Perspektiven durch Nacht und Nebel |
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Alain Resnais (1922-2014) |
Es ist gerade zwei Wochen her, da bekam Alain Resnais seinen letzten großen Preis: Den Silbernen Bär »für einen Film, der neue Perspektiven eröffnet«. Eine ironische Volte am Abend seines Lebens, zugleich aber treffend und charakteristisch für diesen Regisseur, den lange Zeit nichts anderes interessiert hat, als an der Spitze des Fortschritts zu marschieren, und ein Teil der Avantgarde des Kinos zu sein. Mit fast 92 Jahren war Resnais zwar der an Jahren älteste Regisseur im Berlinale-Wettbewerb, aber immer noch interessiert an Experimenten, immer noch neugierig und mutig wie ein Junger – nur seine Gelassenheit verriet das Alter.
Der Film, der 1955 seinen Weltruhm begründete, war unbedingt Avantgarde: Nuit et Brouillard (Nacht und Nebel) – einer der bis heute besten, weil klügsten, stilbildenden, weil ästhetisch verantwortungsvollsten, dabei kompromisslosesten Dokumentarfilme über die Shoah. François Truffaut nannte ihn
»der größte Film, der je gemacht wurde.« Nur 31 Minuten dauert Nuit et Brouillard, ein Film voll nüchtern-bitterer Intensität, mit Hanns Eislers die Bilder mal konterkarierender, mal sarkastisch kommentierender, selten anschmiegsam unterstützender Musik und der von Paul Celan geschriebenen Erzählerstimme, über Jahrzehnte die wichtigste und stilbildende Behandlung dieses Themas im Kino
wurde.
Dies wohl nicht nur wegen der Mischung von minimalistischen Farbbildern, die die Ruinen der Lager zehn Jahre nach der Befreiung aufsuchen mit historischen Aufnahmen – von oft derart unerträglicher Brutalität, dass man die entsprechenden Bilder in den letzten Jahrzehnten so gut wie nie wieder in anderen Filmen sehen konnte. Sondern auch wegen seines Textes, der skeptisch ist, der die Phantastik der Bilder betont und die möglichen Reserven des Betrachters
miteinbezieht. Ein Meisterwerk, das erst mit Claude Lanzmanns Shoah ein Pendant auf Augenhöhe traf – doch bis heute hält Nuit et Brouillard den Jahren stand, altert nicht, sondern bleibt ein Bestandteil im Gedächtnis der Menschheit.
Resnais, 1922 im bretonischen Vannes geboren, verband nördlich-asketische Strenge und Intellektualität mit spielerischer Heiterkeit, wie man sie so nur in Frankreich findet – und die natürlich ebenfalls etwas Intellektuelles hat. Seine Karriere begann er – nachdem er Krieg und Besatzung als Student und Schauspieler überstanden hatte – 1948 als Dokumentarfilmer, zunächst gemeinsam mit dem gleich alten Chris Marker (1921-2012), einem weiteren Singulär des
Kinos, der bei Nuit et Brouillard sein Regieassistent war.
Danach begann seine Spielfilmkarriere mit zwei Filmen, die Resnais Platz im Olymp des Kinos bestätigten: Hiroshima, mon amour (1959, nach Marguerite Duras) und Letztes Jahr in Marienbad (1962, mit dem Drehbuch von Alain Robbe-Grillet). Beides waren sehr eigenständige Werke im Umfeld des Aufbruchs der Nouvelle Vague, spröde, aber gerade in ihrer Sperrigkeit faszinierend und unvergesslich – allenfalls vergleichbar mit den Film-Philosophien Michelangelo Antonionis. Beides waren auch Verfilmungen zeitgenössischer, stilistisch ungewöhnlicher Literatur, die Resnais' Interesse an
politisch-kultureller Zeitgenossenschaft ebenso deutlich machten, wie seine Leidenschaft fürs geschriebene Wort: Das Leben ist ein Roman hieß einer seiner späteren Filme. Dort heißt es: »Vom Lesen ist noch keiner gestorben. Im Gegenteil: Es hilft beim Leben.«
Die sechziger Jahre waren die Zeit, in denen auch Resnais das Kino neu erfinden wollte – mit Erfolg. Letztes Jahr in Marienbad ist ein Film ohne Geschichte, geprägt von elegischen Fahrten und Raumvermessungen, die alles in eine magische Atmosphäre tauchen. Resnais liebte immer solche neuen, ästhetischen Versuchsanordnungen. Aber im Unterschied zu manchem anderen, nahm er deren Versatzstücke aus der Wirklichkeit. Erinnern und Vergessen waren Resnais' Thema. Er erzählt, wie sich die sichtbare Welt und die der Erinnerungen untrennbar überblenden: Ob es die »Stavisky«-Affaire war (eine 1974 gedrehte Komödie mit Jean-Paul Belmondo), der spanische Bürgerkrieg (Der Krieg ist vorbei), das Paris der zwanziger Jahre (Mélo) oder das der Besatzung (On connaît la chanson). Aber auch einen Science-Fiction hat er gedreht: Ich liebe Dich, ich liebe Dich (1968). Ein letzter großer Triumph für Resnais wurde 1993 Smoking/No Smoking, eine Ayckbourn-Verfilmung über die Relativität der Dinge.
Dennoch war er kein Relativist, im Gegenteil: Streng geometrisch sind seine Filme, wie auf dem Reißbrett durchgeplant, und dann doch voller Lust am Experiment. Die war Resnais immer möglich, weil die Koordinaten unverrückbar waren, stilistisch, wie thematisch: Auschwitz und Hiroshima, Chansons und Comics, Gefühle und Verstand, Wiederholung und Abweichung – alles ist bei Resnais ein Déjà-vu, wie man es noch nie gesehen hat.
In seinen letzten zwanzig Lebensjahren wurde Resnais als Regisseur wieder zum Kind: Er tat nur noch, was ihm Spaß machte, und spielte – begleitet vom schier unendlichen Wohlwollen der Filmszene, der Jurys und Kritiker, die bereits mit seinen Filmen aufgewachsen waren, und vom Alter her seine Enkel und Urenkel sein konnten. Sie werden ihn, der am Samstag in Paris gestorben ist, nicht vergessen, und seine Perspektiven ins Unendliche, durch Nacht und Nebel, weiterverfolgen.