78. Filmfestspiele von Venedig 2021
Menschen, die auf Plastik starren |
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Szene aus Radu Judes »Plastic Semiotic« | ||
(Foto: BIENNALE CINEMA 2021 Press Service) |
Von Janick Nolting
Nein, es ist kein Erdbeben, das da plötzlich die Sitzreihen im Kino wackeln lässt. In Wahrheit sind es die Beine zahlreicher Gäste im Saal, die anfangen, nervös und ungeduldig auf und ab zu zappeln. Mehrere Leute verlassen die Vorführung, Smartphones werden gezückt. Ausnahmsweise greift kein Personal im Saal ein, von dem man mitunter selbst bei einem Blick auf die Uhrzeit warnend mit Laserpointer angeleuchtet wird, als würde gleich scharf geschossen werden. Vielleicht hat man Mitgefühl walten lassen. Der Grund für die plötzliche Unruhe ist der neue Kurzfilm von Tsai Ming-liang, dem taiwanesischen Slow-Cinema-Filmemacher, der erst 2020 mit Days nicht nur den besten Film der Berlinale, sondern auch einen der Glanzpunkte des gesamten Jahres hingelegt hat. »The Night« (Liang ye bu neng liu) heißt sein neues Werk, leider nur 19 Minuten lang. Die Biennale hat es in einem Kompilationsprogramm gezeigt.
Na klar, das Kino dieses Regisseurs verlangt vollste Auslieferung unter seine Formstrenge und mitunter quälende Langsamkeit. In den 19 Minuten macht er nichts anderes, als Eindrücke aus dem nächtlichen Hong Kong zu zeigen. Mit insgesamt 13 Einstellungen ist das für Tsai-Verhältnisse sogar noch rasant geschnitten. Dass ausgerechnet dieser Film für eine solche Unruhe sorgt, erstaunt aber ein wenig. Bei einem Großteil der anderen Kurzfilme, die mit ihm gemeinsam liefen, die Handlung und Dialog besaßen, wurde man nämlich mitunter deutlich mehr gequält. Allen voran mit dem furchtbar lachhaften Corona-Film »Diario Di Una Passeggiata«, in dem eine Theatergruppe postpandemische Euphorie über das zurückgewonnene Leben entfachen will.
Zurück zu Tsai Ming-liang: »The Night« ist, wie immer bei dem Regisseur, ein virtuoses Spiel mit Bewegung und Stillstand. Der Kurzfilm zeigt Transiträume. Haltestellen erscheinen besonders prominent im Zwielicht der feucht schimmernden Großstadt, die von sanft flackernden Neonlichtern erhellt wird. Menschen warten an einer Bushaltestelle oder an einer Ampelkreuzung. Irgendwann sind die Orte menschenleerer, es ist tiefste Nacht. Müll liegt auf dem Fußweg, wie ein dystopischer, trauriger Schauplatz in der Gegenwart sieht das mitunter aus. Zugleich sind das umwerfend schöne, vieldeutige Aufnahmen; die Kameraarbeit hat der Regisseur persönlich übernommen.
Tsai Ming-liangs letzter Film Days endete ebenfalls bei Nacht. An einer Haltestelle saß da ein junger Mann, der nach einer Prostitution kurzzeitig so etwas wie Hoffnung mit sich trägt. Auf einer Bank wartet er, Erinnerungen ziehen vorbei, kurz scheint alles möglich, bis doch das alte Spiel weitergeht. »The Night« setzt das Stimmungsbild fort. Wieder sucht der Regisseur nach Wartenden, die weder hier noch dort sind. In der Nacht, wenn die Sinne schon trüb werden, die Zeit langsamer zu vergehen scheint, stehen sie da ganz bei sich. Warten auf Verkehrsmittel oder worauf auch immer. Ruhepole im Großstadtdschungel, der sich in lautem Straßenlärm in den Kinosaal ergießt. Ab und zu geht hinten jemand durch das Bild, hat es jemand eilig. Eine Frau geht mit einem Koffer vorbei. Eigentlich ist »The Night« ein Actionfilm, trotz seiner gedehnten Einstellungen. Immer passiert etwas in seinen Bildern, selten gerät die Welt in Stillstand, nur einzelne Pole und Details sind da auszumachen, an denen die Kamera aus der Ferne hängenbleibt. Lediglich unsere Blick und unsere Wahrnehmung sind es, die hier entschleunigt und damit geschärft werden. Tsai Ming-liangs Kurzfilm sucht in den kleinen Feinheiten die Unterbrechung des urbanen Alltags. Eine ungeheure Melancholie spricht wieder aus diesem vermeintlich unscheinbaren, kleinen Werk. Fast immer handeln Tsais Filme von welchen, die in der Stadt zu Grunde gehen, an ihrem Alleinsein zerbrechen. »The Night« zieht das als großartige Ortserkundung auf.
Da stehen sie, die Einsamen und Anonymen. Im Hintergrund hängen Reklameschilder, ausgehöhlte Konstrukte aus Plastik. In grellem Neon wollen sie Menschen zu sich locken. Mittlerweile sind sie allerdings nur noch leere Kulissen, die menschlichen Geschichten im Vordergrund blicken flüchtigen Bewegungen entgegen. Vielleicht einem Ausbruch oder schlicht einem Heimkehren, bevor man sich wieder in das tägliche Hamsterrad begibt. Eine Ampel springt auf Grün, doch keiner kommt.
Das
ist auch ein Film, der die städtische Ordnung an sich erforscht. In all den Schildern, Zeichen, Lichtern und Bewegungsmitteln, in der Geometrie. Personen werden in ihren Proportionen von totem, riesigem Material überschattet. Man denkt an Walter Benjamins Einbahnstraße, wenn man in Tsai Ming-liangs statischen Totalen immer wieder an kleinen Ausschnitten verharrt, die wieder neue Assoziationen in Gang setzen. Der nächtliche Zeitpunkt erlaubt dieses schwelgerische Sehen als Zäsur
im Gewohnten. Im Aufsuchen ruhigerer Orte sinniert man über die Räume und Strukturen, die der Mensch da geschaffen hat. Wie chaotisch sich manches in dieser Ordnung überlagert!
Ein melancholisches Liebeslied läutet das Ende der Nacht ein, ähnlich wie in Tsai Ming-liangs Kinohymne Goodbye, Dragon Inn. Zum Schluss verharrt »The Night« auf der Scheibe eines Bahnhofstunnels. Offenbar alte Plakatreste kleben dort wüst übereinander. Abgerissen; nur noch Spuren, die unbekannte Geschichten aus der Vergangenheit erzählen und bald von neuen überklebt werden. Dahinter fließt der Verkehr, die Zeit verrinnt unaufhaltsam weiter.
Das Montieren von statischen Tableaus und Zustandserkundungen findet man auch im neuen Kurzfilm des frischgebackenen Berlinale-Gewinners Radu Jude (Bad Luck Banging or Loony Porn), der in Venedig (wie »The Night«) außer Konkurrenz lief. »Plastic Semiotic« ist ebenfalls ein Werk, das sich in Momente des Stillstands begibt. Im Vergleich zu dem melancholisch-schwelgerischen Dokumentarfilm »The Night« ist »Plastic Semiotic« allerdings eher eine irrwitzige Polemik – darin ist Radu Jude sowieso ein Meister. Der lebendige Mensch inmitten von totem Material ist hier als solcher gar nicht mehr zu finden. »Plastic Semiotic« erforscht die Welt des Spielzeugs. Unzählige Spielfiguren, Puppenstuben und Miniaturen hat Radu Jude in seinem Film zusammengetragen, die er nun mit kindlicher Freude vor der Kamera aufstellt.
Jude ist ein begnadeter Monteur. Wenn er in Uppercase Print etwa Propagandafernsehen zusammenschneidet oder in Bad Luck Banging or Loony Porn mit einem Alphabet die Gegenwart seziert, dann läuft er zu Höchstform auf. Die Idee, die »Plastic Semiotic« nun zu Grunde liegt, ist ebenso simpel wie genial. Von Kindheitstagen bis zum hohen Alter ist dieser Film strukturiert. In verschiedenen schlaglichtartigen Szenen baut Jude Szenen des Lebens mit Spielzeug nach. 22 Minuten geht das so. In manchen Momenten voller Wahnwitz, infantile Anarchie eben. Die Eiskönigin trällert ihren Disney-Ohrwurm Let It Go und umkreist im blinkenden Kleid eine Hulk-Figur: Szenen aus dem Franchise-Wahnsinn. Barbie-Puppen stellen ihre grotesken Körperbilder zur Schau. In anderen Momenten psychologische Abgründe: Leichen in einem dreckigen Badezimmer. Irgendwann folgt eine Reihe an aufgebauten Selbstmordszenarien. Eine Familienszene, bei der Eltern und Großeltern als verstörende Horrorpuppen aufgestellt sind. Schwarze erscheinen als rassistische Stereotype.
Auf dem Treppenaufsatz in einer Puppenstube steht ein Kind neben einem Gorilla. Plötzlich erwacht das Bild zum Leben, die Tierfigur boxt das Kind die Treppe hinab. Da lauert ein überraschender, pechschwarzer Humor in Judes Kurzfilm. Das Spielzeug erhebt sich gegen den Menschen, offenbart sein destruktives und aufbrechendes Potential. Zugleich ist es nur gesellschaftlicher Fortsatz. Jude zeigt auf beeindruckende Weise, wie sich Ideologien in all diese Berge an Plastik, Gummi und Holz einschreiben. An die Kinder wird es weitergereicht, die mit diesen Weltbildern unbewusst aufwachsen. In Venedig hat man den Film vor der Western-Doku Django & Django gezeigt. Eine etwas eigenartige Wahl, aber nun gut, auch dort ging es in gewisser Weise um ein ideologiekritisches Denken.
Vom naiven Spaß mausert sich »Plastic Semiotic« zum Horrorfilm. Kriegsspielzeug rückt in den Fokus. Das Feindbild des barbarischen Indianers wird da gezeigt, dem sich noble Westernhelden entgegenstellen. Ein Soldat schießt sich später selbst in den Schädel. Radu Jude gelingt mit der vergrößerten Darstellung ein beeindruckender Kippeffekt. Miniaturen erscheinen plötzlich in Überlebensgröße, der Kamerablick offenbart deren meist unbequeme Wahrheit. In seinen Mythen des Alltags hatte der Semiotiker Roland Barthes Spielsachen lediglich als verkleinerte Reproduktion von Dingen und Phänomenen aus der Welt der Erwachsenen beschrieben. Fantasie und Schöpfertum weichen bloßer Benutzung und Nachahmung, wie man aus Barthes‘ Text herauslesen kann. Radu Jude übersetzt solche Gedanken in eine clevere filmische Form, indem er uns Auge in Auge mit unseren künstlichen Ebenbildern und Karikaturen konfrontiert und sie in Alltäglichkeiten in Szene setzt. Er reißt diese Momente aus der Realität, verfremdet sie zu Produkten und lässt sie wieder zum Leben erwachen. Es erlaubt uns, klar zu sehen.
Zugleich zeigt Jude, wie der Film dem etwas entgegensetzen kann. Figuren und Objekte werden zweckentfremdet und neu zusammengesetzt. Puppen arrangiert der rumänische Regisseur in sexuellen Orgien, Pinocchio penetriert einen Mann mit seiner Nase. Wo altbackene Körperbilder reproduziert werden, sucht Judes Inszenierung nach Befreiung und Ausschweifung, aber auch nach Schock. Der Regisseur raubt den Spielsachen eine Unschuld, die sie nie besaßen. Die Melancholie, die Tsai Ming-liangs Kurzfilm innewohnt, verwandelt sich hier derweil in eine bitterböse Abrechnung. Das Spiel neigt zum Apokalyptischen. Der Blick auf den Zeitvertreib der Heranwachsenden führt zum Versagen in der grausamen, rückständigen Weltsicht ihrer Erzeuger. In einer Kahlschlag-Geste werden immer mehr dieser fragwürdigen Spielzeuge in den symbolischen Selbstmord getrieben. Schlichtes Entsorgen in der Mülltonne wäre auch nicht filmisch genug! Irgendwann bevölkern nur noch Plastikroboter die Szenerie. Zwischendrin steht ein Dino. Man ist sich nicht sicher, ob es sich um eine Dystopie oder Utopie handelt.