ihr Mann, ein Taxi­fahrer, ist schon weg zur Arbeit, die Rippchen für den Mittag sind vorbe­reitet. Wir werden diese Frau begleiten in ihrem Leben bis zum nächsten Morgen. Sie macht die Haus­ar­beit, verdient nebenbei ein wenig Geld mit Schön­heits­be­hand­lungen – Haare entfernen und so – und bekommt entspre­chend Besuch von Kundinnen. Ihr Mann wird anrufen und sagen, dass er doch nicht zum Mittag­essen heimkommt. Sie wird sich selbst befrie­digen, und am Abend mit ihrem Mann vor dem Fernseher sitzen. La mujer sin piano, also »Die Frau ohne Klavier« heißt dieser zweite Spielfilm des Spaniers Javier Rebollo (Lo que se de Lola) im San Sebastián-Wett­be­werb, und man fragt sich zwischen­durch, ob der Titel womöglich einfach als Anspie­lung auf Die Klavier­spie­lerin gemeint ist. in jedem Fall könnte der Film auch »Desperate House­wives in Madrid« heißen, viel­leicht noch mit dem Zusatz »meets Kauris­mäki«. Rebollos Film ist ganz spar­ta­nisch und lakonisch erzählt, mit einem absur­dis­ti­schen Humor, der anfangs im subtilen Spiel aus Wieder­ho­lung, Aufein­an­der­folge und Deja Vu’s fast schon an Tati erinnert, in der zweiten Hälfte aber ins Kauris­mäki-Terrain abgleitet, zu sehr auf Skur­ri­li­täts-Witzisch­keit setzt, verbunden mit einer latenten Elend­spoesie, díe schnell auf die Nerven geht, und – weil vorher­sehbar – langweilt.

Aber bleiben wir noch bei der ersten Hälfte: Denn da setzt der Regisseur ganz auf die Komik von Alltags­si­tua­tionen: Tele­fon­war­te­schleifen und Tele­fon­wer­bung, deren Anrufe immer im falschen Moment kommen. Die Allge­gen­wart von Mobil-Telefonen. Schal­ter­be­amte, die auf irgend­wel­chen sinnlosen Formalien bestehen, wie die Dame bei der Post, die unserer Haupt­figur ein Paket nicht heraus­gibt, weil ihr Ausweis abge­laufen ist. Sie hatte etwas in einer TV-Verkaufs­sen­dung bestellt. Die überlaute Dauer­prä­senz des Fern­se­hens soll auch witzig sein, und uns zugleich die Absur­dität unser allen Daseins vorführen. Wie gesagt funk­tio­niert das solange, wie es beiläufig bleibt. Dann, am Abend, als der Gatte einge­schlafen ist, wird es aufdring­lich: Da setzt die Hausfrau sich eine Perücke auf, bewegt sich durchs menschen­leere, nächt­liche Madrid, trifft einen Polen, wird für eine Nutte gehalten, sitzt mit Dauer­lächeln, das von Verzweif­lung kaum zu unter­scheiden ist, in Cafes herum. Da wartet man dann nur noch darauf, dass weiterhin nichts passiert, sie endlich nach Hause zurück­kehrt, und der Film vorbei ist.

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Im Bus zum Festi­val­zen­trum begegne ich Jan Lundholm, Kritiker aus Schweden und ein Dauergast auf den großen Festivals. Er fragt, was ich gesehen hätte, und als ich ihm erzähle, gestern hätte ich einen Film gesehen, den man »Desperate House­wives in Madrid« nennen könnte, sagt er: »Das klingt aber nach einem Almodóvar-Film«. Aber Almodóvar, sage ich, »das sind ja doch mehr die ›happy desperate house­wives‹«. Wir kommen auf die Franzosen-Reihe, er sagt, er könne diese bour­goisen Männer und Frauen der Franzosen nicht mehr sehen, und während ich ihm erkläre, dass mir das zwar nichts ausmacht, die Filme hier aber sowieso ganz anders seien, kommt er auf Agnes Jaoui und Resnais, die Franzosen, die der mag. Bei Jaoui hätte er mich ganz auf seiner Seite, sage ich, aber Resnais, der gehe mir doch mitt­ler­weile auf die Nerven. Den frühen Resnais finde ich ganz toll, die Filme der letzten Jahre seien demge­genüber eine einzige Enttäu­schung, läppische und selbst­ge­fäl­lige Alters­werke, und außerdem mag ich’s nicht, wenn Leute auf der Leinwand singen. Jan vertei­digt Resnais, vergleicht ihn mit Ozu, von dem er im Sommer acht Filme gesehen hat. Schnell ist er bei der Criterion-Box »Silent Ozu« und bei den Varianten einer amazon-Bestel­lung. Ich frage ihn, ob er letzten Jahr in der »Japon en negro«-Retro­spek­tive zum japa­ni­schen Film-Noir Dragnet Girl gesehen hat, den einzigen Ozu, bei dem je ein Schuss abgegeben wird. Dann versuche es nochmal, ihm die Franzosen schmack­haft zu machen, erwähne Christoph Honoré. »Da wird doch auch viel gesungen« sagt er. Stimmt, »you've got a point« gebe ich zu, sogar viel, aber im Fall von Honoré mache es mir halt nix aus. Dann ist der Bus am Ziel, und wir steigen aus – und eines jener typischen Gespräche, wie es Kritiker auf Festivals führen, ist vorbei.

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Das Leben auf Festivals ist viel inten­siver hatte die deutsche Kollegin Julia Macher erst vor zwei Tagen gemeint, »da passiert ganz viel in ganz kurzer Zeit.« Das auch, ja. So intensiv, dass wir uns dann kaum noch über den Weg gelaufen sind. Im Festi­val­zen­trum dann spricht mich ein spani­scher Kollege – wie heißt der nur wieder? – an, ob ich schon den Kriti­ker­spiegel in der örtlichen Zeitung Diaro Vasco gesehen hätte. Bei den spani­schen Kritikern gilt Chris­tophe Honorés Making Plans For Lena als bislang schlech­tester Film des ganzen Wett­be­werbs und läge ganz hinten, dicht gefolgt von Bruno Dumonts Hadewijch. Ich verweise auf das Publi­kums­ba­ro­meter, wo mein persön­li­cher Lieb­lings­film Yuki & Nina ebenfalls und unver­s­tänd­li­cher­weise fast ganz am Ende der Publi­kums­gunst liegt, und Hankes Das weisse Band ist kaum besser platziert. Schlechter liegt hier nur noch Jim Jarmuschs The Limits of Control. Der läuft hier, weil er in Spanien noch nicht gestartet ist. Ganz vorne in der Publi­kums­gunst liegt Desert Flower, eine politisch korrekte Schmon­zette über Frau­en­be­schnei­dung von Sherry Hormann und Precious, ein Sundance-Erfolg. Diesen Film fanden viele gut. Ich hatte ihn nicht gesehen, nachdem ich die Inhalts­be­schrei­bung las: »Prescious Jones is a High-School-Girl with nothing working in her favor. She is pregnant with her father’s child for the second time. She can’t read or write, and her school­mates tease her for beeing fat. Her home life is a horror, ruled by a mother who keeps her impri­soned both emotio­nally and physi­cally.«

Natürlich auch nur persön­liche Vorur­teile meiner­seits. Bei den Filmen, die ich kenne, kann ich aller­dings sicher sagen: Je schlechter die Publi­kums­zu­stim­mung, um so besser der Film. Der spanische Kollege, dessen Name mir einfach nicht einfallen will, wider­spricht: »Von einem Kritiker verlange ich ein bisschen mehr, als vom Publikum. Ich schäme mich für solche Kollegen.« Viel­leicht liegt es aber auch in der Natur eines »Kriti­ker­bar­me­ters, das dann Schnitt­mengen sammelt. Bei Mehr­heits­ent­schei­dungen, auch unter Kritikern, das beweisen auch die Kriti­ker­preise in Deutsch­land, kommt meistens etwas Dummes heraus. Dafür muss man nicht bis zur Wahl am Sonntag warten.«

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Sekret in den Augen. Um einiges über­schätzt wird von vielen der argen­ti­ni­sche Wett­be­werbs­bei­trag El secreto de sus ojos (In ihren Augen) – übrigens der klar führende in der erwähnten Kriti­ker­wer­tung. Ein formal ganz anstän­diger Thriller über einen Ermittler, der sich nach seiner Pensio­nie­rung daran macht, ein 25 Jahre altes Verbre­chen doch noch aufzu­klären, das ihn einfach nicht loslässt. Das führt ihn in die Zeit der Diktatur, der argen­ti­ni­schen Todes­schwa­dronen zurück. Vor allem aber geht es um die Mitläufer und Mitschweiger, um die die wegge­sehen haben. Als Kommentar zu diesem Feld aus Schön­färben und Vergessen funk­tio­niert der Film – und wird bestimmt am Samstag einen Preis gewinnen. Man könnte sich ihn auch in Deutsch­land, oder überhaupt in Europa im Kino gut vorstellen. Aber eben vor allem, weil er nie wehtut, weil er im Gegenteil das Allge­meine mit einer privaten Liebes­ge­schichte vermengt. Das ist nun keines­wegs eine Konkre­ti­sie­rung, wie die Marke­ting­fach­leute dann eilfertig dem Formel­kino die Formel hinter­her­lie­fern, sondern eine Verfäl­schung. Das Senti­men­tale bettet hier nicht das Unsen­ti­men­tale ein, sondern macht es unsichtbar, und die Trauer der Haupt­figur, die als politisch korrekte Verar­bei­tung verkauft wird, ist am Ende doch nur das Selbst­mit­leid eines Mannes, der bei einer Frau nicht zum Zuge kam. Zum Liebes­kitsch kommt dann der Polit­kitsch hinzu, um die Wahrheit vollends verschwinden zu lassen.

So geht es derar­tigen Filmen, wie dem Kaffee, dem erst Süßstoff beigemischt wird, um die unan­ge­nehme Substanz überhaupt erst konsu­mierbar zu machen, der dann aber auch noch dekof­fe­iniert wird. Was bleibt, ist Zucker­wasser.

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Dafür, dass diesem Eindruck nichts hinzu­zu­fügen ist, spricht auch, dass der Film von den Kultur-Jour­na­listen der west­eu­ropäi­schen Hemi­sphäre, Spaniens wie Deutsch­lands, die seit jeher im Salon der folgen­losen Polit-Debatten sich warm gebettet haben, überaus wohl­wol­lend aufge­nommen wird, während die Latein­ame­ri­kaner, die ja wissen sollten, wovon die Rede ist, El secreto de sus ojos (In ihren Augen) mehr­heit­lich verachten. Die 1,3 Millionen Zuschauer, die der Film in Argen­ti­nien angeblich ins Kino lockte, taugen nicht zur Wider­le­gung – das ist dann besten­falls Lauf­kund­schaft, schlimms­ten­falls handelt es sich um die Profi­teure des Beschwei­gens und ihre naiven Claqeure. Am Einfachsten brachte alles aber die Jour­na­listin Pamela Pienz­obras aus Chile auf den Punkt: »In ihren Augen hat mit der Wahrheit über Argen­ti­niens Diktatur so viel zu tun, wie Das Leben der Anderen mit der über die DDR.«