07.01.2010

Die Welt ist groß

Das weiße Band
Böse-Kinder-Horror:
Hanekes Das weiße Band

...und gute Filme lauern überall

Von Michael Haberlander

Mit dem Jahr 2009 ging auch das erste Jahrzehnt des 21. Jahr­hun­derts zu Ende, weshalb aller­orten auf diese Dekade (die sog. Nuller-Jahre) zurück­ge­schaut wird. Vorder­gründig wird sich eine solche Rückschau immer auf einzelne Ereig­nisse, Stim­mungen und Trends beziehen. Unter­schwellig hofft man aber, durch die Anein­an­der­rei­hung dieser Einzel­teile ein durch­gän­giges Muster zu erkennen, um auch diesem Jahrzehnt (wie seinen Vorgän­gern) ein bestimmtes Label anheften zu können.
Aus filmi­scher Sicht war eine solche pauschale Etiket­tie­rung immer schon sehr zwei­fel­haft. Einen einheit­li­chen 80er Jahre Touch oder ein typisches 60er Jahre Thema konnte man im Kino (sowohl im kommer­zi­ellen wie im künst­le­ri­schen) nur dann fest­ma­chen, wenn man große Teile des zu jeder Zeit weit gestreuten Film­schaf­fens nicht berück­sich­tigte.

Beim zurück­lie­genden Jahrzehnt dürfte nicht einmal mehr eine solche grobe Verein­fa­chung möglich sein. Denn wenn es seit dem Jahr 2000 eine wieder­keh­rende Tendenz gab, dann war das die perma­nente Verschie­bung, Erwei­te­rung und Auflösung von Grenzen. Etwa die Grenzen zwischen Kunst und Kommerz, zwischen Spiel- und Doku­men­tar­film, zwischen Film und bildender Kunst, zwischen Stilen und Genres sowie zwischen den Kino­kul­turen unter­schied­li­cher Länder und Konti­nente (in all dem gleicht das Kino – wie in so vielen anderen Aspekten auch – der Popmusik). In der sich daraus erge­benden Vielfalt lässt sich beim besten Willen kein einheit­li­cher Tenor der Nuller-Jahre finden, sofern man nicht »Alles war möglich, nichts war gewiss« als solchen dekla­rieren möchte.

Nicht jeder war mit dieser Entwick­lung glücklich. Früher waren die Rollen klar verteilt, da gab es einige wenige verläss­liche Film­künstler, die sich in klaren Länder- und Genre­grenzen bewegten, da war Kommerz­kino eindeutig als solches erkennbar, da konnte man schon am Thema und der Herkunft eines Films ziemlich sicher abschätzen, was einen erwarten würde. Heute dagegen gilt es sich fast bei jedem Film neu zu orien­tieren (was aufgrund der schieren Quantität mit der man konfron­tiert wird nicht einfach ist), muss man ständig entscheiden was einem gefallen könnte und was nicht und geht man bei jedem Kino­be­such das Risiko ein, die falsche Wahl zu treffen (natur­gemäß brachte die neu gewonnene Vielfalt nicht nur Gutes, sondern auch viel – wenn nicht sogar über­wie­gend – Schlechtes und Belang­loses hervor). Wer sich dieser Heraus­for­de­rung aber stellte, wer offen für das Gute, Schöne und Wahre unab­hängig von seinen (viel­leicht fremd­ar­tigen) Äußer­lich­keiten war, der konnte im vergan­genen Jahrzehnt seinen cine­as­ti­schen Horizont wie nie zuvor erweitern und zahl­reiche wunder­bare Kino­mo­mente erleben.

Das Abschluss­jahr 2009 spiegelt all das muster­gültig wieder, weshalb ein (gewohnt subjek­tiver) Blick auf die erwäh­nens­werten Filme dieses Jahrgangs ein ziemlich typisches Bild von der wech­sel­haften Achter­bahn­fahrt der Gefühle, Stim­mungen, Genres, Stile, Regionen, Kulturen und Quali­täten der Nuller-Jahre zeichnet.

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Beginnen sollte man mit The Wrestler, einem über­wäl­ti­genden Meis­ter­werk, das inhalt­liche und formale Brillanz vereint. Allein die Szene, in der Randy »The Ram« seinen miesen Job hinschmeißt und dabei in eine laufenden Wurst­schnei­de­ma­schine schlägt, verfolgte mich noch Wochen. Die emotio­nelle Tiefe und Komple­xität der Geschichte, die in dieser Szene zusam­men­fällt, lässt sich nicht besser beschreiben als mit den Text­zeilen »I hurt myself today, to see if I still feel. I focus on the pain, the only thing that’s real« aus Johnny Cashs alters­weisem Song „Hurt“. Ohne die Leistung des Regis­seurs Darran Aronofsky schmälern zu wollen, muss man fest­stellen, dass The Wrestler ohne die Darstel­lung (wobei »Verkör­pe­rung« eigent­lich das tref­fen­dere Wort ist) von Mickey Rourke nicht solche Größe hätte erreichen können.

Apropos Körper­ein­satz und Schmerzen: Welche bizarre Über­ein­stim­mungen sich im Kino manchmal ergeben, zeigte Brüno, der auf den ersten Blick so überhaupt gar nichts mit The Wrestler gemein hat (hier die schrill-schwule Parodie, dort das tragisch-realis­ti­sche Drama), der bei genauer Betrach­tung aber doch einige über­ra­schende Paral­lelen aufwies. Denn auch bei Brüno leidet man als Zuschauer durchaus körper­lich mit und auch hier spielt jemand mit absolutem Körper­ein­satz und auch hier geht es um die Grauzone zwischen Insze­nie­rung und Realität. Da passt es ins Bild, dass eine zentrale Szene von Brüno bei einer Wrestling-Veran­stal­tung spielt. Bedeutend inter­es­santer und aufschluss­rei­cher als die vorder­grün­dige Entlar­vung bestehender Homo­phobie ist übrigens die in Brüno enthal­tene Medi­en­sa­tire, die die Macher und die Konsu­menten glei­cher­maßen trifft.

Apropos Entlar­vung: Welche Rolle die Medien in der Kunstwelt spielen und wie der dortige „Betrieb“ funk­tio­niert, zeigte äußerst aufschluß­reich die Doku Super Art Market. Bei dieser Betrach­tung des relativ über­schau­baren (Kunst-)Marktes konnte man zudem mehr über Markt­me­cha­nismen und Finanz­krisen lernen, als bei manchem Werk, das demons­trativ das Thema der globalen Wirt­schafts­krise vor sich her trug.

Apropos Wirt­schafts­krise: In Steven Soder­berghs amüsanter Farce Der Informant! wurde vorge­führt, dass Krisen übli­cher­weise nicht aus fehler­haften „Systemen“, sondern aus den (schwer zu durch­schau­enden) Eigen­heiten der Menschen resul­tieren.

Apropos mensch­li­ches Versagen: Für die Ursachen von Krieg werden ja auch gerne sehr abstrakte und komplexe Erklärungen (z.B. der Zusam­men­stoß von Kulturen) bemüht, während der Kern solcher Miseren meist ganz profan (fehl­ge­lei­tetes) mensch­li­ches Verhalten ist. Andere Menschen müssen das dann ausbaden, wie man im unglaub­lich packenden Tödliches Kommando (The Hurt Locker) von Kathryn Bigelow sehen konnte. Ob das jetzt ein Kriegs- oder ein Anti­kriegs­film ist, soll jeder für sich entscheiden. Maßgeb­lich ist, dass er den Irrsinn der im Irak (stell­ver­tre­tend für alle Kriegs- und Krisen­ge­biete dieser Welt) herr­schenden Zustände erfahrbar macht.

Apropos täglicher Wahnsinn: Krieg in einer kleinen (deshalb aber nicht weniger destruk­tiven) Art zeigte die Doku Kanun – Blut für die Ehre, durch die man einen Einblick in die scheinbar unüber­wind­bare Tragik der Blutrache bekommt.

Apropos unaus­weich­li­ches Schicksal: Dass einem auch ohne die Last eines Blut­ra­che­ge­setzes ein tragi­sches Ende vorher­be­stimmt sein kann, bewies das stille Drama Garage. Ein etwas einfäl­tiger, zu gutmü­tiger Tank­stel­len­an­ge­stellter will nicht so recht in seine Umwelt passen (selbst wenn diese das vermeint­lich beschau­liche Irland ist). So nimmt das Unheil unwei­ger­lich seinen Lauf, das Ende ist entspre­chend tragisch.

Apropos Außen­seiter. Dass es für den kleinen Ange­stellten aus Irland viel­leicht ganz anders gelaufen wäre, wenn er nur wo anders (z.B. in Uruguay) gelebt hätte, zeigte Gigante. Da gibt es auch einen dick­li­chen, schüch­ternen, gutmü­tigen Mann mit einem öden Job, der sich einfach nach Zuneigung sehnt. Jedoch ist das hier nicht die Voraus­set­zung für ein Drama, sondern für eine herzliche Komödie, der sogar ein dezentes Happy End vergönnt ist.

Apropos märchen­haftes Ende: Wie weit stilis­tisch Happy Ends (und ihre voraus­ge­henden Filme) ausein­ander liegen können, zeigt der Vergleich mit Slumdog Millionär, der ebenfalls eine Liebes­ge­schichte erzählt, nur ist hier nichts ruhig und zurück­hal­tend, sondern alles bunt, laut, schnell und groß. In der Popmusik ist es schon seit Jahren ein (künst­le­ri­sches wie finan­zi­elles) Erfolgs­re­zept, sich aus den abge­le­genen, „exoti­schen“ Gegenden dieser Welt neue Energien und Inspi­ra­tionen zu holen. Mit Slumdog Millionär ist dieses Prinzip nun endlich auch im Kino voll ange­kommen (zum Vergleich: Missy Elliotts hat die Popwelt mit ihrem bhangra-lastigem „Get ur freak on“ schon vor acht Jahren beglückt).

Apropos kultu­reller Remix: Was der vier­stün­dige Love Exposure aus Japan alles zusam­men­packt, ohne konfus oder lang­wierig bzw. lang­weilig zu werden, ist ein schieres Wunder. Und dabei ist der Kern des ganzen doch „nur“ wieder einmal eine klas­si­sche Liebes­ge­schichte.

Apropos »boy meets girl«: (500) Days of Summer war eine sehr sympa­thi­sche und schön gemachte Bezie­hungs­komödie, die erfreu­lich viele Erwar­tungen an einen Film dieses Genres unterlief. Um so bedau­er­li­cher, dass einem zum Schluss erst ein zart­bitter melan­cho­li­sches Ende ange­deutet wird, um dann doch noch ein extra klebrig-süsses Happy End nach­zu­schieben.

Apropos »Ende gut, alles gut«: Away We Go von Sam Mendes ging das Thema Bezie­hungs­pro­bleme nicht ganz so verspielt wie (500) Days of Summer an, war also „ernst­hafter“ bei der Sache, was nichts daran änderte, dass er über weite Strecken ein äußerst amüsantes Portrait einer nach Orien­tie­rung und Halt suchenden Gene­ra­tion lieferte. Leider büßt der Film einen Teil seiner verzwei­felt-lako­ni­schen Stimmung ein, wenn die lange Reise des jungen Pärchens in einem super­ver­söhn­li­chen Muster-Refugium mit Meerblick endet. Apropos unterwegs: Ein ganz anderes Pärchen, mit einer ganz anderen Ziel­set­zung war im stim­mungs­mäßig ganz anders gela­gerten Eldorado unterwegs. So bizarre, so negative, so schmerz­hafte, so abgrün­dige und dabei doch so schöne Filme bringen (außer den Öster­rei­chern und Dänen) eben nur die Belgier hin.

Apropos abgrün­diges Dänemark: Sowohl Quentin Tarantino als auch Lars von Trier haben in den Nuller-Jahren Gren­zü­ber­schrei­tungen und perma­nente Verän­de­rung für sich zum künst­le­ri­schen Prinzip erhoben. Auch in 2009 standen sich ihre (in vielerlei Hinsicht kontro­versen und heraus­for­dernden) Werke im Kino gegenüber und auch dieses Mal war mir von Triers Film der mit Abstand liebere. Ausrei­chend ist über Anti­christ bereits gesagt und geschrieben worden, weshalb ich hier nur kurz ergänzen möchte, dass von Trier mit diesem Film auch die Ehren­ret­tung für den Horror betreibt, der lange Zeit (von Poe bis Cronen­berg) ein selbst­ver­s­tänd­li­cher Teil der anspruchs­vollen Kultur war, der aber in den letzten Jahren immer mehr zum Vorwand für billige Schaulust verkam.

Apropos Horror: Es gibt kaum eine bessere Form der Würdigung als eine gut gemachte Parodie. Dement­spre­chend wurde in Zombie­land das Genre der lebenden Toten auch nicht gnadenlos nieder­ge­macht (oder sollte man sagen „ausge­schlachtet“), sondern mit viel Witz und Verstand um das richtige Maß überdreht. Einmal mehr großartig war dabei der Auftritt des Ghost­bus­ters Bill Murray.

Apropos Geister: Übli­cher­weise schrillen bei mir alle Alarm­glo­cken, wenn ich von (Nicht-Horror-)Filmen höre, in denen Geister vorkommen. Irgendwer muss da immer aus dem Grab heraus „gebessert“ werden, irgendwer muss eine ach so große Schuld beglei­chen oder ein Unheil verhin­dern. Wen die Geister lieben war nicht ganz frei von solch spiri­tu­eller Moral, bekam aber immer die Kurve, bevor es zu viel des Guten (sic!) wurde. Großen Anteil daran hatte Ricky Gervais als wunderbar zynischer Zahnarzt.

Apropos Zahnarzt: Vergleicht man Hangover mit großer Filmkunst, mag er tatsäch­lich ein wenig primitiv erscheinen. Vergleicht man ihn dagegen mit dem, was einem übli­cher­weise im Komö­di­en­be­reich vorge­setzt wird, erkennt man, wie gut er tatsäch­lich ist. Eine gewisse Neigung zu über­drehtem Humor sollte man aber mitbringen, um diese Geschichte eines folgen­schweren Jung­ge­sel­len­ab­schieds goutieren zu können.

Apropos Hochzeit: Mit Rachels Hochzeit hat Jonathan Demme einmal mehr bewiesen, dass er (immer noch) zu den inter­es­san­testen Regis­seuren Amerikas gehört. Seine genaue Sicht­weise als Doku­men­tar­filmer merkt man diesem Film ebenso an wie seine kritisch-liberale Haltung und seine insze­na­to­ri­sche Wand­lungs­fähig­keit. Ein mal lustiger, mal trauriger, mal melan­cho­li­scher Film, mit einer über­ra­schend glaub­haften Anne Hathaway als düsteres umwölktes Problem­kind. Apropos unglück­li­ches Mädchen: Coraline im gleich­na­migen Anima­ti­ons­film ist mit ihrer fami­liären Situation nicht zufrieden. Ohne pädago­gi­sche Schwere, dafür mit spru­delnder Krea­ti­vität wird (Coraline und dem Zuschauer) gezeigt, dass das Leben nicht immer nach den eigenen Wünschen abläuft und dass gerade die verfüh­re­ri­schen, scheinbar perfekten Optionen immer einen großen Haken haben.

Apropos Kinder­träume: Auch in Wo die wilden Kerle wohnen fühlt sich ein Kind (hier ein Junge) unver­standen und sehnt sich nach einer weniger kompli­zierten und seinen Vorstel­lungen folgenden Welt. Als sein Wunsch wahr wird, muss er fest­stellen, dass selbst in von chaotisch freund­li­chen Monstern bewohnten Zauber­län­dern typische (zwischen)mensch­liche Probleme lauern. Wie sehr diese Erfahrung zur »Läuterung« des aufmüp­figen Jungens beiträgt, lässt der Film zum Glück weit­ge­hend offen.

Apropos böse Kinder: Die thema­tisch ja immer ähnlichen Filme von Michael Haneke unter­scheiden sich quali­tativ vor allem durch den jewei­ligen Rahmen der Umsetzung. Wer hätte gedacht, dass ausge­rechnet ein pitto­resker Schwarz-Weißfilm, der von den sonder­baren Vorfällen in einem nord­deut­schen Dorf am Vorabend des Ersten Welt­krieges erzählt, der konge­niale Hinter­grund für Hanekes gewohnt bittere, schonungs- und illu­si­ons­lose Weltsicht ist. Die Schil­de­rung der elter­li­chen Kälte und Unge­rech­tig­keit in Das weiße Band ließ mich (erstaun­li­cher­weise?) mehrmals an den Horror­klas­siker Village of the Damned denken.

Apropos Orte des Unrechts: Horror- und SiFi-Filme waren immer schon gute Möglich­keiten, allge­meine Ängste und Miss­stände hinter dem Mantel des Fiktiven zu behandeln. Auch District 9 nutzt diese Methode, um sich auf technisch und gestal­te­risch hohem Niveau mit sperrigen Themen wie Frem­den­angst und ?hass, sozialer Unge­rech­tig­keit und Armut zu beschäf­tigen. Obwohl District 9 zum Ende hin ein wenig pathe­tisch wird, bleibt er trotzdem die eindeutig bessere Wahl, als ein gewisses – zum Jahres­ende hin mit großem Gedöns gestar­tetes – SiFi-Spektakel, das thema­tisch ähnlich gelagert ist.

Apropos Kampf der Kulturen und Kreaturen: Für Termi­nator – Die Erlösung hegte ich große Hoff­nungen, die leider nicht voll erfüllt wurden. Als reiner Action­film ist er (technisch wie ästhe­tisch) sehens­wert, inhalt­lich dagegen ist er zum einen zu geschwätzig (hoffent­lich hört Hollywood bald auf, seine Film­klas­siker zu entzau­bern, indem es minutiös ? und meist ziemlich belanglos ? erklärt, wie alles begann), zum anderen konnte er die strin­gente, pessi­mis­ti­sche und viel­schich­tige Gedan­ken­welt der ersten drei Teile nicht adäquat fort­setzen.

Apropos Vorkämpfer: Während Termi­nator – Die Erlösung an der Darstel­lung von Macht, Bedeutung und Ausstrah­lung einer charis­ma­ti­schen, kämp­fe­ri­schen Iden­ti­fi­ka­ti­ons­figur scheitert, gelingt dies Steven Soder­bergh in seinem monu­men­talen Che-Zwei­teiler virtuos. Wer glaubt, an diesem Film (z.B. wegen histo­ri­scher Unge­nau­ig­keiten) rummäkeln zu müssen, der stelle sich bitte vor, was Oliver Stone aus dieser Geschichte gemacht hätte.

Apropos Vorkämpfer und Politiker: Die Schil­de­rung von Leben und Kampf des Harvey Milk verlief in bedeutend konven­tio­nel­leren Bahnen als bei Che. Trotzdem ein sehens­werter Film, weil er mit groß­ar­tigen Darstel­lern weit­ge­hend unsen­ti­mental eine spannende und lehr­reiche (und zudem wahre) Geschichte erzählt.

Apropos Politiker: Was in Il Divo wahr und was nicht wahr ist, wird der Zuschauer genau so wenig klären können, wie es italie­ni­schen Gerichten gelang, alle Fakten im Leben des hier im Mittel­punkt stehenden Giulio Andreotti zu ergründen. Il Divo ist nicht nur die Beschrei­bung eines einzelnen Mannes, sondern auch das Sitten­bild einer poli­ti­schen bzw. gesell­schaft­li­chen Kaste bzw. eines komplexen Systems der Macht.

Apropos Macht: Um unter­schied­liche Macht­ver­hält­nisse geht es auch in Agnès Jaouis Erzähl mir was vom Regen, der in der für die Regis­seurin typischen Art zwischen Satire, Gesell­schafts­kritik und Alltags­eth­no­logie pendelt und in dem wieder einmal sehr geschickt hinter (mehr oder minder schöne) Fassaden geschaut wird, um mensch­li­ches und allzu­mensch­li­ches Verhalten frei­zu­legen.

Apropos Schein und Sein: Eine der zahl­rei­chen (und eher unge­wohnten) Seiten des „Anti­christen“ Lars von Trier konnte man bei der verspä­teten Auswer­tung der Komödie The Boss of It All kennen lernen. Ein Schel­men­s­tück mit gestal­te­ri­schen Extra­va­ganzen, das von den zeitlosen Torheiten der modernen Geschäfts­welt erzählt und das bereits 2006 das bahn­bre­chende Konzept eines fiktiven Chefs, dem die Schuld an alle unlieb­samen und miss­glückten Entschei­dungen gegeben werden kann, vorstellte.

Apropos Sünden­bock: Michael Mann hat in Public Enemies ein gewohnt episches und diffe­ren­ziertes Portrait des Gangsters und Volks­helden John Dillinger sowie seines Umfeldes gezeichnet. Störend ist manchmal nur die (ebenfalls Michael-Mann-typische) arg unre­flek­tierte Begeis­te­rung bzw. Huldigung von Werten wie Männ­lich­keit, Ehre, Aufrich­tig­keit, Mut und Gerech­tig­keit.

Apropos ameri­ka­ni­sche Werte: Dass sich auch Clint Eastwood gerne mit solch kernigen Eigen­schaften (bis an den Rand zum Reak­ti­onären) iden­ti­fi­zieren kann, zeigte die ihm gewidmete Retro­spek­tive im Film­mu­seum. Zugleich konnte man dort aber auch sehen, dass Eastwood oft genug ein ebenso radikaler Zertrüm­merer von (ameri­ka­ni­schen und filmi­schen) Mythen und Werten ist. Diese Ambi­va­lenz prägte auch seinen Film Der fremde Sohn, der einer­seits sehr konven­tio­nell (fast schon kitschig) vom aufrechten Kampf gegen Unge­rech­tig­keit und Ignoranz erzählt, um im nächsten Moment mit erschre­ckender Scho­nungs­lo­sig­keit die Abgründe Amerikas auszu­loten.

Apropos Höhen und Tiefen: Der Dichter John Keats und seine ange­be­tete Fanny Brawne erleben in Bright Star von Jane Campion das Auf und Ab einer bedin­gungs­losen aber unmög­li­chen Liebe. Ein filmi­sches Loblied auf den Welt­schmerz, die Poesie und das Glück der kleinen Dinge.

Apropos unglück­liche Liebe: In Zeiten des Aufruhrs leidet das Paar nicht an der Unmög­lich­keit ihrer Liebe, sondern am Übermaß der Möglich­keiten, die in der Praxis aber wegen Konven­tionen und persön­li­chen Befind­lich­keiten nicht umgesetzt werden. Die erneute Kombi­na­tion von Kate Winslet und Leonardo DiCaprio in diesem spezi­ellen Rahmen war nicht ohne Risiko (z.B. wegen falschen Erwar­tungs­hal­tungen), zahlte sich künst­le­risch aber voll­kommen aus.

Apropos »bis dass der Tod euch scheidet«: Dass es in compu­ter­ani­mierten Filmen für die Phantasie keine Grenzen gibt, bewies der detail­ver­liebte und gefühls­be­tonte Oben, in dem ein alter Witwer seinen Jugend­traum wahr werden lässt und samt Haus zu seinem Sehn­suchtsort reist (und dabei natürlich allerlei aber­wit­zige Abenteuer erlebt).

Apropos Traumhaus: Andere suchen die Orte ihrer Träume nicht in der Ferne, sondern wollen sie vor der eigenen Haustür entstehen lassen. In einem kleinen Ort in Hessen träumen einige Menschen (vor allem der Bürger­meister Henner Sattler) von einem gigan­ti­schen Feri­en­res­sort, welches Glück und Wohlstand für alle bringen soll. Wie Henners Traum letztlich schei­terte, führt der gleich­na­mige Doku­men­tar­film vor Augen.

Apropos Bauvor­haben: Weltweit wird mit Ziegel­steinen gebaut, doch nicht überall werden diese nach der selben Methode herge­stellt. Zum Vergleich heißt die Doku, die diese (tech­ni­schen und kultu­rellen) Unter­schiede deutlich macht und die zum Nach­denken über Begriffe wie Arbeit und Wohlstand anregt. Mit Harun Farocki als Regisseur beschränkt sich der Film natur­gemäß aufs reine Beob­achten und verwei­gert jeden (noch so subtilen) Kommentar.

Apropos ohne Kommentar: Die Filme von James Benning bewegen sich irgendwo zwischen Doku­men­tar­film und Kunst-Instal­la­tion. Auch in One Way Boogie Woogie/27 Years Later reihen sich starre, zeitlich genau begrenzte Aufnahmen von „ereig­nis­losen“ Szenarien anein­ander. Das mag der eine als Krönung der Lange­weile empfinden. Wer sich aber auf dieses Prinzip einlässt (und die entspre­chende Geduld mitbringt), kann in Bennings Filmen viel über die Mecha­nismen des (Film-)Sehens lernen.

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Macht man sich nun Gedanken darüber, wie das kommende Film-Jahr(-zehnt) werden wird, so kann man (scheinbar paradox) vermuten, dass es voll­kommen anders sein wird als die erste Dekade, gerade weil es genau so wie diese sein wird. Verän­de­rung und Vielfalt werden eben auch in Zukunft die bestim­menden Kräfte des Kino­pro­gramms bleiben.