78. Filmfestspiele von Venedig 2021
»Corriger la Fortune!« |
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Pedro Almodóvar eröffnet mit Madres paralelas | ||
(Foto: BIENNALE CINEMA 2021 Press Service) |
»Alles, was geschieht, geschieht jetzt, plötzlich, in diesem Augenblick.« – Karl Heinz Bohrer
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Das geht ja gut los: Parallele Mütter heißt übersetzt der neue Film von Pedro Almodóvar, den man am Lido von Venedig heute Abend zur Eröffnung zeigt. Einmal mehr erzählt das spanische Regie-Enfant-Terrible offenbar alles über Mütter. Die Hauptrolle spielt jedenfalls seine Lieblingsschauspielerin und Muse Penélope Cruz.
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Muse – darf man das noch sagen? Hoffentlich... Aber auch egal. Schon mit diesem Auftakt bietet sich dann jedenfalls gleich die Gelegenheit, über ein weiteres Lieblingsthema der internationalen Filmgemeinde zu debattieren: »Netflix«, genauer gesagt ganz allgemein die Macht der internationalen Streaming-Dienste, der neuen Player im lange gemütlichen Karpfenteich der Branche. Und über die Rolle, die diese neuen Akteure, die noch irgendwo im Brachland zwischen Produzenten, Verleihern und Kinobetreibern ihre Rolle suchen, in Zukunft spielen werden – erst recht, nachdem die Leinwandwelt während der Corona-Pandemie durch das höchst einseitige Regierungshandeln zu Lasten der nicht staatlich alimentierten Kultur gehörig durcheinandergewirbelt und getroffen wurde.
Die Mostra von Venedig ist schon seit Jahren offen für diese neuen Player, und macht damit genau das Gegenteil von dem, was der große Konkurrent in Cannes in den letzten Jahren tat: Man zeigt Toleranz und Offenheit und macht damit zunächst einmal an der Oberfläche ganz klar Terrain gegenüber dem großen Konkurrenten gut. Zugleich öffnet man aber auch eine Flanke – denn noch ist nicht klar, ob man die Geister, die man rief, auch wieder loswird, wenn das irgendwann nötig werden sollte. Und erst recht nicht klar ist, wie sich das Kino eigentlich durch den Einfluss der Streamer verändert hat.
Andererseits geht es eben auch in Venedig um das Kino, nicht um kleinere Bildschirme und Displays. Es geht um Filme, die Menschen mit verschiedensten Geschmäckern und Interessen verbinden, die auf der großen Leinwand ihre wirkliche Wirkung zeigen, und die ein weltweites Publikum zu fesseln verstehen.
Der Mostra von Venedig ist es in den letzten Jahren insbesondere gelungen, die wichtigsten Filme aus Hollywood an den Lido zu holen.
Der am heißesten erwartete vermutliche Welthit dieses Jahres ist Dune vom kanadischen Regisseur Denis Villeneuve.
Diese Verfilmung eines kultigen Science-Fiction-Fantasy-Romans aus den 70er Jahren läuft außer Konkurrenz, hofft aber durch die Premiere auf Anschubhilfe für das kommende Oscarrennen, auf das sich der US-Betrieb jedes Jahr mehr zu fixieren scheint.
An den kommenden 12 Tagen geht es dann im Wettbewerb von 21 Filmen um Goldene und Silberne Löwen, und in den Nebenreihen um die Aufmerksamkeit des internationalen Publikums.
Insgesamt laufen über 120 Filme in vier Sektionen.
Da kann man sich auf vieles freuen: Die Filmfestspiele von Venedig, 1932 gegründet, sind nicht nur das älteste, sondern auch das lässigste Filmfestival der Welt.
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Die »Mostra de Cinema«, wie die Kino-Biennale offiziell heißt, hat seit jeher einen ganz eigenen Charakter: Wo Cannes unangefochten für die feine Haute Cuisine des Autorenkinos steht und die Berlinale ein lautes, oft vulgäres Volksfest ist, da repräsentiert Venedig einen gelassenen, entspannten, heiteren Umgang mit der Kunst des Kinos, einen Umgang, der lebensfroh ist, und es nicht nötig hat, verkrampft auf Lockerheit zu machen, und wo man sich selbstverständlich für den roten Teppich gut anzieht, aber andererseits nie wie in Cannes auf den Gedanken käme, einen Gast, der seine Individualität ausgerechnet mit zerrissenen Turnschuhen belegen muss, vor dem Kino abzuweisen.
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Entsprechend leichtes, aber gleichwohl hochanspruchsvolles Kino verspricht der Italiener Paolo Sorrentino, der Chilene Pablo Larraín, die Australierin Jane Campion, der US-Amerikaner Paul Schrader – um nur einige der Filmemacher im Wettbewerb zu nennen. Ich selbst freue mich besonders auf den neuen Film der Iranerin Ana Lily Amirpour.
Das alles sind große Namen, und viele von ihnen hätte man sich ebenso in Cannes vorstellen können. Manche hat man dort erwartet. Aber unter ihrem Direktor Alberto Barbera, der 2021 bereits im zwölften Jahr amtiert – so lange wie noch keiner seiner Vorgänger! –, hat es Venedig geschafft, mit Cannes auf Augenhöhe zu konkurrieren.
Eine Feststellung, die schon zum Auftakt optimistisch stimmt für die kommenden knapp zwei Wochen. Denn die tröstliche, in der scheinbar festgefügten Filmwelt fast revolutionäre Botschaft dieser Entwicklung lautet: Die Festivallandschaft ist veränderbar; Festivals wie Filme können sich frei machen von allen Zuschreibungen.
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Auch die Gesellschaft ist veränderbar; jeder einzelne kann sich jederzeit, jetzt, hier, frei machen von allen Zuschreibungen. »Corriger la fortune« nennt das Thomas Mann, der zu Venedig bekanntermaßen seine ganz eigene Beziehung hatte, in seinem Roman über die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull, also »das Schicksal korrigieren«.
Auf Deutsch: Die Welt will betrogen sein.
Andere
Filmfestivals könnten sich daran ein Beispiel nehmen.