Der menschliche Faktor |
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Folge dem rosa Hasen: Regeln am Band, mit hoher Geschwindigkeit | ||
(Foto: Lokshina / DOK.fest München @home) |
Von Nora Moschuering
Jetzt ist es wieder kalt und nass geworden. Ich checke schon seit – ich weiß nicht mehr seit wann – die Wetter-App nicht mehr, weil das Wetter so ein bisschen unwichtig geworden ist, genauso wie die Wochentage. In meiner Erinnerung ist das Wetter während des DOK.fests oft schön, das ist gut fürs Open-Air, für Kinovorführungen nicht unbedingt. Was das Wetter in diesem Jahr für das DOK.fest bedeutet, bleibt abzuwarten, genauso wie die Lockerung der Corona-Ausgangsbeschränkungen. Nachzuprüfen ist das ohnehin nicht.
Ich frage mich, wie viele Menschen das sogar recht gut finden: Das Zuhausegucken. Keine Karten besorgen, nicht anstehen müssen, die zeitliche Flexibilität, das Pause-Drücken, den Döner nebenbei, das Ungesprächig-Sein, das Selbstgesprächeführen, das Vorwärtsscrollen und das Abbrechen.
Außerdem kann man jetzt an »mehreren Orten« gleichzeitig sein. Zum ersten Mal bin ich dieses Jahr bei den Oberhausener Kurzfilmtagen (13.–18. Mai, online. Sie stellen Slots für jeweils 48 Stunden zur Verfügung. Auch eine Möglichkeit). Mach ich beides: DOK.fest und Oberhausen und daneben guck ich auch die Live-Streams und Filme der ZKM-Ausstellung bauhaus.film.digitally.expanded (voraussichtlich noch bis zum 17.05. online). Vielleicht »funktionieren« Filmausstellungen online sogar besser – nicht unbedingt die ZKM-Ausstellung, denn hier waren große konzentrierte Projektionen geplant – aber allzu oft bewegt man sich in Videokunst-Ausstellungen von einem unattraktiven Fernsehbildschirm mit Kopfhörer zum nächsten, guckt kurz rein und parallel noch auf ein anderes bewegtes Bild in der Nähe, man weiß nicht, an welcher Stelle im Film man sich befindet und es warten noch zehn weitere Videos, die einen unter Druck setzen.
Auch bei »Visions du Réel« (24.04.–02.05.20) in Nyon war ich zum ersten Mal und habe dieses Jahr Filme und Masterclasses (Claire Denis, Peter Mettler, Petra Costa) angeschaut. Das hat Spaß gemacht, auch wenn z.B. bei Peter Mettler der akustische Sog und seine visuelle Energie irgendwo auf meinem 13 Zoll Bildschirm verlorengegangen sind.
Natürlich freue ich mich wieder auf die Öffnung der Kinos. Aber bis es so weit ist, guck ich online, jetzt eben auch das Programm des DOK.fest Münchens.
Baustellen wirken auf mich sehr anziehend, ganz besonders wenn etwas abgerissen wird oder in monumentale Tiefen wächst, wie die Löcher um den Hauptbahnhof in Stuttgart. Da kann ich stundenlang stehen, zusammen mit den kleinen Kindern, die einen Krippenausflug machen. Nun ist es mit den Baustellen aber so, dass sie nur so lange faszinierend sind, so lange sie sich nicht in der eigenen Wohngegend befinden. Ähnlich ist es mit den Autobahnbrücken. Der Film Autobahn (verfügbar vom 16.–22.05.) von Daniel Abma begleitet acht Jahre lang einige Bewohner von Bad Oeynhausen, einem Kurort mit der Attraktion einer eigenen Autobahn, die mitten durch den Ort führt. Ein graues Nadelöhr auf der Fahrt von Amsterdam nach Warschau. Die geplante und während des Films gebaute Nordumgehung soll Abhilfe schaffen. Der Film zeigt Politik, die zwischen Allgemeinwohl und Einzelinteressen entscheiden muss, einen Bürgermeister, der an einem von ihm maßgeblich durchgesetzten Projekt scheitert, ein älteres Ehepaar, das die Laster zählt, die die Erde aus der Grube neben der Wiese in ihrem Haus holen, oder eine ältere Dame, deren Wollladen direkt an der Stadt-Autobahn liegt, und ihr Häuschen in der Nähe der neuen Umgehungsstraße. Liebevoll zeigt er ruhige und auch aufgebrachte Menschen, die nach oben ins Grün blicken, und versuchen, den Beton zu ihren Füßen zu ignorieren. Leute, die auf der leeren Autobahn ihren Dackel spazieren führen, und Leute, die Auto fahren und tanken. Graffitis sind immer wieder Thema und der Jesus-lebt-Mann, den die ganze Sache auf ganz andere Art und Weise betrifft: Er muss sich bald eine neue Straße mit viel Verkehr, aber geringer Geschwindigkeit suchen. Schön, aber auch ein wenig melancholisch ist das. Der Film ist leider zu früh zu Ende, er endet bei der Autobahneröffnung. Schade, man hätte doch gerne gesehen, wie es sich entwickelt, an beiden Straßen, besonders für die Anwohner, die man kennengelernt hat.
Um die gesellschaftliche Verantwortung von Unternehmen drehen sich Automotive von Jonas Heldt und Regeln am Band, bei hoher Geschwindigkeit (begrenzt auf 300 Tickets) von Yulia Lokshina, wie Autobahn Filme des Student Awards. Man kann/sollte sie auch mit Sicht auf Adidas' zeitweiser Einstellung der Mieten oder ausgeschütteter Renditen an Aktionäre der Automobilindustrie oder dem fast leistungsfreien und stetigen Geld-Zuwachs von Immobilienbesitzern betrachten und dem Ausbruch des Corona-Virus im Umfeld von Schlachtbetrieben.
Die Leiharbeiterin eines Audi-Logistikers, Sedanur, ist ein Glücksfall für Automotive – Work Audi Future. Sie hat eine so offene, herzliche und ehrliche Art zu sprechen, wie ich es selten erlebt habe. Sie liebt Autos (es ist ja nicht so, dass die Objekte und ihre Erzählungen nicht auf uns zurückwirken) und kann sich nicht vorstellen, wieder Kindergärtnerin zu werden. Die Headhunterin Eva ist die andere Seite – wobei sich die beiden über den Film immer mehr annähern, d.h. dass sich ihre Arbeitsleben ähnlicher sind, als sie zu Beginn scheinen – über Eva tritt man in den Arbeitsalltag einer Freelancerin ein und erfährt nebenbei auch etwas über Fachkräfte. Zwischen diesen beiden Frauen immer wieder Found-Footage aus der Zeit der »sozialen Moderne« und des »Postwachstumskapitalismus«, wie es Oliver Nachtwey in Die Abstiegsgesellschaft nennt. Einer Zeit mit Vollbeschäftigung und zumindest der Möglichkeit des sozialen Aufstiegs durch Arbeit. Laut Nachtwey befinden wir uns heute in der »regressiven Moderne« und laut einer Forschungsunion auf dem Weg zur Industrie 4.0: Roboter fahren durchs Bild, eine Drohne fliegt mit einem Lenkrad vorbei. Sie »arbeiten« neben dem Gewerkschaftler Gerhard von der IGM, der versucht, die Menschen von der Notwendigkeit des gewerkschaftlichen Zusammenschlusses zu überzeugen – in Zeiten von Leiharbeit wichtiger, aber eben auch schwieriger denn je. Interessant wird es aber auch da, wo etwas mehr gezeigt wird, die Kamera vorher läuft und später rausgeht, wenn beispielsweise PR-Leute von Audi reinsprechen oder ein Text vorgelesen wird. Automotive ist ein so harter wie witziger Film und er hat tatsächlich so etwas wie ein Happy End.
Um die Fleischindustrie geht es bei Regeln am Band, bei hoher Geschwindigkeit, eine Industrie aus deren Inneren es noch weniger Bilder gibt als aus der Automobilindustrie. Regeln am Band ist rauer als Automotive, aber auch verspielter und experimenteller. Er hat dafür beim diesjährigen Filmfestival Max Ophüls Preis den Preis für den »Besten Dokumentarfilm« bekommen. Der Film beginnt mit Schweinen in grün, die bei Cembalo-Musik ihr bürgerliches Biedermeier erleben, während von Stanislavs Tod erzählt wird, der in eine Maschine gezogen wurde oder sich vielleicht ziehen hat lassen. Es geht um Tönnies, Deutschlands größter Schlachtbetrieb für Schweine in Rheda-Wiedenbrück und viele südosteuropäische Arbeiter, die häufig von Subunternehmen angestellt sind und deren Arbeits- und Wohnbedingungen an Ausbeutung grenzen. Es geht auch um die Rheda-Wiedenbrückerin Inge, die versucht, daran etwas zu ändern. Sie setzt sich für Leiharbeiter ein und führt viele Gespräche mit ihnen über ihre Situation, sie spricht für sie vor dem Stadt-Podium oder vor dem Integrationsrat. Daneben stehen – als eine Art theoretische Untermalung oder Metaebene, – die Proben zu dem Theaterstück »Die heilige Johanna der Schlachthöfe« (1931) von Bertolt Brecht, Elisabeth Hauptmann und Emil Burri an einem Münchner Vorort-Gymnasium. Wie kann man eine Vorstellung davon bekommen, wie hart die Arbeit wirklich ist? Den Schülern fällt es schwer, sie sind weit davon entfernt, das macht ein Ungleichgewicht auf, das aber interessant ist. Vielleicht ist ja gerade der Dokumentarfilm dafür da, solche Lücken zu schließen. Denn wie Brecht schreibt: Das Unglück ist nicht wie der Regen, man muss die Verhältnisse nicht akzeptieren, man kann sie ändern. Der Film fragt auch danach, wer etwas ändern muss: Die Gesellschaft, der Konsument, die Politik oder auch die Unternehmen.
Neben den drei Filmempfehlungen möchte ich kurz über einen Film schreiben, der mich geärgert hat: Fortschritt im Tal der Ahnungslosen von Florian Kunert. Der Film hat seine Runden gemacht und wurde z.B. auch bei der Duisburger Filmwoche kontrovers besprochen. Das Protokoll findet man hier. Vom DDR-Kombinat »Fortschritt Landmaschinen« stehen nur noch einige Ruinen, in ihnen führt der Regisseur ehemalige Kombinats-Mitarbeiter mit syrischen Geflüchteten zu einer Art »Kennenlernkurs« zusammen. Oder so. Grundidee schon fragwürdig: Ach wegen Pegida in Dresden – wie zu Beginn kurz angeschnitten wird? Zur Ursachenforschung? Um Verständnis auf beiden Seiten zu erzeugen? Weil die zu integrierenden die Vergangenheit kennen müssen? Oder gar weil beide Seiten Verlusterfahrungen haben? Dass die DDR etwas mit Syrien zu tun hatte, wäre ein interessanter Anknüpfungspunkt gewesen, der aber nicht weiter verfolgt wird. Und dann guckt man da zu: Die Geflüchteten spielen Krieg in den Ruinen oder reenacten den morgendlichen Schulappell in der DDR. Die Protagonisten werden wie Statisten durch die Kulissen geführt und zu bestimmten Themen irgendwohin drapiert. Sucht Kunert nach Klischees? Inszeniert er sie, um durch die Überhöhung etwas zu zeigen oder aufzubrechen. Vielleicht so? Soll das eine Groteske sein? Eine Satire? Mir ist das unangenehm und den Protagonisten oft auch. Zu allem Überfluss werden auch noch ein paar ältere Herrschaften in Wiesen gestellt, um Lieder aus der »alten« Zeit zu singen, oder es wird wirklich »Auferstanden aus Ruinen« unter eine Kamerafahrt durch das alte Werksgelände gelegt. Dann noch mal, um die eigene Bedeutung zu unterstreichen: Eine Pegida-Demo. Weil die beiden freundlichen Herren, äh was sind? Auch Ostdeutsche? Alle sind Schauspieler für eine vage Idee von etwas, die aber nicht funktioniert. Im Gegenteil, der Filmemacher hätte nach einzelnen Szenen sehen können, dass die Menschen und ihr Leben interessant genug sind, all ihre Erfahrungen und die gegenseitige zaghafte »wirkliche« Annäherung besser wären, als seine Inszenierungs-Ideen. Der Film will insgesamt versöhnlich sein, das ist schon sein anerkennenswerter Grundtenor, z.B. wenn zum Schluss die Geflüchteten und die alten Herren gemeinsam Trecker fahren und Ballons fliegen lassen, dann soll das optimistisch wirken. Es wirkt aber albern und so, als wollte hier jemand auf Teufel komm raus seinen Film durchinszenieren, alles andere ist ihm egal.
Aber das ist es ja dann auch, was Festivals ausmacht: Gutes und Schlechtes, Diskursives und Fragwürdiges, Spannendes und Langweiliges, vielleicht eben auch Versuche, die scheitern. Nachgedacht habe ich über den Film zumindest viel und wie schon geschrieben: Bei @home kann man machen was man will: Ausmachen, ein Gewürzregal zusammenschrauben ... und sich nach einer Pause wieder an den nächsten Film setzen.