Menschlichkeit, Mammon und Meisterkämpfer |
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HOU Hsiao-hsiens The Assassin ist ein Meisterwerk in Bild und Geschichte |
Von Marianne Wagner
Bereits zum vierten Mal präsentiert das Konfuzius-Institut München eine Auswahl erfolgreicher chinesischer Spielfilme des vergangenen Produktionsjahres. Allerdings unter leicht veränderten Vorzeichen: neuer Veranstaltungsort ist der Gasteig, aus den »Münchner China Filmtagen« wird das Chinesische Filmfest München, auf dem in vier Tagen (vom 25. bis 29.05.2016) insgesamt neun Filme (einige auch mehrmals) gezeigt werden.
A Fool (个勺子, 2014/2015; Mi., 25.05., 20:00 Uhr und Fr., 27.05., 17:00 Uhr) ist der Eröffnungsfilm und das Regiedebüt des bisher als Schauspieler (z. B. an der Seite von Chow Yun-Fat im Historienepos Konfuzius, 2010) in Erscheinung getretenen CHEN Jianbin. Er verfasste auch das Drehbuch nach HU Xuewens Novelle »Der laufende Mondschein«,
die mit dem renommierten Lu-Xun-Literaturpreis ausgezeichnet wurde. Bei einem Bauernpaar (CHEN Jianbin auch in der Hauptrolle), das schon genug Probleme hat, nistet sich ein Fremder ein. Wie diesen »Fool« (der sich als geistig Behinderter herausstellt) loswerden? In dieser in Chinas Nordwesten angesiedelten Tragikomödie geht es um das Spannungsfeld Menschlichkeit und Mammon, nicht zuletzt schwarzhumorig. Der Typus des Verrückten hat in der chinesischen Literatur, u.a. beim
Namensgeber des Literaturpreises Lu Xun (»Tagebuch eines Verrückten«), durchaus Tradition. Auf dem 51. Golden Horse Festival in Taiwan gewann der Film Preise für bestes Regiedebüt und bester Hauptdarsteller, in Peking den Goldenen Hahn 2015 (bestes Regiedebüt). An beiden Vorführtagen wird CHEN Jianbin anwesend sein, vor der Eröffnung am 25.05. im Rahmen einer Masterclass und am 27.05. um 19:00 zu einer Podiumsdiskussion gemeinsam mit seiner Ehefrau (im Film wie im Leben), der
Schauspielerin JIANG Qinqin sowie der Filmkritikerin CHEN Yanhui.
Menschlichkeit ist auch Thema in Norjmaa (诺日吉玛, 2014; Fr., 27.05., 21:00 Uhr) des Regisseurs Bayaneruul. Norjmaa, eine Hirtin, verkörpert von der mongolischen Schauspielerin Badema (Goldener Hahn 2015), findet während des Zweiten Weltkriegs in der mongolischen Steppe verwundete Soldaten:
einen japanischen und einen russischen. Trotz ihrer Versehrtheit lassen die beiden nichts unversucht, sich gegenseitig an die Gurgel zu springen, was komischer Momente keinesfalls entbehrt.
Frappierend ist dieses Jahr der häufige Blick zurück auf das China der 1990er. Als käme die Jugend von damals erst jetzt verstärkt zum Innehalten. So adaptiert die inzwischen mehrfach mit Preisen bedachte LI Yu mit Ever Since We Love (万物生长, 2015; Do., 26.05. und So., 29.05., jeweils 20:00 Uhr) den semiautobiografischen, erfolgreichen Roman TANG Fengs »Everything
Grows« (2001). (Feng Tang gehört auch zu den Schriftstellern, die in Peking kürzlich mit Bundespräsident Joachim Gauck zusammentrafen.) Nach kontroversen Themen wie lesbische Beziehungen, Teenager-Schwangerschaft oder Migrantenschicksale in LI Yus früheren Werken Fish and Elephant (2001), Dam Street (2005) und Lost in Beijing (2007) reiht sich die Regisseurin nach den Erfolgen Buddha
Mountain (2010) und Double XPosure (2012) mit diesem Blick auf turbulente Studentenzeiten während der Öffnung in den 1990ern in den derzeit populären Coming-of-age-in-the-90s-Trend ein. Zur Stammbesetzung gehört bei LI Yu auch hier wieder die Star-Schauspielerin FAN Bingbing.
JIA Zhangkes neuestes Werk Mountains May Depart (山河故, 2015;
Sa., 28.05. und So., 29.05., jeweils 17:00 Uhr) führt diesen filmischen Rückblick fort. Der achte Spielfilm des Carosse d’Or- und Löwen-Preisträgers setzt 1999 ein, mit Disco Dancing zum internationalen Ohrwurm der 90er, »Go West von den Pet Shop Boys. Eine klassische Dreieckskonstellation: zwei junge Männer, verliebt in die gleiche Frau, Tao (gespielt von ZHAO Tao). Ein Kind, das den Namen ›Dollar§ trägt ... Der Regisseur (u. a. Goldener Löwe 2006 für Still Life, bestes Drehbuch 2013 in Cannes für A Touch of Sin, 2013) zeichnet die Emotionen und Beziehungen im Zusammenspiel mit äußeren Faktoren wie der wirtschaftlichen Entwicklung auf – über Räume hinweg und selbst über die Gegenwart hinaus bis ins Jahr 2025.‹«
Weiter zurück in die chinesische Geschichte geht es mit den diesjährigen Martial-Arts-Filmen: Mit dem bildpoetischen The Assassin (刺客聂隐娘 2015; Do., 26.05., 17:00 Uhr) brillierte HOU Hsiao-Hsien bereits bei den 68. Filmfestspielen von Cannes (beste Regie). Ein Vergleich seines ersten, jahrelang vorbereiteten Films im Wuxia-Genre mit
anderen großen Filmen dieser Kategorie wie Ang Lees Tiger & Dragon (2000) oder auch ZHANG Yimous Hero (2002), House of Flying Daggers (2004) oder Der Fluch der goldenen Blume (2006) drängt sich natürlich auf, gleichsam darf man gespannt sein auf die unverkennbar andere, subtile Handschrift, die HOU Hsiao-Hsien auszeichnet. Mit 10 Jahren wird NIE Yinniang (Shu Qi) entführt und von einer Meisterin in den Kampfkünsten ausgebildet, genauer: zu einer Attentäterin. Ziele der Auftragsmorde sind die Widersacher der Tang-Dynastie. Da die
Auftragskillerin einen Job nicht bis zum bitteren Ende führt, muss sie sich erneut beweisen: Als Opfer wird ihr Cousin auserkoren, dem sie in ihrer Kindheit eng verbunden und zur Frau versprochen war. Eine trainierte Killerin, die doch, und sei es nur im letzten Moment, Zweifel hegt, an ihre menschlichen Grenzen stößt, sich des Opfers erbarmt? – Ein interessantes Szenario, über das 9. Jahrhundert hinaus. Dieser Kampfkunst-Augenschmaus wird zusätzlich in Kooperation mit dem
Filmclub der TU auch in der Technischen Universität gezeigt (So., 29.05., 20:00 Uhr).
Der zweite Martial-Arts-Film holte bei den Golden Horse Awards 2015 in Taiwan den Preis für beste Choreografie und stammt von Regisseur XU Haofeng, der diese Kunst selbst praktiziert. The Master (师父, 2015; Sa., 28.05., 20:00 Uhr) ist Kampfkunst-Action verknüpft mit den tieferen historischen und
philosophischen Aspekten des Win Chun. Der Film basiert auf der von XU Haofeng verfassten gleichnamigen Erzählung, die im 19. Jahrhundert verankert ist. Zusammen mit Wong Kar-Wai schrieb XU Haofeng u. a. bereits an The Grandmaster (2013) mit. Hauptdarsteller Liao Fan ist seit dem Silbernen Bären bei der Berlinale 2014 für seine Leistung in Feuerwerk am helllichten Tage (2014) auch hier bekannt.
Aus saisonalen Kinohits lernen wir leicht etwas über anderer Länder wichtige Feste, Bräuche und Familienleben. So sind uns inzwischen Truthähne, wetterprognostizierende Murmeltiere oder schauderhaft hässliche handgestrickte Weihnachtspullis bestens vertraut. Was chinesische Feste angeht, lässt sich mit The New Year’s Eve of Old Lee (过年好, 2016; Sa., 28.05.,
14:00 Uhr) vielleicht eine Lücke schließen. In Großvater Laolis traditionellem Haus im Nordosten Chinas versammeln sich drei Generationen zum chinesischen Neujahrsfest: Konflikte und das Verhandeln alter und neuer Wertvorstellungen vorprogrammiert. Regisseur GAO Qunshu, bisher eher auf Thriller und Detektivfilme spezialisiert (The Message, 2009, Beijing Blues/Detective Hunter Zhang, 2012, Crimes of
Passion, 2013), nimmt sich hier des »Hesui-Films« (Neujahrsfilms) an und engagierte für die Rolle des Großvaters den populären Komiker ZHAO Benshan.
Um das Verhältnis zu erwachsenen Kindern geht es auch im Familiendrama Everybody’s Fine (一切都好, 2016; Do., 26.05., 14:00 Uhr) von ZHANG Meng, nur muss der Vater hier zu seinen Kindern fahren, da sie zum
Familientreffen erst gar nicht kommen. Erst nach dem Tod seiner Frau wird er sich überhaupt der Entfremdung in der Familie bewusst.
Am letzten Tag des Filmfestes läuft der Beitrag Chinas zur Liste der besten fremdsprachigen Filme für die Oscars 2015 und Gewinner des Golden Angel Awards beim Chinese American Film Festival (CAFF). Neben A Fool und Ever Since We Love ist Go Away Mr. Tumour (滚蛋吧!肿瘤君, 2015; So., 29.05., 14:00 Uhr) von HAN Yan eine weitere Literaturverfilmung im diesjährigen Programm. Sie folgt dem Comic-Bestseller der Zeichnerin XIONG Dun, die gegen den Krebs kämpfte, darüber öffentlich mit viel Humor und Zuversicht berichtete und mit knapp 30 Jahren 2012 verstarb.
Chinesischen Filmfest München – 25. bis 29. Mai 2016.