Der Fuchs, die Nachtigall und das Licht |
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Yuki & Nina |
Wie schön: Ein Filmfestival, bei dem einen die Kartenabreißer im Kino gleich begrüßen, weil sie einen noch vom Vorjahr kennen. Und das Príncipe ist zwar nicht das schönste, aber das angenehmste Kino vor Ort. Vor einem kleinen Platz, fast am Meer gelegen, direkt nebendran die Bar des sozialistischen Kulturinstituts, wo man allen offiziellen Vorschriften zum Trotz selbstverständlich raucht – wie an vielen Orten hier – wo man zwischen den Filmen einen Kaffee, ein Bier, einen »Pintxo« zu sich nimmt. Das Festival von San Sebastián ist überhaupt das schönste unter den europäischen »A-Festivals« – weil es das entspannteste unter ihnen ist. Trotzdem bietet es ein in jeder Hinsicht hochkarätiges Programm. In manchen Jahren kann man hier mühelos mit dem Programm von Venedig mithalten. 2009, der 57. Ausgabe, gelang das zwar nicht ganz – zu stark war dieses Jahr der Wettbewerb am Lido gewesen, als das da noch genug Erstklassiges übrig geblieben wäre. Aber immerhin liefen im Programm von San Sebastián die neuen Filme von Atom Egoyan, Woody Allen (außer Konkurrenz), François Ozon, Christophe Honoré, Bruno Dumont – um nur die bekanntesten Namen aufzuzählen. Auch sonst drehte sich diesmal auffallend viel um Frankreich: Mehrere Filme in den Nebenprogrammen, und die thematische Retrospektive, die unter dem Titel »La ContraOla«, also die »Gegenwelle« eine Auswahl von 40 französischen Filmen des letzten Jahrzehnts zusammenfasste. Diese Auswahl ist so disparat, wie extrem hochwertig, und reicht von dezidierten Auteurs wie Claire Denis, Bruno Dumont und Arnaud Desplechin über eigenwillige und grenzgängerische Regisseure wie Gaspard Noé und Leos Carax bis hin zu anspruchsvollen Genreversuchen in den Filmen von Julien Maury oder Robin Campillo. Insgesamt repräsentieren diese Filme übrigens keineswegs den Bruch mit der Nouvelle Vague, sondern ihre Fortsetzung mit anderen Mitteln – oder, wenn man so will: Die Frage, wie sich die Haltung dieses unvergleichlichen Aufbruchs in unseren Tagen fortsetzen ließe, was es bedeuten könnte, sie überhaupt fortzusetzen. Die einzige, die hier aus unerfindlichen Gründen fehlt, ist Agnès Jaoui. Ansonsten aber ist dies eine ungemein interessante Reihe – mit der allein man dieses Festival, surfend zwischen Entdeckungsvergnügen und Wiedersehensfreude, gut zubringen konnte.
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Der Wald und die Wahrheit. Auch ein französischer Film, aber eben ein neuer und das erste aktuelle Highlight in San Sebastián lief am zweiten Tag in der Nebenreihe Zabaltegi und man ahnte gleich, dass dies einer »der« Filme dieses Festivals bleiben würde. So intensiv war die Erfahrung, so außerordentlich die Wirkung dieses bezaubernden Films: Yuki & Nina, eine
Gemeinschaftsarbeit der Regisseure Nubohiro Suwa und Hippolyte Girardot, die ihre Premiere im Frühjahr in der Quinzaine von Cannes hatte.
Tatsächlich geht es auch in dem Film um französisch-japanische oder europäisch-ostasiatische Nähe und Ferne, aber so wenig didaktisch, so fern von aller Identitätshuberei, wie nur denkbar ist. Stattdessen sieht man einen Film, dem das Kunststück gelingt, ganz aus Kindersicht zu erzählen, und diese Perspektive vom ersten bis zum
letzten Bild durchzuhalten. Aus Kindersicht, das heißt auch, dass es hier tatsächlich immer wirkliche Kinder sind, um die es geht, nie kleine Erwachsene.
Die Hauptperson des Films ist Yuki. Nina ist ihre beste Freundin. Beide sind acht Jahre alt und leben in Paris. Am Anfang sieht man beide, wie sie zusammen von der Schule zu Nina nach Haus kommen, reden. Vor allem Nina redet, viel und bestimmt. Yuki ist meist still. Eine Beobachterin mehr als eine Träumerin. Irgendein Geheimnis scheint sie zu umwehen, und vielleicht ist es ihre Herkunft aus zwei Kulturen, die ihr ein Gefühl des Andersseins, eine Distanz und zunächst kaum spürbare Zögerlichkeit gibt. Vielleicht ist sie auch nur einfach die stillere der beiden. »Je suis comme ça.«, »ich bin eben so« wird sie später mal sagen, als Nina sie fragt, warum sie immer so ängstlich ist.
Die allererste Szene zeigte Nina mit ihrer Familie bei einem Picknick im Park. Ein alter Mann, vermutlich der Großvater, malt ein Bild. Ein Fuchs und eine Nachtigall sind darauf, und der Alte erklärt Yuki geduldig, warum er den Baum in Gelb gemalt hat – »weil er das Licht der Sonne reflektiert« – und warum der Fuchs nicht unbedingt böse ist, wenn er die Nachtigall fressen will. Eine Lektion übers Kino und übers Leben ist das also, die auch uns Zuschauern gilt, man muss genau hinschauen, und es ist nie nur eine Seite, die recht hat.
Yuki wird das lernen im Laufe des Films. Sehr bald erfährt sie, dass sich ihre Eltern, sie haben sich schon länger nicht mehr verstanden, trennen werden. Die Mutter will zurück nach Japan, Yuki soll mit. »ich will nicht nach Japan« sagt sie, und wir hören mit ihr ihren Eltern zu, die sich streiten: »Sie ist französisch.« sagt der Vater, »sie ist nicht nur französisch« die Mutter.
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Es entspinnt sich nun die Geschichte einer allmählichen Emanzipation der Kinder, die keineswegs ein »Abschied von den Eltern« ist, sondern eine Verteidigung der Kindheit. Was an Yuki & Nina wohl unter anderem so gut funktioniert, ist, dass man selbst mit den Erfahrungen der Mädchen zurückgerissen wird in die eigene Kindheit, in die Ohnmacht und die Fluchtbewegungen, die Ausbrüche, die universale Distanzierung von den Zumutungen der Eltern, die wohl ein Erwachsenwerden ist, aber auch einfach Hilflosigkeit.
Man sieht zunächst zwei Mädchen aus bürgerlichen Verhältnissen – natürlich ist das insofern ein »typisch französischer« FIlm, als das er einmal mehr in der Pariser Bourgeoisie angesiedelt ist, ihren uns so wohlbekannten Verhaltensweisen entspricht, Mahlzeiten zeigt und Kunstwerke, schöne Möbel und schöne Ausblicke –, wie sie der Liebesfee einen Brief schreiben, mit den Eltern diskutieren – vor allem mit Ninas Muter, die bereits geschieden ist, und ihnen erklärt, dass das »Leben nicht immer so ist, wie wir es wollen.«, dass es ein »Ende der Liebe« gibt, und dann fragt: »Liebt ihr Euch immer?« – und dann vor allem untereinander: »Du hast keine Ideen. Was tust du?« regt Nina sich auf, und Yuki sagt mal wieder nichts. Das ist auch immer wieder lustig, gerade weil der Film sich nie anbiedert, die Erfahrungen und Erlebnisweise der Kinder ernst nimmt; und auch, weil immer klar ist: Nichts ist perfekt in diesen Leben, weder bei den Erwachsenen, noch bei den Kindern.
Dann als klar ist, dass Yuki wohl nach Japan muss, sieht man lauter letzte Tage. »J'irais pas au Japon.« sagt Yuki. Die Mädchen hauen einfach ab zusammen. Zuerst sieht man sie sich in der Stadt bewegen, dann geht es ins Landhaus von Ninas Vater, sie zelten im Wohnzimmer, reden sie über Feen und Goblins, doch als sie auch da nicht bleiben können, gehen sie in den Wald. Der ist nicht französisch, nicht zivilisiert, sondern japanisch oder rousseauistisch: Ein Ort der Geborgenheit, ein Zurück zur Natur. Elfen und Geister gibt es hier wohl auch, aber sie sind nicht gefährlich. Die Kamera betont das Geheimnis. Sie zeigt das Licht der Sonne auf dem Farn und plötzlich sieht alles ganz gelb aus, dann wieder dunkel. Zwischendurch sind wir mit Yuki auch plötzlich schon mal in Japan, da verläßt der Film die realistische Ebene, wird spirituell, und das Können der Regisseure zeigt sich darin, dass wir das schon sehen können, bevor wir es erfahren.
Sehr gut erzählt ist alles, in stillen, intensiven Bildern, die immer mehr zeigen, als sie abbilden. Und man denkt bei diesem Weg in den Wald, bei der Transformation Yukis auch an den letzten Film von Naomi Kawase. Wie dort gehen Traum und Wirklichkeit zwischendurch ineinander über.
Eine Geschichte, ein Märchen fast über Fremdheit und Grenzüberschreitung. Wenn der Film eine Moral hat, dann die Kinder und ihre Erfahrungen erst zu nehmen, nicht zu verkindlichen, und die, dass
Kinder sich trennen müssen von Eltern, auch um deretwillen. »Are you happy to be here?« fragt die Mutter, »Yes«, sagt Yuki, und wir glauben, dass sie nicht nur lügt in diesem Moment. Und der Refrain des Liedes, das dann aus dem Off kommt, heißt: »My parents depend on me.«
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Der Tag der Märtyrer. Manchmal tun sich auf Festivals die seltsamsten Koinzidenzen auf: Filme, die nichts miteinander zu tun haben, treffen aufeinander, korrespondieren, spiegeln oder ergänzen sich. Und es tun sich Zusammenhänge auf, die plötzlich, nach dem dritten oder vierten Film das schon Gesehene auch rückwirkend noch einmal wieder in anderem Licht erscheinen lassen. So gab es in San Sebastián diesmal einen Tag der Märtyrer:
Zunächst lief am Morgen City of Life and Death vom Chinesen Lu Chuan. Direkt nach der Vorstellung wusste man: An diesem Film kommt die Jury nicht vorbei. Die grausigen Ereignisse, die der Film zeigt, und das prächtige, aber doch kühle Schwarzweiß, in dem er sie erzählt, kontrastierten so stark mit dem warmen Spätsommerwetter beim Festival von San Sebastián, das es einen unwillkürlich fröstelte.
Lu Chuan erzählt die Geschichte der Bewohner der alten chinesischen Kaiser- und Hauptstadt Nanking im Winter 1937/38. Nachdem Japan China bereits besiegt hatte, kam es zum schlimmsten Massaker des japanisch-chinesischen Krieges – unvorstellbare Grausamkeiten, Massenmorde und Massenvergewaltigungen, die in ihren Details unsere Vorstellungskraft sprengen. City of Life and Death ist eine Darstellung der Ereignisse aus chinesischer Sicht – mit bemerkenswertem Verzicht auf alle Propaganda. Der Film, ganz auf Schwarzweiß gedreht, sieht im Kontrast zu seinem Inhalt schön aus, vage gar ans Kino des Neorealismus erinnernd, und ist ein Spielfilm, dessen Inhalt fast völlig historisch beglaubigt ist, und zeigt mit erschreckender Deutlichkeit die Wirklichkeit im Nanking unter japanischer Besatzung. Hier sieht Krieg aus, wie man sich vorstellen kann, dass er tatsächlich aussieht, man sieht keine Kulissen wackeln, und wenn Menschen sterben erscheint keine Sonne im nebeligen Morgenlicht. Damit ist der Film zum einen das überfällige Korrektiv zur allzu konsumierbaren, zudem recht deutsch-nationalistischen Darstellung dieser Geschichte in Florian Gallenbergers John Rabe. Vor allem die Frauen machen hier Schreckliches durch, auch Kinder werden vergewaltigt, und je mehr man sich die Ereignisse in Nanking vertraut macht, um so unverständlicher werden sie. Auch irgendwelche Erklärungen aus der Relation zwischen Sieger und Besiegtem, oder aus der Japanischen Kultur führen nicht weit.
Aber so recht weiß man nicht, was man mit der Bemerkung des Regisseurs auf der Pressekonferenz anfangen soll, »jeder« könne »ein japanischer Soldat sein.« Wirklich? Wann? Unter welchen Umständen? Widerlegt diese Vorstellung nicht bereits der Film, der keine Helden und kaum Hauptfiguren hat, aber unter anderem von einem japanischen Soldat erzählt, der sich nicht an den Massakern beteiligt, sondern angewidert erschießt?
Jetzt hat der junge chinesische Regisseur mit seinem
dritten Spielfilm die Goldene Muschel und damit den Sieg beim viertwichtigsten europäischen Filmfestival errungen. Auch der Preis für die beste Kamera und der Preis der ökumenischen Jury ging an den Film.
Direkt danach sagen wir Isaoaren Alaba von Josu Martínez. San Sebastián ist immer auch ein Ort, an dem das Baskenland sich mit sich selbst beschäftigt. Nicht immer ist das, was dabei herauskommt überzeugend, und manchmal ist es richtig peinlich, und dabei leider auch ein wenig verräterisch für die Mentalitäten, die hier auch in nicht geringem Maß vertreten sind.
Isaoaren Alaba bedeutet »Tochter des Meeres« und der Film handelt von Mikel Goikoetxea, einem führenden ETA-Mitglied, das 1983 von der geheimen Regierungsorganisation GAL getötet wurde. Im Zentrum des Films steht Goikoetxeas Tochter Haize, die heute 26 ist, und ihren Vater nie persönlich, sondern nur aus Erzählungen gekannt hat. Haize fungiert im Film als Erzählerin. Immer wieder sitzt sie wie die kleine Meerjungfrau am Strand und sehnt sich nach ihrem Vater, dessen Asche in der kantabrischen See verstreut wurde, träumt vom Bad in den Wellen als Gespräch mit dem Vater – eine seltsame Vereinigungsphantasie und persönlich unbedingt eine traurige Geschichte. Politisch oder historisch bringt der Film aber nichts.
Wie Alice durchs Wunderland geht dieses reichlich unbedarfte Geschöpf durch den ungepflegten Garten der baskischen Geschichte, und trifft Monster, Fabelwesen und Geister, die mit ihren Erinnerungen jeweils ein paar neue Puzzlesteine zur Geschichte ihres Vaters hinzufügen. Das ist irgendwie interessant und trotzdem gar nicht ergiebig – zugleich vor allem aber ein Dokument schreiender Unbelehrbarkeit und Selbstgerechtigkeit. Denn nie im Film wird die Position des Vaters oder der ETA ernsthaft infrage gestellt, und über die GAL erzählt der Film auch nichts. Zwischen lauter sich fortwährend selbst bemitleidenden Terroristen und aufrechten Terroristenwitwen werden nicht ein einziges Mal die Opfer der anderen Seite auch nur erwähnt. Aber gerade eine Position, die es für möglich hält, dass der bewaffnete Kampf der ETA auch nach Francos Tod und dem Beginn der spanischen Demokratie noch etwas Legitimes gehabt haben könnte, gibt sich hier zu viele Blößen. So ist Isaoaren alaba vor allem nationalistischer Kitsch.
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Was uns dann allerdings in der Retro zu Filmen aus Frankreich begegnete, spottete jeder Beschreibung, und stellte auch City of Life and Death noch einmal in ein anderes Licht: Pascal Laugiers Film Martyrs beginnt wie ein x-beliebiger Horrorfilm: Lucie, ein Mädchen, das eine Weile von einer Frau in einem Kellerverließ gefangen gehalten wurde, kann entkommen. Es ist stark traumatisiert, vertraut auch in den folgenen Jahren nur ihrer besten Freundin Anna. 15 Jahre später nimmt sie blutige Rache an der Frau die sie für ihre Taten verantwortlich macht und ihrer Familie. So weit, so blutig. Aber dieser Teil der Handlung ist nach 20 Filmminuten erledigt. Dann geht es um das Verhältnis der beiden Freundinnen, und um jenen Dämon, der Lucie seit ihrer Gefangenschaft heimsucht. Da sieht man den Film auch ganz kurz – a propos Koinzidenzen – als Geschichte einer Mädchenfreundschaft und könnte ihn insofern als tiefschwarzes, pessimistisches Spiegelbild zu Yuki & Nina in der Zabaltegi-Reihe begreifen: Auch hier zwei Mädchen im Wald, weitab von der Welt. Ein Märchen, Schneeweißchen und Blutrot. Aber auch das führt ganz in die Irre und ist nach einer knappen Dreiviertelstunde mit dem Selbstmord Lucies vorbei. Schon bis dahin hat man Bilder von einer selten massiven Brutalität gesehen. Der Gipfel folgt aber erst: Anna, nun scheinbar allein im Haus, entdeckt dort ein Kellerverließ in dem genau jenes weibliche Wesen gefangengehalten wird, dass wir und sie zuvor für ein Hirngespinst ihrer schwer gestörten Freundin hielten. Und ehe wir uns versehen, ist Anna dort selbst gefangen, die neueste und vielversprechendste menschliche Laborratte im Experiment einer katholischen Sekte, die eine Art Privatfabrik hat, in der sie wortwörtlich Märtyrer produziert, Menschen, die durch Leiden in einen Zustand zwischen Leben und Tod versetzt werden, um dort von ihm zu berichten.
Man kann das für Schwachsinn halten, für kalkuliert, für die typische Sicht unreligiöser Leute auf religiöse Erfahrung als ein Phänomen, das ihnen unbegreiflich ist. Der Wirkung des Films tut das wenig Abbruch. Während man im üblichen Kunstkino, auch höheren Niveaus, viel Muße hat, in Ruhe über Ästhetik, Machart und Theorie nachzudenken, ist diese Art von Gore-Horror reines Körperkino, das den Betrachter direkt packt, schüttelt, anwidert vielleicht, ihn zum Wegschauen nötigt unter Umständen, das aber, wenn man sich bis dahin ein wenig Offenheit erhalten hat, in jedem Fall mit ihm etwas anstellt, dem er sich nicht entziehen kann. Und das hat die herausfordernde Seherfahrung von Martyrs dann wieder mit allem guten Kunstkino gemeinsam.
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Zum Abschluss des Tages noch einmal Roi & Reine von Desplechin gesehen. Großartig wie alles von diesem immer noch unterschätzten Regisseur. Und angesichts der vorherigen Filme eine große Erholung, Trost und Glück. Wunderbar! Aber auch hier kann man, ist der Blick nur erstmal sensibilisiert, in den beiden verwöhnten, narzisstischen Bourgois-Egomanen Märtyrer erkennen, Menschen, die stellvertretend leiden und sich opfern, weil sie nicht anders können.
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Wenn Regisseure zu wenig lieben... dann kommen die neuesten Filme von Atom Egoyan und Woody Allen heraus: Chloe, das ist der erste Film von Atom Egoyan, zu dem der Kanadier nicht selbst das Drehbuch schrieb. eine »Auftragsarbeit«, wie Egoyan auf der Pressekonferenz auch selbst sofort freimütig einräumte. So sieht das Ganze dann auch aus: Ein Film, der aus Sicht des Regisseurs spürbar eine Mischung aus Langeweile und Gelassenheit bestimmt ist. Die Passion fehlt.
Trotzdem kann man Chloe einiges abgewinnen. Der diesjährige Eröffnungsfilm beim Festival von San Sebastián ist ein Thriller aus dem Alltag, mit dem sich der Regisseur von The Sweet Hereafter zwar weiter von seinen filmischen Ursprüngen entfernt, aber immerhin eine Weile lang auf den Spuren von Hitchcock bewegt. Julianne Moore spielt die Ärztin Catherine. Ihren Mann, einen Universitätsprofessor (Liam Neeson) hat sie im Verdacht, fremdzugehen. Um die Treue ihres Mannes zu testen, verpflichtet sie Chloe, ein attraktives Highclass-Callgirl, das ihre Arbeit in den gehobenen Kreisen findet. Vorhersehbar lässt sich David tatsächlich verführen... Ganz witzig ist jetzt Egoyans Ansatz, sich auf Catherine zu konzentrieren, die die ihrem Mann nun nicht etwa eine Szene macht, sondern die Affaire weiter finanziert, und sie sich von Chloe in allen Details berichten lässt. Aber bald verliert sie die Kontrolle über das Geschehen – und der Zuschauer das Interesse.
Soweit, so sehr erinnert das ans bürgerliche Boulevardtheater aus dem späten 19.Jahrhundert. Das könnte man auch über Whatever Works sagen, Woody Allens neuen Film – außer dass dessen Dialoge viel witziger sind. Das Drehbuch schrieb Allen bereits zur Zeit von Der Stadtneurotiker, aber diese Nachricht hätte er besser unter Verschluß gehalten, dann hätte alles vielleicht unter »Alterswerk« durchgehen können. So aber stößt der misanthropische, kalte Grundzug des Films bitter auf. Was bleibt ist ein alter Mann, der jedem jungen hübschen Mädchen, das ihm über den Weg läuft, Vorträge über die Vergänglichkeit der Jugend hält – und darüber, warum Beethoven nichts taugt. Das ist ein bisschen zu wenig.
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Desperate Housewive in Madrid. Eine Frau am Morgen im Bademantel. Sie ist schon älter, aber nicht alt. Sie hat keine Eile, sich anzuziehen. Ihr Mann, ein Taxifahrer, ist schon weg zur Arbeit, die Rippchen für den Mittag sind vorbereitet. Wir werden diese Frau begleiten in ihrem Leben bis zum nächsten Morgen. Sie macht die Hausarbeit, verdient nebenbei ein wenig Geld mit Schönheitsbehandlungen – Haare entfernen und so – und bekommt entsprechend Besuch von Kundinnen. Ihr Mann wird anrufen und sagen, dass er doch nicht zum Mittagessen heimkommt. Sie wird sich selbst befriedigen, und am Abend mit ihrem Mann vor dem Fernseher sitzen. La mujer sin piano, also »Die Frau ohne Klavier« heißt dieser zweite Spielfilm des Spaniers Javier Rebollo (Lo que se de Lola) im San Sebastián-Wettbewerb, und man fragt sich zwischendurch, ob der Titel womöglich einfach als Anspielung auf Die Klavierspielerin gemeint ist. in jedem Fall könnte der Film auch »Desperate Housewives in Madrid« heißen, vielleicht noch mit dem Zusatz »meets Kaurismäki«. Rebollos Film ist ganz spartanisch und lakonisch erzählt, mit einem absurdistischen Humor, der anfangs im subtilen Spiel aus Wiederholung, Aufeinanderfolge und Deja Vu’s fast schon an Tati erinnert, in der zweiten Hälfte aber ins Kaurismäki-Terrain abgleitet, zu sehr auf Skurrilitäts-Witzischkeit setzt, verbunden mit einer latenten Elendspoesie, díe schnell auf die Nerven geht, und – weil vorhersehbar – langweilt.
Aber bleiben wir noch bei der ersten Hälfte: Denn da setzt der Regisseur ganz auf die Komik von Alltagssituationen: Telefonwarteschleifen und Telefonwerbung, deren Anrufe immer im falschen Moment kommen. Die Allgegenwart von Mobil-Telefonen. Schalterbeamte, die auf irgendwelchen sinnlosen Formalien bestehen, wie die Dame bei der Post, die unserer Hauptfigur ein Paket nicht herausgibt, weil ihr Ausweis abgelaufen ist. Sie hatte etwas in einer TV-Verkaufssendung bestellt. Die überlaute Dauerpräsenz des Fernsehens soll auch witzig sein, und uns zugleich die Absurdität unser allen Daseins vorführen. Wie gesagt funktioniert das solange, wie es beiläufig bleibt. Dann, am Abend, als der Gatte eingeschlafen ist, wird es aufdringlich: Da setzt die Hausfrau sich eine Perücke auf, bewegt sich durchs menschenleere, nächtliche Madrid, trifft einen Polen, wird für eine Nutte gehalten, sitzt mit Dauerlächeln, das von Verzweiflung kaum zu unterscheiden ist, in Cafes herum. Da wartet man dann nur noch darauf, dass weiterhin nichts passiert, sie endlich nach Hause zurückkehrt, und der Film vorbei ist.
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Im Bus zum Festivalzentrum begegne ich Jan Lundholm, Kritiker aus Schweden und ein Dauergast auf den großen Festivals. Er fragt, was ich gesehen hätte, und als ich ihm erzähle, gestern hätte ich einen Film gesehen, den man »Desperate Housewives in Madrid« nennen könnte, sagt er: »Das klingt aber nach einem Almodóvar-Film«. Aber Almodóvar, sage ich, »das sind ja doch mehr die ›happy desperate housewives‹«. Wir kommen auf die Franzosen-Reihe, er sagt, er könne diese bourgoisen Männer und Frauen der Franzosen nicht mehr sehen, und während ich ihm erkläre, dass mir das zwar nichts ausmacht, die Filme hier aber sowieso ganz anders seien, kommt er auf Agnes Jaoui und Resnais, die Franzosen, die der mag. Bei Jaoui hätte er mich ganz auf seiner Seite, sage ich, aber Resnais, der gehe mir doch mittlerweile auf die Nerven. Den frühen Resnais finde ich ganz toll, die Filme der letzten Jahre seien demgegenüber eine einzige Enttäuschung, läppische und selbstgefällige Alterswerke, und außerdem mag ich’s nicht, wenn Leute auf der Leinwand singen. Jan verteidigt Resnais, vergleicht ihn mit Ozu, von dem er im Sommer acht Filme gesehen hat. Schnell ist er bei der Criterion-Box »Silent Ozu« und bei den Varianten einer amazon-Bestellung. Ich frage ihn, ob er letzten Jahr in der »Japon en negro«-Retrospektive zum japanischen Film-Noir Dragnet Girl gesehen hat, den einzigen Ozu, bei dem je ein Schuss abgegeben wird. Dann versuche es nochmal, ihm die Franzosen schmackhaft zu machen, erwähne Christoph Honoré. »Da wird doch auch viel gesungen« sagt er. Stimmt, »you've got a point« gebe ich zu, sogar viel, aber im Fall von Honoré mache es mir halt nix aus. Dann ist der Bus am Ziel, und wir steigen aus – und eines jener typischen Gespräche, wie es Kritiker auf Festivals führen, ist vorbei.
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Das Leben auf Festivals ist viel intensiver hatte die deutsche Kollegin Julia Macher erst vor zwei Tagen gemeint, »da passiert ganz viel in ganz kurzer Zeit.« Das auch, ja. So intensiv, dass wir uns dann kaum noch über den Weg gelaufen sind. Im Festivalzentrum dann spricht mich ein spanischer Kollege – wie heißt der nur wieder? – an, ob ich schon den Kritikerspiegel in der örtlichen Zeitung Diaro Vasco gesehen hätte. Bei den spanischen Kritikern gilt Christophe Honorés Making Plans For Lena als bislang schlechtester Film des ganzen Wettbewerbs und läge ganz hinten, dicht gefolgt von Bruno Dumonts Hadewijch. Ich verweise auf das Publikumsbarometer, wo mein persönlicher Lieblingsfilm Yuki & Nina ebenfalls und unverständlicherweise fast ganz am Ende der Publikumsgunst liegt, und Hankes Das weisse Band ist kaum besser platziert. Schlechter liegt hier nur noch Jim Jarmuschs The Limits of Control. Der läuft hier, weil er in Spanien noch nicht gestartet ist. Ganz vorne in der Publikumsgunst liegt Desert Flower, eine politisch korrekte Schmonzette über Frauenbeschneidung von Sherry Hormann und Precious, ein Sundance-Erfolg. Diesen Film fanden viele gut. Ich hatte ihn nicht gesehen, nachdem ich die Inhaltsbeschreibung las: »Prescious Jones is a High-School-Girl with nothing working in her favor. She is pregnant with her father’s child for the second time. She can’t read or write, and her schoolmates tease her for beeing fat. Her home life is a horror, ruled by a mother who keeps her imprisoned both emotionally and physically.«
Natürlich auch nur persönliche Vorurteile meinerseits. Bei den Filmen, die ich kenne, kann ich allerdings sicher sagen: Je schlechter die Publikumszustimmung, um so besser der Film. Der spanische Kollege, dessen Name mir einfach nicht einfallen will, widerspricht: »Von einem Kritiker verlange ich ein bisschen mehr, als vom Publikum. Ich schäme mich für solche Kollegen.« Vielleicht liegt es aber auch in der Natur eines »Kritikerbarmeters, das dann Schnittmengen sammelt. Bei Mehrheitsentscheidungen, auch unter Kritikern, das beweisen auch die Kritikerpreise in Deutschland, kommt meistens etwas Dummes heraus. Dafür muss man nicht bis zur Wahl am Sonntag warten.«
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Sekret in den Augen. Um einiges überschätzt wird von vielen der argentinische Wettbewerbsbeitrag El secreto de sus ojos (In ihren Augen) – übrigens der klar führende in der erwähnten Kritikerwertung. Ein formal ganz anständiger Thriller über einen Ermittler, der sich nach seiner Pensionierung daran macht, ein 25 Jahre altes Verbrechen doch noch aufzuklären, das ihn einfach nicht loslässt. Das führt ihn in die Zeit der Diktatur, der argentinischen Todesschwadronen zurück. Vor allem aber geht es um die Mitläufer und Mitschweiger, um die die weggesehen haben. Als Kommentar zu diesem Feld aus Schönfärben und Vergessen funktioniert der Film – und wird bestimmt am Samstag einen Preis gewinnen. Man könnte sich ihn auch in Deutschland, oder überhaupt in Europa im Kino gut vorstellen. Aber eben vor allem, weil er nie wehtut, weil er im Gegenteil das Allgemeine mit einer privaten Liebesgeschichte vermengt. Das ist nun keineswegs eine Konkretisierung, wie die Marketingfachleute dann eilfertig dem Formelkino die Formel hinterherliefern, sondern eine Verfälschung. Das Sentimentale bettet hier nicht das Unsentimentale ein, sondern macht es unsichtbar, und die Trauer der Hauptfigur, die als politisch korrekte Verarbeitung verkauft wird, ist am Ende doch nur das Selbstmitleid eines Mannes, der bei einer Frau nicht zum Zuge kam. Zum Liebeskitsch kommt dann der Politkitsch hinzu, um die Wahrheit vollends verschwinden zu lassen.
So geht es derartigen Filmen, wie dem Kaffee, dem erst Süßstoff beigemischt wird, um die unangenehme Substanz überhaupt erst konsumierbar zu machen, der dann aber auch noch dekoffeiniert wird. Was bleibt, ist Zuckerwasser.
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Dafür, dass diesem Eindruck nichts hinzuzufügen ist, spricht auch, dass der Film von den Kultur-Journalisten der westeuropäischen Hemisphäre, Spaniens wie Deutschlands, die seit jeher im Salon der folgenlosen Polit-Debatten sich warm gebettet haben, überaus wohlwollend aufgenommen wird, während die Lateinamerikaner, die ja wissen sollten, wovon die Rede ist, El secreto de sus ojos (In ihren Augen) mehrheitlich verachten. Die 1,3 Millionen Zuschauer, die der Film in Argentinien angeblich ins Kino lockte, taugen nicht zur Widerlegung – das ist dann bestenfalls Laufkundschaft, schlimmstenfalls handelt es sich um die Profiteure des Beschweigens und ihre naiven Claqeure. Am Einfachsten brachte alles aber die Journalistin Pamela Pienzobras aus Chile auf den Punkt: »In ihren Augen hat mit der Wahrheit über Argentiniens Diktatur so viel zu tun, wie Das Leben der Anderen mit der über die DDR.«