Global denken, global handeln |
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Shosh Shlam und Hilla Medalias Web Junkie – Teil eines Trends? | ||
(Foto: Dogwoof Pictures) |
Von Natascha Gerold
Es ist noch nicht zu Ende. Wie verbringen Schimpansen, die ihr Leben auf unterschiedliche Weise im Dienste der Menschheit verbringen mussten, ihre letzten Jahre? Dieser Frage geht der Eröffnungsfilm See No Evil (Mi, 07.05. 20 Uhr HFF-Audimax/Fr, 09.05. 18.30 Uhr ARRI/So, 11.05. 16 Uhr City 3) von Jos de Putter nach und besucht drei solche Menschenaffen, nachdem sie von uns gefeiert (Tarzans tierischer Freund Cheeta), bewundert (Kanzi, der „klügste Affe der Welt“) und gequält (Knuckles, der physisch und psychisch von Tierversuchen Gezeichnete) wurden. De Putters Werk zählt zu denen, die den Zuschauer auf sich selbst zurückwerfen, vergleichbar dem aufwühlenden Dokumentarfilm Unter Menschen von Christian Rost und Claus Strigel, die artengeschützte Schimpansenrenter porträtierten, an denen, auf der Suche nach einem AIDS-Impfstoff, jahrelang sinnlose Versuchsreihen ausgef ührt wurden.
Ein nachdenklicher Auftakt also. Und das ist gut so. Nachdenken ist das Basiselement im Dreisprung Nachdenken – Nachfragen – Diskussion beziehungsweise Nachdenken – Empörung – Protest. Das DOK.fest ohne Beiträge zu Letzerem ist nicht denkbar, so bildete der Arabische Frühling und seine Folgen 2012 unter anderem den Schwerpunkt des Dokumentarfilmfestivals. Wen und warum die Wellen der Wut aktuell weltweit erfassen, welche Gestalt sie annehmen und welche Konsequenzen sie zeitigen – diese Themen ziehen sich heuer durch sämtliche Reihen. Der Blick richtet sich dabei aufs große Ganze, wie in Everyday Rebellion (Sa, 10.05. 18 Uhr Rio I/So, 11.05. 20 Uhr HFF-Audimax/Di, 13.05. 19 Uhr ARRI), in dem Arash und Arman T. Riahi Demonstrationen und Proteste als internationales Gesamtphänomen betrachten und die ergreifenden Bilder der Schauplätze in Beziehung zueinander stellen. Er richtet sich aber, und das ist nicht minder spannend, auch auf mutige Gruppierungen in Winkeln der Welt, wo man sie nicht vermutet hätte, wie in Flowers of Freedom (Fr, 09.05. 17 Uhr Atelier I/Mo, 12.05. 20 Uhr Staal. Mus. f. Völkerkunde) von Mirjam Leuze, die eine Gruppe kirgisischer Frauen im Widerstand gegen einen kanadischen Großkonzern zeigt, der Land und Leute mit skandalösen Abbaumethoden ihrer Leben und Bodensch ätze beraubt.
Und dann gibt es noch die »Keimzellen« des Unmuts, die beharrlich ihren Weg weitergehen, selbst wenn sie vom Gegner schwer getroffen und nach wie vor in größter Gefahr sind. So ein Mensch ist der Blogger und Anwalt Ricardo Gama, den man im Beitrag Im Schatten Der Copa Cabana (Do, 08.05. 19.30 Uhr City 2/ So, 11.05. 21.30 Uhr Rio 2) von Denize Galiao kennenlernt. Der Film wird in der Reihe DOK.guest gezeigt, die in diesem Jahr dem Gastland Brasilien gewidmet ist.
Und so einer ist auch der bekannteste chinesische Künstler Ai Weiwei, für den ein richtiges Leben im falschen noch immer keine Option ist, gleichwohl der Preis für ihn immer höher wird. Ai Weiwei: The Fake Case (Do, 08.05. 21.30 Uhr City 2/ Fr, 09.05. 16 Uhr Pinakothek der Moderne/ So, 11.05. 16 Uhr ebd.) von Andreas Johnsen fängt da an, wo Alison Klaymans Never Sorry aufgehört hat – bei Ais Entlassung aus 81 Tagen Einzelhaft. Johnsen nähert sich Ai anders als Klayman, findet deutungsreiche Bilder für einen neuen, schwierigen Lebensabschnitt des Künstlers und Familienvaters ohne Pass.
2009 wurde Ais äußerst populäres, politisch brisantes Blog gesperrt – doch sein Name ist nach wie vor fest mit Internet und Social Media verbunden. Dieser
Tatsache eingedenk hört man die Nachricht, dass China als erster Staat Internetabhängigkeit als pathologisch definiert hat, nochmal anders. In Web Junkie (Mo, 12.05. 21.30 Uhr City 3/Mi 14.05. 18 Uhr Rio 2) von Shosh Shlam und Hilla Medalia werden Jugendliche Dauergamer in »Entzugskliniken« gebracht, gegen ihren Willen fragwürdigen Maßnahmen unterzogen, die Eltern in den Prozess involviert. Auch wenn exzessives Gaming als soziales Problem virulent ist und
in WEB JUNKIE klar zutage tritt – man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass der chinesische Staat unter dem Deckmäntelchen Suchttherapie alles dafür tut, dass aus Usern von heute keine Internetaktivisten von morgen werden.
Sowohl The Fake Case als auch Web Junkie sind Teil eines Trends, der sich bei diesem 29. Internationalen Dokumentarfilmfestival ziemlich eindeutig zeigt: Ein Großteil der Beiträge in den Reihen DOK.international, DOK.horizonte, DOK.panorama und sämtliche Münchner Premieren wurden in Ländern produziert, die von ihren Schauplätzen ganz weit weg sind. Das heißt nicht, dass vor der jeweils eigenen Haustür nichts mehr Erwähnenswertes passiert, zum Glück gibt es dafür auch noch genügend Beispiele. Der Optimist will es so interpretieren: Dem Blick über den eigenen Tellerrand folgt zunehmend der Sprung darüber. Kollektive Bewusstwerdung als positive Seite einer Globalisierung.
Der lange Weg nach Europa zu Fuß oder auf dem Wasser – die meisten Flüchtlinge bezahlen ihn mit Unsummen, viele mit ihrer Gesundheit, wenn nicht gar mit dem Leben. Und nach der Ankunft? Nimmt das Elend kein Ende, sondern nur andere Gestalt an. Dieser Problematik und ihren unterschiedlichen fatalen Konsequenzen widmen sich vor allem deutsche Filmemacher. Leaving Greece (Do, 08.05. 17.30 Uhr
Atelier I/ Mi, 14.05. 14 Uhr Atlelier I) von Anna Brass schildert den Überlebenskampf dreier junger afghanischer Männer in Griechenland, für viele asiatische und nordafrikanische Flüchtlinge das erste europäische Land auf der meistgenutzten Route über die Türkei. Ein überforderter EU-Staat ohne funktionierende Asylbehörde und mit starken rassistischen Kräften wie der »goldenen Morgenröte«, die vor gewaltsamen Übergriffen Ausländern gegenüber nicht zurückschrecken.
Eine Fortsetzung der Flucht wäre die logische Konsequenz, allein ihre Ausführung wird vom griechischen Staat massiv behindert.
Und plötzlich klettern sie raus aus den Nachrichten und sind da. Im eigenen Kaff, in der eigenen Straße, in der eigenen Stadt. Da kommt es zu bewegenden, beschämenden aber auch skurrilen Begegnungen. Zwei ganz unterschiedliche Filme legen davon Zeugnis ab: Mit Gespür für Situationskomik, die mitunter ganz schön tief blicken lässt, begleiten Judith Keil
und Antje Kruska in Land in Sicht (Do, 08.05. 17.30 Uhr City 3/ Sa, 10.05. 20.30 Uhr Gasteig Vortragssaal/ Di 13.05. 9.30 Uhr City 3) drei Asylbewerber respektive Flüchtlinge im brandenburgischen Bad Belzig. Und Niklas Hofmann, Nina Wesemann und Alexandra Wesolowski dokumentieren hautnah in First Class Asylum (Sa, 10.05. 20 Uhr Filmmuseum) den Hungerstreik der sogenannten »Non-Citizens« im vergangenen Sommer auf dem Münchner Rindermarkt gegen prekäre Lebensbedingungen in örtlichen Unterkünften und für eine humanere Asylpolitik in Bayern.
Harmlos-nett bis zotig-vulgär – diese Assoziationen kommen oft auf, wenn im »Buddy-Movie« Männerfreunde unter sich sind. Im Dokumentarfilmbereich geht das anders: Was man aneinander hat, zeigt sich, wenn die beschissensten Zeiten miteinander geteilt werden oder die Freundschaft in einer existentiellen Krise steckt. Der belgisch-holländische Film Ne me quitte pas (Sa, 10.05. 15 Uhr Filmmuseum/ Mo, 12.05. 19.30 Uhr Atelier I) von Sabine Lubbe Bakker und Niels van Koevorden begleitet Bob und Marcel, die den wüsten Nackenschlägen des Lebens Humor und gegenseitige Loyalität entgegenhalten. Sie sind Wladimir und Estragon in Lebensgröße, die glatt durchgehen könnten als Prototypen für Flämisch-Walonische Freundschaft, die ja bekanntlich selten ist. In The Special Need (Fr, 09.05. 21.30 Uhr Rio 2/ So, 11.05. 15 Uhr Atelier I) von Carlo Zoratti wollen der Regisseur und Alex dem gemeinsamen Freund Enea bei der Suche nach einer Frau helfen, die die Sehnsüchte des Autisten nach körperlicher Zuneigung erfüllen kann – dafür ist kein Weg zu weit, kein Denkmodell zu ungewöhnlich. Seine Beziehung zu Asier, der sich im Laufe der Zeit der baskischen Untergrundorganisation ETA anschloss, hinterfragt der Schauspieler und Regisseur Aitor Merino in dem autobiographischen Film Asier ETA biok (So, 11.05. 14 Uhr Filmmuseum/ Di, 13.05. 20 Uhr Gasteig Vortragssaal), den er gemeinsam mit seiner Schwester Amaia gemacht hat und der in der neuen Reihe DOK.ego gezeigt wird. Ein ungewöhnlich leicht erzählter, amüsanter und informativer Rechtfertigungsfilm innerhalb eines innenpolitischen Konflikts, der aktuell zwar beigelegt, aber noch längst nicht ausgestanden ist.
Das ausführliche Programm sowie Spielplan, Tickets, ein tagesaktuelles DOK.blog und vieles mehr gibt es im Internet unter www.dokfest-muenchen.de.