78. Filmfestspiele von Venedig 2021
Das Brüllen der Löwen |
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Starke Franzosen: neben Audrey Diwan auch Xavier Gianoli mit seiner Balzac-Adaption »Verlorene Illusionen« | ||
(Foto: BIENNALE CINEMA 2021 Press Service) |
Nach elf Tagen standen am Samstagabend die Preisträger fest: Die Jury um den koreanischen Regisseur Bong Joon-ho gab einer jungen französischen Regisseurin den Goldenen Löwen: Der Goldene Löwe von Venedig geht in diesem Jahr an den französischen Film »L’Evénement« von der Regisseurin Audrey Diwan. Diwans Film »L’Evénement« gewann und stellte damit berühmte Regiekollegen wie Jane Campion, Paolo Sorrentino und Pedro Almodóvar in den Schatten. Ein überaus verdienter Preis: Diwan erzählt nach dem gleichnamigen, autobiographischen Buch von Annie Ernaux von einer jungen Studentin, die 1963 ungewollt schwanger wird, nicht aus Schwäche, sondern aus Freiheit, und die ihr Kind nicht bekommen will, und dabei immer wieder am Puritanismus und an der Kälte der Gesellschaft verzweifelt.
Es ist ein verdienter Preis – aber nicht, weil er an eine Frau geht. Nicht, weil er mit dem Thema der Not ungewollt Schwangerer und dem des Rechts auf Abtreibung ein ohne Frage wichtiges, in fast allen Teilen der Welt leider aktuelles Thema ins Zentrum rückt.
Sondern weil dieser Film auch acht Tage nach seiner Premiere einen sehr starken Eindruck hinterlässt. Weil er im Gegensatz zu vielen seiner Vorläufer auf sehr bestimmte, zum Teil ungewöhnliche Art erzählt. Mit den Mitteln des alten Kinos – 16mm und 4:3-Format – erzählt die Regisseurin ganz nüchtern, konzentriert, in einer filmischen Ästhetik, die sich an die Bilder der frühen Sechziger anlehnt und immer äußerst nahe an der Hauptfigur bleibt, die von der magnetischen Hauptdarstellerin Anamaria Vartolomei gespielt wird.
Der Film rückt ein Individuum ins Zentrum, und die Frage der Freiheit; er bewegt sich weg von schlichten Gegensätzen wie dem zwischen Männern und Frauen, hin zum Gedanken an Solidarität, und Anteilnahme. Und er instrumentalisiert sein Thema nie für weitere politische Agenden – es sind nicht nur Fundamentalisten, eine bornierte Kirche und die Rechte, die hier schlecht aussieht, sondern auch Linke, die von Aufklärung und Jean-Paul Sartre schwärmen, aber im Konkreten borniert, selbstgerecht oder feige sind und zu Spießbürgern oder kleinen Moral-Stalinisten mutieren.
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Dieser Preis ist auch deswegen eine gute Nachricht, weil er von jener Routine abrückt, die sich während der letzten Jahre ins Festival eingeschlichen hatte: Venedig ist mehr als eine Startrampe für kommende Oscarkarrieren, es ist auch ein Ort der Blüte des Autorenfilms. Und »L’Evénement« ist kein kommender Oscar-Gewinner, dafür ist er viel zu europäisch und zu anti-puritanisch.
Venedig zeigte viel und zeigte Vielfalt – auch wenn die übrigen Preise etwas eindimensional ausfielen und sich wieder zu sehr auf Amerika-taugliches konzentrierten: Paolo Sorrentinos neuer Film gab vielen Rätsel auf, erfüllt aber viele Klischees großer Filmkunst. Und er ist ebenso von Netflix produziert, wie Jane Campions Post-Western, der den Regiepreis gewann, und andere Preisträgerfilme. Hier unternahm die Jury den Kotau vor der Industrie, den sie im Hauptpreis vermieden hatte.
Dafür fehlten unter den Preisträgern auch im Nebenwettbewerb die diesmal äußerst starken Lateinamerikaner fast komplett.
Und schon im Programm fehlten die so starken und wichtigen Kinonationen China, Japan, Korea und der Iran. Nur mit den Folgen von Pandemie und Zensur ist diese Lücke kaum zu erklären.
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Der rote Teppich vor dem Palazzo di Cinema war bereits an den Tagen vor der Preisverleihung an einigen Stellen schon durchgetreten. Seit Mitte der Woche wurden die Gäste allmählich weniger, auch wenn am Freitagabend mit dem Ehrenlöwen (»Premio Cartier«) für den immer noch aktiven britischen Altmeister in Hollywood, Ridley Scott (84) und der Premiere seines neuen Films »The Last Duel« sich am Lido ein später Höhepunkt ereignete. »The Last Duel« gehört zu Scotts erklärtem Lieblingsgenre, dem Ritterfilm, und erzählt eine Geschichte aus dem Hundertjährigen Krieg zwischen England und Frankreich.
Damit ging ein Wettbewerb zu Ende, der zwar auf grundsätzlich hohem Niveau stand, dem aber klare Favoriten ebenso fehlten, wie zumindest ein Film, der alle überraschte und dem Medium einen neuen Formeinfall oder einen Erzählkniff hinzuzufügen schien.
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Nachdem die ersten Tage ganz im Zeichen Hollywoods und hier oft des Streamingdienstes Netflix standen, ist das Kino aus Asien, das oft schon in Venedig reüssierte, im Jahr Null nach der Pandemie auffallend wenig vertreten. Dafür erschienen neben den USA zwei andere Filmländer besonders stark: Frankreich und Mexiko. Bei Frankreich überrascht das kaum, denn seit der Nouvelle Vague vor sechzig Jahren gehören französische Filme zum Besten, was das Kino zu bieten hat. Doch es waren
diesmal weder die klassischen Namen des Autorenkinos, noch deren jüngere Nachfolger von Assayas über Ozon bis Sciamma, die am Lido für Furore sorgen, sondern zwei Unbekannte mit Literaturverfilmungen. Neben Audrey Diwans Film auch Xavier Gianoli. Der hat Balzacs Bestseller »Verlorene Illusionen« verfilmt. Was beginnt wie eine gediegen-konventionelle Literaturverfilmung, entfaltet sich bald zum Panorama einer Welt, in der sich eine Medienrevolution ereignet und Fake News,
Manipulation und Propaganda eine ähnlich wichtige Rolle spielen wie heute, was den Stoff aktuell macht. Einfallsreich arbeitet der Regisseur mit einem Erzähler aus dem Off und Balzacs herrlichem Text, der nicht in Dialogen aufgelöst wird – Stars wie Cecile de France, Xavier Dolan, Vincent Lacoste und Jeanne Balibar besorgen den Rest.
Ein dritter französischer Film hatte ebenfalls noch an diesem Freitag Premiere: »Un autre monde« von Stephane Brizé. Der gehört zwar bei jedem
Festival zu den Preisfavoriten – denn zu deutlich entsprechen die sozialpolitisch engagierten, mit eindeutigen Botschaften gefüllten Filme dieses französischen Ken Loach unserem Zeitgeist, der nach einfachen, klaren Antworten auf unübersichtliche Verhältnisse verlangt. Doch diesmal enttäuschte er seine Fans und alle Anhänger sozialpädagogisch wertvollen AgitProp-Kinos: Wieder spielt Vincent Lindon die Hauptrolle, immer wieder in Großaufnahme.
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Alles in allem aber war es 2021 ein sehr gelungener Venedig-Jahrgang.