08.04.2021
Lovemobil-Debatte

Die Debatte in der Debatte

Liebe Leserinnen und Leser
Für uns noch kein Schnee von gestern
(Grafik: Lehrenkrauss / NDR / artechock)

Die Lovemobil-Debatte geht weiter: Zu unserem Special zu Lovemobil und als Reaktion auf das Interview mit der Regisseurin Elke Lehrenkrauss haben uns Zuschriften erreicht, die wir hier öffentlich machen wollen – auch, weil wir uns redaktionsintern ebenfalls die Köpfe heiß diskutiert haben

Von Redaktion

Zu unserem Special zu Lovemobil und als Reaktion auf das Interview mit der Regis­seurin Elke Lehren­krauss haben uns Zuschriften erreicht, die wir hier öffent­lich machen wollen – auch, weil wir uns redak­ti­ons­in­tern ebenfalls die Köpfe heiß disku­tiert haben

Hier der Inhalt unseres Dossiers im Überblick:

  1. Brief an unsere Leser*innen
  2. Offener Brief von Quinka Stoehr
  3. Zuschrift von Manfred Tausch
  4. Antwort von Grit Lemke

1. Brief an unsere Leser*innen

Liebe Lese­rinnen und Leser,

endlich wieder eine Debatte, bei der es nicht um Corona geht! Und sogar eine Debatte, in der über den Doku­men­tar­film gestritten wird, dieser so oft auf das Thema redu­zierten Kunstform.

Jetzt geht es plötzlich um das Wesen und die Grenzen des Doku­men­tar­films, als befänden wir uns mitten in den 1970er Jahren, als es das Bewusst­sein gab: das Ästhe­ti­sche ist politisch. Ihr wisst schon (mit Godard): nicht poli­ti­sche Filme, sondern Filme politisch machen.

Noch vor Godards Zeit wurde das „Direct Cinema“ geprägt, ein Begriff, der jetzt, im Zuge der Lovemobil-Debatte, plötzlich in aller Munde ist. „Die Fliege an der Wand“ ist seitdem nichts mehr, was man totschlägt, sondern die Art, wie man filmt, wenn man „Direct Cinema“ macht: sie steht für die nicht merkliche Position des Filme­ma­chers.

Elke Lehren­krauss hat sich in Lovemobil diametral zur Idee des „Direct Cinema“ verhalten. Ihr gehe es nicht um das unmerk­liche Filmen des Vorge­fun­denen, sondern um die „authen­ti­schere“ Wirk­lich­keit, die sie in Recher­chen erfahren habe, sagt sie. Sie stellt also in Frage, dass es bei Lovemobil um den Gegensatz von Fiktion und Realität geht, wie es jetzt immer wieder heißt, weil sie reale Bege­ben­heiten nach­in­sze­niert hat. Entschei­dend in dem „Skandal“ um ihren Film aber ist nicht sein Verhältnis zur Wirk­lich­keit oder zur Wahrheit, sondern allein, dass Lehren­krauss ihr Verfahren nicht trans­pa­rent gemacht hat. Darin ist sich die Doku­men­tar­film­szene weit­ge­hend einig. Dazu hätte es viele Möglich­keiten gegeben, auch jenseits von Einblen­dungen à la „Aktzen­zei­chen XY ungelöst“ („nach­ge­stellte Szene“) oder die ausge­blie­bene Aufklärung im Gespräch.

Lovemobil wird im Gegenteil vorge­worfen, allein deshalb „gefaked“ zu sein, weil der trüge­ri­sche und nicht demen­tierte Eindruck entstand, es mit einem höchst kunst­vollen Doku­men­tar­film zu tun gehabt zu haben. Verein­zelt ploppt jetzt in der Debatte um „Wahr­haf­tig­keit“, „Realität“, „Authen­ti­zi­tiät“ und „Wirk­lich­keit“ des Doku­men­tar­films auch die Frage nach der Verant­wor­tung der Fern­seh­re­dak­tionen auf, die sie gegenüber (jungen) Filme­ma­cher*innen haben, und auch die Frage nach der Verant­wort­lich­keit gegenüber den Projekten. Denn Fachleute haben durchaus schon vorher den Anteil der Insze­nie­rung bei Lovemobil disku­tiert.

Weil wir darauf ange­spro­chen wurden: Die Position von artechock ist weder »in dubio pro reo« noch Inqui­si­tion, ist weder vorur­teils­ge­trieben noch naiv. Wir sind neugierig und beleuchten deshalb den „Fall“ Lovemobil in seinen vielen Aspekten.

So kommt bei uns auch die Filme­ma­cherin Elke Lehren­krauss in einem ausführ­li­chen Interview selbst zu Wort, anders als in den Diskus­si­ons­runden von NDR und AG DOK, wo über sie verhan­delt wurde, ohne dass sie sich erklären konnte.

Trotz dieser – in unseren Augen – sehr jour­na­lis­ti­schen Vorge­hens­weise hat uns nun die Kritik erreicht, unser Interview wäre nicht mit gebotener Neutra­lität geführt worden, mit der Regis­seurin sei zu sanft umge­gangen, ihr wären die Antworten einfach abgenickt worden. Auch redak­ti­ons­in­tern haben wir die Qualität des Inter­views kontro­vers disku­tiert, am Ende aber vertei­digen wir es.

Unsere Über­le­gungen dazu: Ein Interview oder »Gespräch«, wie das Lehren­krauss-Interview zwei Mal von uns gelabelt wird, muss nicht neutral, muss weder kritisch noch inqui­si­to­risch sein. Es darf genauso gut affir­mativ und wohl­wol­lend sein. Zudem sind die Gesprächs­füh­renden keine Jour­na­listen, wie dem Vorspann zu entnehmen ist; damit ist auch nicht zwingend ein jour­na­lis­ti­sches Interview zu erwarten – wie auch immer man das defi­nieren wolle.

Unserer Ansicht nach führt das (auto­ri­sierte) Gespräch – auch wenn man nicht allen Ausfüh­rungen der Regis­seurin folgen will und man sich viel­leicht darüber ärgern mag, dass die Inter­view­enden nicht mehr „Biss“ hatten – sehr gut das Patt bei Lovemobil vor. Es zeigt auf, dass hier Aussage gegen Aussage steht. Die Schwie­rig­keiten einer Branche treten deutlich zutage, mit dem Miss­ver­hältnis prekär arbei­tender Filme­ma­cher*innen, die nach Ansicht der Fern­seh­re­dak­tionen froh sein sollen, ihre Projekte reali­sieren zu können. Zwischen den Zeilen der Debatte offenbart sich so auch der Gap zwischen den fest­an­ge­stellten Redakteur*innen des öffent­lich-recht­li­chen Fern­se­hens und den frei und prekär arbei­tenden Filme­ma­cher*innen. Und da wird die Debatte auf einmal sehr umfassend.

Als Redaktion möchten wir dazu trans­pa­rent sein. Hier lest Ihr die Zuschriften, die uns erreicht haben. Wir begrüßen ausdrück­lich die Einmi­schung unserer Leser*innen und auch, dass jetzt sogar um die jour­na­lis­ti­sche Aspekte des Inter­views gestritten wird. Wir brauchen mehr Diskus­sionen, nicht über den Inhalt, auch über die Form! Denn erst das Nach­denken über die Form schafft das kritische Bewusst­sein, und in diesem Geiste betreiben wir hier auf artechock auch Film­kritik.

Eure artechock-Redaktion

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2. Offener Brief von Quinka Stoehr

Per E-Mail am 1. April 2021

Zum Begriff der „Direct Cinema Polizei“ – wider die Umkehrung der Verhält­nisse

»Das ist wirklich absurd, dieses fehlende Grund­ver­s­tändnis doku­men­ta­ri­scher Arbeit. (...) und dass eine „Direct Cinema Polizei“ ein Insze­nie­rungs­verbot in den Raum stellt. Dagegen wehre ich mich nicht nur als Filme­ma­cherin, sondern auch als Kuratorin. Wenn es nur noch eine Art von Doku­men­tar­film geben soll, wie lang­weilig wären die Festivals und unsere Kino­land­schaft!«

Zit. nach Grit Lemke aus dem Interview mit Elke Lehren­krauss

Liebe Grit Lemke,

niemand will nivel­lierte Doku­men­tar­filme, niemand spricht von Insze­nie­rungs­verbot und keiner bestreitet – jeden­falls habe ich es nicht gelesen – dass ALLE Doku­men­tar­filme konstru­ierte Wirk­lich­keiten sind. Aber Sie bringen den Begriff der „Direct Cinema Polizei“ auf und meinen damit wohl Filme­ma­cher*innen, die in der Diskus­sion auf diese Filmform explizit hinge­wiesen haben.

Eine davon bin ich. Deshalb nehme ich Stellung.

Ich habe Klaus Wilden­hahn zitiert, um deutlich zu machen, dass es im Doku­men­tar­film gar nicht um Objek­ti­vität geht, sondern dass Filme­ma­cher*innen eine Haltung einnehmen müssen, und ich habe ihn zitiert, um auf das Problem aufmerksam zu machen, was hinter der Proble­matik mit Lovemobil steht: Der durch­in­sze­nierte Doku­men­tar­film, der (melo-)drama­ti­siert und mit einer Drama­turgie und Ästhetik wie im Spielfilm arbeitet, aber wie Direct Cinema daher­kommt. Von diesen Filmen sprach ich, die von Förde­rungen, Festivals und Sendern gewünscht sind – übrigens schon lange. Bloß dass diese Techniken sich stetig verfei­nern. Diese Filme leben davon, dass sie etwas vorgeben/ verschleiern, was sie nicht sind und der/ die (ungeübte) Zuschauer*in glaubt, es sei so gewesen. Diese Filme nähern sich dem Spielfilm immer weiter an und wollen aber als Doku­men­tar­film erscheinen und werden auch explizit so beworben und vorge­stellt.

Die Kritik richtet sich also nicht an Filme, die mit Insze­nie­rungen arbeiten und diese trans­pa­rent machen, sondern an all die Filme, die ihre eigent­liche Machart verschleiern und die Methode des Direct Cinema vorgeben. Zum Spiel gehört, dass die Filme­ma­cher*innen sich hinterher hinstellen und lang und breit darüber berichten, wie authen­tisch alles ist und ihre Insze­nie­rungen hinter einer Wand des Schwei­gens und manchmal des Lügens verste­cken – und hier sind wir bei Lehren­krauss. Die Stärke von Lovemobil lag ja für die meisten Zuschauer*innen darin, dass sie geglaubt haben, sie wären Zeuge authen­ti­scher Situa­tionen und würden »echte« Menschen und ihre Geschichte(n) kennen­lernen. Nur geübte Zuschauer*innen, Menschen vom Fach hätten die Insze­nie­rungen erkennen müssen, wobei auch für sie nicht absehbar sein konnte, dass diese Prot­ago­nist*innen Darsteller*innen waren.

Zurück zum Begriff der „Direct Cinema Polizei“, er impli­ziert Macht sowie Durch­set­zungs­kraft und Repres­sion im Sinne von Herr­schaft.

Aber Direct Cinema war nie die gängige, herr­schende Methode, war immer abseitig und in der Nische, eher subversiv, lief den Sehge­wohn­heiten entgegen und dem Wunsch – wie Wilden­hahn sagte – nach der Sinfonie zuwider: Und auch Leacock erzählte immer wieder: »Niemand wollte unsere Filme, die Leute hassten sie, nur wir wollten sie, weil wir sahen, was wir alles damit erzählen konnten.« Die Ameri­kaner revo­lu­tio­nierten das Doku­men­tar­film­kino und wurden dennoch nie Main­stream. Der Main­stream nahm sich, was er davon brauchen konnte und zog weiter.

Auch Klaus Wilden­hahn und Gisela Tuch­ten­hagen hatten immer mit Wider­s­tänden zu kämpfen, wobei Wilden­hahn einen Redak­teurs­posten innehatte und jedes Jahr einen Film machen konnte. Aber die Filme wanderten vom 1. ins 3. Programm und dann in die Nacht. Als ich als Film­stu­dentin an der HfbK in Hamburg studierte (ab 1990), hieß es als gut gemeinter Tipp: Schreib nie in ein Exposé, dass du mit der Methode des Direct Cinema arbeiten willst, dann bekommst du kein Geld. Tuch­ten­hagen, die Grimme-Preise und den Preis der Akademie der Künste erhielt, bekam anschließend jahrelang kein Geld von Förde­rungen und Sendern. Daher arbeitete sie zunehmend als Kame­ra­frau und drehte Filme ohne Finan­zie­rung.

Wenn Sie also jetzt von „Direct Cinema Polizei“ sprechen, dann ist das eine Umkehrung der Situation:

An den Geld­töpfen in den Sendern, bei den Film­för­de­rungen sitzen über­wie­gend Menschen, die genau solche Filme wollen wie Lovemobil, aber sie wollen, dass die Insze­nie­rungen nicht auffliegen bzw. sich in einem Rahmen abspielen, bei dem alle mitmachen und sich keiner beschwert. Ohne die Cutterin wäre nichts passiert und Elke Lehren­krauss könnte weiter erzählen, wie sie die intimen Situa­tionen herstellen konnte, und wie toll es ist, dass die Prot­ago­nist*innen den Absprung von der Prosti­tu­tion geschafft haben – wahr­schein­lich durch den Film. Nur deshalb konnte sie guten Gewissens den Preis annehmen – so Lehren­krauss in einem ihrer vielen Inter­views, wo sie die Authen­ti­zität des Filmes explizit immer wieder heraus­stellte.

Zurück zum Bild der Direct-Cinema-Polizei:

Wenn jetzt eine seit langer Zeit fällige Diskus­sion über Grenzen von (verschlei­erten!) Insze­nie­rungen beginnt, dann sind die Macht­ver­hält­nisse so verteilt, dass Verfechter*innen einer offenen Filmform, Vertreter*innen von essay­haften Filmen, Über­zeu­gungs­filmer*innen von Direct-Cinema-Filmen usw. nach wie vor in der Minder­heit sind und es bestimmt auch bleiben werden.

Dennoch – auch wenn die Verhält­nisse (zunächst) so bleiben, wie sie sind, ist es ein Anfang einer Erosion – die uns, wenn wir nicht aufpassen, alle wegfegt, denn Glaub­wür­dig­keit ist die Währung im Doku­men­tar­film.

Ich hoffe auf eine ehrliche Bestands­auf­nahme.

In diesem Sinne, es lebe der Doku­men­tar­film und seine Vielfalt!

P.S. Klaus Wilden­hahn und Gisela Tuch­ten­hagen waren meine wich­tigsten Lehrer. Meine Filme arbeiten mit unter­schied­li­chen Methoden und Macharten, dazu haben mich beide bei Ausein­an­der­set­zungen über meine Film­ar­beit immer bestärkt: den eigenen Zugang zu finden, auch in der filmi­schen Form.

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3. Zuschrift von Manfred Tausch

Per E-Mail am 1. April 2021, Veröf­fent­li­chung mit Geneh­mi­gung

Sehr geehrte Damen und Herren,

ich ärgere mich zutiefst über die Art und Weise Ihres Umganges mit der Lovemobil-Thematik. Ihrem Interview mit Elke Lehren­krauss fehlt jegliche kritische Distanz.

Aus dem Interview: GL: Letzt­end­lich hast du genau das geliefert, was die Öffent­lich­keit sehen will.

Aus einer sehr film­aka­de­mi­schen Perspek­tive dekon­stru­ieren Sie zusammen mit Lehren­krauss Begriffe der Doku­men­tar­film­pä­d­agogik und drehen sich mit der Filme­ma­cherin im Kreis. Das Interview liest sich wie ein Showcase der Binnen­logik des post­fak­ti­schen Doku­men­tar­filmes. Inter­es­sant ist dabei, was von Ihnen wegge­lassen bzw. ignoriert wird.

Sätze wie Lehren­krauss' selbst­ent­lar­vender Satz zur authen­ti­scheren Realität, Sätze wie »sowas ist so echt, das kann man sich ja gar nicht ausdenken« (ein Schnipsel aus dem STRG_F-Beitrag) und das mitt­ler­weile fast auch schon geflü­gelte »Wenn er sagt, es ist echt, dann ist es auch echt«, kenne ich als Allge­mein­plätze von Doku­men­tar­film­po­dien oder aus Post­pro­duk­ti­ons­stäten. Ich nenne die oftmals zugrun­de­lie­gende künst­le­ri­sche Haltung in Anlehnung an Donald Trump post­fak­tisch. Natürlich gibt es verschie­dene Auffas­sungen zur Realität und zur Doku­men­ta­ri­schen Arbeit.

Aller­dings: Jene post­fak­ti­schen Filme­ma­cher machen aus anderen Gründen keine authen­ti­schen Doku­men­tar­filme: Sie sind, wie Elke Lehren­krauss auch, selbst nicht authen­tisch. Sie versuchen in ihren Gesprächen über die eigenen Filme die Realität nach Kräften zu beugen, Begriffe bis zur Inhalt­lo­sig­keit zu dekon­stru­ieren und etwas zu verkaufen, was einfach nicht der Fall ist. Sie können hier mit Begriffen operieren, wie Sie wollen: Die Damen waren einfach keine Prosti­tu­ierten in diesen Wohnwagen. Und der Film heißt LOVEMOBIL. Egal, wie viele Begriffe aus dem Dokfilm­se­minar sie gebraucht – FAKE! Selbst eine routi­nierte Lebens­lü­g­nerin wie Lehren­krauss wird von den Auswir­kungen derar­tiger Unge­reimt­heiten heim­ge­sucht.

»Naja, ich habe das, was ich insze­niert habe, wirklich so erlebt – nur mit anderen Prot­ago­nist/innen, um mich vor mir selbst zu recht­fer­tigen. Das fühlte sich alles richtig schlecht an. Ich habe es dann aber durch­ge­zogen, weil ich es irgendwie nicht mehr sagen konnte. Ich hätte so gern diese span­nenden Diskus­sionen geführt.«

Wäre ihre Realität so authen­tisch wie sie es vorgibt, wäre ihr Handeln so zu recht­fer­tigen, wie Sie es mit ihr versuchen, dann würde sie sich nicht schlecht fühlen. Würde der NDR sich nicht ärgern. Würde der Preis nicht zurück­ge­geben werden. Denn selbst alle Film­schaf­fenden ahnen es: Außerhalb des Doku­men­tar­film­hör­saales ist dies kein Doku­men­tar­film. Der „gewöhn­liche“ Zuschauer weiß das auch ohne Film­stu­dium.

Dann versuchen Sie, Doku­men­tar­film und Direct Cinema zu trennen und gegen­ein­ander auszu­spielen, obwohl scheinbar der über­wäl­ti­gende Teil der Menschen diese von Ihnen herbei­ge­re­dete Rezep­ti­ons­hal­tung einfach nicht einnimmt. Die tatsäch­liche Rezep­ti­ons­hal­tung versuchen Sie dann zu proble­ma­ti­sieren:

Ein Problem des Films ist natürlich die Art, wie er gesehen wird. Also die doku­men­ta­ri­sche Lesart, die Perspek­tive der Zuschau­enden auf den Film.

Auch wenn von Euphe­mismen wie „doku­men­ta­ri­sche Form“, „künst­le­ri­scher Film“, „Hybrid“ etc. Gebrauch gemacht wird: Sie hat den Film den Zuschauern als Doku­men­tar­film verkauft. Es ist von Ihnen total unau­then­tisch, dass Sie mit Lehren­krauss gemeinsam im Klein-Klein der Herstel­lungs­pro­zesse verloren gehen. Sie geht damit zum Doku­men­tar­film­preis und anderen Foren und spricht über ihren Film als sei es ein Doku­men­tar­film. Lügt dabei. Es ist total abstoßend wie Sie dieser verlo­genen Selbst­the­rapie auch noch voyeu­ris­tisch und unkri­tisch beiwohnen. Das einzig Inter­es­sante im Gespräch mit Lehren­krauss ist, wie sie darzu­stellen versucht, dass es keine Genre­fest­le­gung gab. Genau so kenne ich die post­fak­ti­schen Doku­men­tar­filmer, stets um jede Fest­le­gung verlegen. Dass sie sich schlecht fühlt zeigt: Es gab diese vermeint­lich stille Über­ein­kunft, die von Frau Lehren­krauss und Ihnen nach Kräften geleugnet wird, etwa in einem Gespräch, oder einem rechtlich nicht verbind­li­chen Dokument. Im Moment der Rückgabe des Preises. Im Moment ihrer Deno­mi­nie­rung. Nur die post­fak­ti­schen Doku­men­tar­filmer wollen diese Über­ein­kunft einfach übersehen.

Als Hinweis sei noch gesagt: mit 50.000 € dreht man bei den Öffent­lich-Recht­li­chen keinen szeni­schen Film von 50 Minuten, es sei denn, man ist Student und arbeitet völlig unent­gelt­lich. Aber selbst dann hat die Film­hoch­schule einen Vertrag mit der Sende­an­stalt und nicht man selbst als Student. Es ist also ziemlich trans­pa­rent, worauf man sich als Filme­ma­cher einlässt, insbe­son­dere dann, wenn es um die Unter­schei­dung zwischen szeni­schen und doku­men­ta­ri­schen Filmen geht. 50-minütige szenische Filme gibt es übrigens fast nur im „serial drama“. Auch hier sind die Ausnahmen Studen­ten­filme. In allen Vertrags­do­ku­menten ist aber von einem einzigen Film die Rede, der – aufge­passt – auf dem Doku­men­tar­film­sen­deplatz laufen soll. Die Recht­fer­ti­gung von Lehren­krauss – unter­ir­disch, post­fak­tisch at it’s best! Dies macht noch mal deutlich, wie unfassbar unan­ge­bracht Ihre Kritik an der doku­men­ta­ri­schen Rezep­ti­ons­hal­tung im Falle von Lovemobil ist. Der Zuschauer ist da viel weiter als Sie und Lehren­krauss. Aber wenn man stets alles daran setzt, die formalen Rahmen­be­din­gungen zurecht­zu­schminken, um eine Fake-Doku zu vertei­digen, redet man sich da eben gerne Vieles ein. Beim szeni­schen Film der Öffent­lich-Recht­li­chen übernimmt man nicht auch noch als Regisseur mal eben so das Produk­ti­ons­de­part­ment. Beim szeni­schen Film gibt es mindes­tens einen Tonmen­schen, eher mehrere, das kann ich Ihnen als Film­ton­mensch einfach mal so sagen. Ansonsten: Make Up, Kostüm … Jede Menge Volk am Set. Eine andere Film­kultur eben. Besteht der Stab des öffent­lich-recht­li­chen Films am Set aus zwei Leuten, handelt es sich aller Voraus­sicht nach nicht um einen szeni­schen Film. Und bekommt dieser vermeint­lich szenische Film einen Doku­men­tar­film­preis … bitte, bitte, verkaufen Sie uns nicht für blöd!

Ich weiß nicht woher Sie die Kraft nehmen, all dies zu übersehen und ein derart unkri­ti­sches Interview zu veröf­fent­li­chen. Der deutsch­spra­chige Zuschauer kann einem vor dem Hinter­grund einer solchen Film­be­richt­erstat­tung nur leid tun. Ich schreibe eigent­lich keine Leser­briefe und wurde nur durch zeit.de auf Ihr Portal verlinkt. Ich will auch nicht die Menschen hinter Ihrem Online-Portal angreifen, aber für gelungene Inter­views dieser Art braucht man jour­na­lis­ti­sches Finger­spit­zen­ge­fühl oder filmische Expertise. Ich wurde auch nach mehr­ma­ligem Lesen Ihres Beitrages dies­be­züg­lich nicht fündig.

Viele Grüße

Tausch

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4. Antwort von Grit Lemke an die artechock-Redaktion

Per E-Mail am 6. April 2021

(…) Letzt­end­lich ist es jetzt genau die ange­spro­chene „Direct Cinema Polizei“, die aufschreit und dabei z.B. von „post-fakti­schen Filme­ma­chern“ redet, was ich sowieso für eine gefähr­liche Verqui­ckung von nicht zuein­ander gehö­renden Kate­go­rien halte, aber egal. Ebenso der wieder­holte Verweis in der Debatte auf Wodka Factory, der einzig und allein von einer erschre­ckenden Unkenntnis der polni­schen Doku­men­tar­film­schule zeugt. Also, man könnte viel dazu sagen – aber will man das Ganze noch mehr anheizen? Ich würde eher nichts darauf erwidern wollen, wie ich mich auch in der ganzen Debatte bisher streng zurück­ge­halten habe aus o.g. Gründen. Ich verstehe auch die ganze Heftig­keit nicht und die Art, wie sie auf einer persön­li­chen Ebene ausge­tragen wird.

Ob Ihr den offenen Brief veröf­fent­licht, ist Eure Entschei­dung als Redaktion. Ich könnte auch gut damit leben, da ich mich von dieser Fraktion nicht ange­spro­chen fühle. Dass Ihr mich bzw. uns dazu konsul­tiert, empfinde ich als sehr anständig und kollegial – etwas, das man dieser Tage oft vermisst.

Was den Vorwurf fehlender Distanz betrifft, so ist das natürlich richtig beob­achtet: Wir sprechen nicht aus der Distanz. Darüber haben Ludwig und ich uns vorher abge­spro­chen und ganz bewusst entschieden, kein klas­si­sches jour­na­lis­ti­sches Interview – obwohl es natürlich um die Offen­le­gung von Fakten ging – zu führen, sondern ein Gespräch unter Film­schaf­fenden. Dies erschien uns ehrlicher. Auch, dass wir unsere Position – ganz bewusst! – sparsam, aber deutlich kenntlich machen. Deshalb habe ich darauf hinge­wiesen, dass ich »als Filme­ma­cherin und Kuratorin« spreche. Dass dies und meine Haltung zur Causa nun wiederum Leuten missfällt, ist ebenso legitim und für mich nicht proble­ma­tisch. Wobei ich natürlich sehe, dass Ihr Euch als Redaktion dazu verhalten müsst. Ihr dürft meine hier geäußerte Position dazu gern zitieren.