26.05.2016

Mensch­lich­keit, Mammon und Meis­ter­kämpfer

The Assassin
HOU Hsiao-hsiens The Assassin ist ein Meisterwerk in Bild und Geschichte

Chinesische Filme in neuem Rahmen: Das Chinesische Filmfest München im Gasteig

Von Marianne Wagner

Bereits zum vierten Mal präsen­tiert das Konfuzius-Institut München eine Auswahl erfolg­rei­cher chine­si­scher Spiel­filme des vergan­genen Produk­ti­ons­jahres. Aller­dings unter leicht verän­derten Vorzei­chen: neuer Veran­stal­tungsort ist der Gasteig, aus den »Münchner China Filmtagen« wird das Chine­si­sche Filmfest München, auf dem in vier Tagen (vom 25. bis 29.05.2016) insgesamt neun Filme (einige auch mehrmals) gezeigt werden.

A Fool (个勺子, 2014/2015; Mi., 25.05., 20:00 Uhr und Fr., 27.05., 17:00 Uhr) ist der Eröff­nungs­film und das Regie­debüt des bisher als Schau­spieler (z. B. an der Seite von Chow Yun-Fat im Histo­ri­en­epos Konfuzius, 2010) in Erschei­nung getre­tenen CHEN Jianbin. Er verfasste auch das Drehbuch nach HU Xuewens Novelle »Der laufende Mond­schein«, die mit dem renom­mierten Lu-Xun-Lite­ra­tur­preis ausge­zeichnet wurde. Bei einem Bauern­paar (CHEN Jianbin auch in der Haupt­rolle), das schon genug Probleme hat, nistet sich ein Fremder ein. Wie diesen »Fool« (der sich als geistig Behin­derter heraus­stellt) loswerden? In dieser in Chinas Nord­westen ange­sie­delten Tragi­komödie geht es um das Span­nungs­feld Mensch­lich­keit und Mammon, nicht zuletzt schwarz­hu­morig. Der Typus des Verrückten hat in der chine­si­schen Literatur, u.a. beim Namens­geber des Lite­ra­tur­preises Lu Xun (»Tagebuch eines Verrückten«), durchaus Tradition. Auf dem 51. Golden Horse Festival in Taiwan gewann der Film Preise für bestes Regie­debüt und bester Haupt­dar­steller, in Peking den Goldenen Hahn 2015 (bestes Regie­debüt). An beiden Vorführ­tagen wird CHEN Jianbin anwesend sein, vor der Eröffnung am 25.05. im Rahmen einer Master­class und am 27.05. um 19:00 zu einer Podi­ums­dis­kus­sion gemeinsam mit seiner Ehefrau (im Film wie im Leben), der Schau­spie­lerin JIANG Qinqin sowie der Film­kri­ti­kerin CHEN Yanhui.
Mensch­lich­keit ist auch Thema in Norjmaa (诺日吉玛, 2014; Fr., 27.05., 21:00 Uhr) des Regis­seurs Bayan­e­ruul. Norjmaa, eine Hirtin, verkör­pert von der mongo­li­schen Schau­spie­lerin Badema (Goldener Hahn 2015), findet während des Zweiten Welt­kriegs in der mongo­li­schen Steppe verwun­dete Soldaten: einen japa­ni­schen und einen russi­schen. Trotz ihrer Versehrt­heit lassen die beiden nichts unver­sucht, sich gegen­seitig an die Gurgel zu springen, was komischer Momente keines­falls entbehrt.

Frap­pie­rend ist dieses Jahr der häufige Blick zurück auf das China der 1990er. Als käme die Jugend von damals erst jetzt verstärkt zum Inne­halten. So adaptiert die inzwi­schen mehrfach mit Preisen bedachte LI Yu mit Ever Since We Love (万物生长, 2015; Do., 26.05. und So., 29.05., jeweils 20:00 Uhr) den semi­au­to­bio­gra­fi­schen, erfolg­rei­chen Roman TANG Fengs »Ever­y­thing Grows« (2001). (Feng Tang gehört auch zu den Schrift­stel­lern, die in Peking kürzlich mit Bunde­sprä­si­dent Joachim Gauck zusam­men­trafen.) Nach kontro­versen Themen wie lesbische Bezie­hungen, Teenager-Schwan­ger­schaft oder Migran­ten­schick­sale in LI Yus früheren Werken Fish and Elephant (2001), Dam Street (2005) und Lost in Beijing (2007) reiht sich die Regis­seurin nach den Erfolgen Buddha Mountain (2010) und Double XPosure (2012) mit diesem Blick auf turbu­lente Studen­ten­zeiten während der Öffnung in den 1990ern in den derzeit populären Coming-of-age-in-the-90s-Trend ein. Zur Stamm­be­set­zung gehört bei LI Yu auch hier wieder die Star-Schau­spie­lerin FAN Bingbing.
JIA Zhangkes neuestes Werk Mountains May Depart (山河故, 2015; Sa., 28.05. und So., 29.05., jeweils 17:00 Uhr) führt diesen filmi­schen Rückblick fort. Der achte Spielfilm des Carosse d’Or- und Löwen-Preis­trä­gers setzt 1999 ein, mit Disco Dancing zum inter­na­tio­nalen Ohrwurm der 90er, »Go West von den Pet Shop Boys. Eine klas­si­sche Drei­ecks­kon­stel­la­tion: zwei junge Männer, verliebt in die gleiche Frau, Tao (gespielt von ZHAO Tao). Ein Kind, das den Namen ›Dollar§ trägt ... Der Regisseur (u. a. Goldener Löwe 2006 für Still Life, bestes Drehbuch 2013 in Cannes für A Touch of Sin, 2013) zeichnet die Emotionen und Bezie­hungen im Zusam­men­spiel mit äußeren Faktoren wie der wirt­schaft­li­chen Entwick­lung auf – über Räume hinweg und selbst über die Gegenwart hinaus bis ins Jahr 2025.‹«

Weiter zurück in die chine­si­sche Geschichte geht es mit den dies­jäh­rigen Martial-Arts-Filmen: Mit dem bild­poe­ti­schen The Assassin (刺客聂隐娘 2015; Do., 26.05., 17:00 Uhr) bril­lierte HOU Hsiao-Hsien bereits bei den 68. Film­fest­spielen von Cannes (beste Regie). Ein Vergleich seines ersten, jahrelang vorbe­rei­teten Films im Wuxia-Genre mit anderen großen Filmen dieser Kategorie wie Ang Lees Tiger & Dragon (2000) oder auch ZHANG Yimous Hero (2002), House of Flying Daggers (2004) oder Der Fluch der goldenen Blume (2006) drängt sich natürlich auf, gleichsam darf man gespannt sein auf die unver­kennbar andere, subtile Hand­schrift, die HOU Hsiao-Hsien auszeichnet. Mit 10 Jahren wird NIE Yinniang (Shu Qi) entführt und von einer Meisterin in den Kampf­künsten ausge­bildet, genauer: zu einer Atten­tä­terin. Ziele der Auftrags­morde sind die Wider­sa­cher der Tang-Dynastie. Da die Auftrags­kil­lerin einen Job nicht bis zum bitteren Ende führt, muss sie sich erneut beweisen: Als Opfer wird ihr Cousin auser­koren, dem sie in ihrer Kindheit eng verbunden und zur Frau verspro­chen war. Eine trai­nierte Killerin, die doch, und sei es nur im letzten Moment, Zweifel hegt, an ihre mensch­li­chen Grenzen stößt, sich des Opfers erbarmt? – Ein inter­es­santes Szenario, über das 9. Jahr­hun­dert hinaus. Dieser Kampf­kunst-Augen­schmaus wird zusätz­lich in Koope­ra­tion mit dem Filmclub der TU auch in der Tech­ni­schen Univer­sität gezeigt (So., 29.05., 20:00 Uhr).
Der zweite Martial-Arts-Film holte bei den Golden Horse Awards 2015 in Taiwan den Preis für beste Choreo­grafie und stammt von Regisseur XU Haofeng, der diese Kunst selbst prak­ti­ziert. The Master (师父, 2015; Sa., 28.05., 20:00 Uhr) ist Kampf­kunst-Action verknüpft mit den tieferen histo­ri­schen und philo­so­phi­schen Aspekten des Win Chun. Der Film basiert auf der von XU Haofeng verfassten gleich­na­migen Erzählung, die im 19. Jahr­hun­dert verankert ist. Zusammen mit Wong Kar-Wai schrieb XU Haofeng u. a. bereits an The Grand­master (2013) mit. Haupt­dar­steller Liao Fan ist seit dem Silbernen Bären bei der Berlinale 2014 für seine Leistung in Feuerwerk am hell­lichten Tage (2014) auch hier bekannt.

Aus saiso­nalen Kinohits lernen wir leicht etwas über anderer Länder wichtige Feste, Bräuche und Fami­li­en­leben. So sind uns inzwi­schen Truthähne, wetter­pro­gnos­ti­zie­rende Murmel­tiere oder schau­der­haft hässliche hand­ge­strickte Weih­nachts­pullis bestens vertraut. Was chine­si­sche Feste angeht, lässt sich mit The New Year’s Eve of Old Lee (过年好, 2016; Sa., 28.05., 14:00 Uhr) viel­leicht eine Lücke schließen. In Großvater Laolis tradi­tio­nellem Haus im Nordosten Chinas versam­meln sich drei Gene­ra­tionen zum chine­si­schen Neujahrs­fest: Konflikte und das Verhan­deln alter und neuer Wert­vor­stel­lungen vorpro­gram­miert. Regisseur GAO Qunshu, bisher eher auf Thriller und Detek­tiv­filme spezia­li­siert (The Message, 2009, Beijing Blues/Detective Hunter Zhang, 2012, Crimes of Passion, 2013), nimmt sich hier des »Hesui-Films« (Neujahrs­films) an und enga­gierte für die Rolle des Groß­va­ters den populären Komiker ZHAO Benshan.
Um das Verhältnis zu erwach­senen Kindern geht es auch im Fami­li­en­drama Everybody’s Fine (一切都好, 2016; Do., 26.05., 14:00 Uhr) von ZHANG Meng, nur muss der Vater hier zu seinen Kindern fahren, da sie zum Fami­li­en­treffen erst gar nicht kommen. Erst nach dem Tod seiner Frau wird er sich überhaupt der Entfrem­dung in der Familie bewusst.

Am letzten Tag des Film­festes läuft der Beitrag Chinas zur Liste der besten fremd­spra­chigen Filme für die Oscars 2015 und Gewinner des Golden Angel Awards beim Chinese American Film Festival (CAFF). Neben A Fool und Ever Since We Love ist Go Away Mr. Tumour (滚蛋吧!肿瘤君, 2015; So., 29.05., 14:00 Uhr) von HAN Yan eine weitere Lite­ra­tur­ver­fil­mung im dies­jäh­rigen Programm. Sie folgt dem Comic-Best­seller der Zeich­nerin XIONG Dun, die gegen den Krebs kämpfte, darüber öffent­lich mit viel Humor und Zuver­sicht berich­tete und mit knapp 30 Jahren 2012 verstarb.

Chine­si­schen Filmfest München – 25. bis 29. Mai 2016.