78. Filmfestspiele von Venedig 2021
Spring Breakers in Venedig |
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Das unendliche Glück eines endlosen Sommernachmittags der Jugend | ||
(Foto: BIENNALE CINEMA 2021 Press Service) |
»I did what I could. And I think I did not do it so badly.« – Diego Maradona
»Was ist modern? Die Antwort ›Thomas Mann‹ war 1973 keine Antwort mehr. Nabokov hat über Mann mit bösartigem Sarkasmus von ›Ideenliteratur‹ gesprochen. Und was er damit meinte, war nicht nur das dauernde Déjà-vu bei Mann, dass ständig mit Gelesenem kokettiert wird, sondern dass überhaupt eine Literatur betrieben wird, die nicht von Einfällen, von vorher nicht bekannten Bildern lebt, ... Wiedererkennung von geistesgeschichtlichen Motiven als oberstes Ziel. Es ging also nicht um das divergierende und diskutierbare Geschmacksurteil hier und da, sondern es ging um eine erkennbare tiefe Zurückgebliebenheit der intellektuellen Mentalität.« – Karl Heinz Bohrer
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Blau-Weiß leuchtet der Himmel über der Lagune, die Boote fahren schnell hinüber zum Lido, die Gischt, wo sie einen trifft, stört nicht, sondern erfrischt.
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Ein Sommernachmittag. Die Musik ist von Sick Luke, bei dessen Namen die Saaldiener applaudieren, und fortan den Maskenzwang Maskenzwang sein lassen, und lieber die Leinwand kontrollieren, als die Zuschauer.
Ein cooler Anfang; Bilder von ca. 12-14-jährigen in der Sonne, beim Baden, irgendwo am Lido in einer Bootshaltestelle der Peripherie. Minutenlang nur Bilder und Musik. Sommer, Jugend, Sex, Spaß, Wonne, Glück, das unendliche Glück eines endlosen Sommernachmittags der Jugend. Schöne Bilder, Herumhängen.
Primärfarben dominieren: Blau, rot, gelb. Dazu gute Musik. Der italienische Regisseur Yuri Ancarani entdeckt in seinem wunderbaren Orrizonti-Film Atlantide die Schönheit im Unvollkommenen. Oder im Beiläufigen: Der Ölfleck auf dem Wasser. Die Schatten der Bäume im Sonnenuntergang.
Theoretisch ist das ein Dokumentarfilm. Sehr nahe an den Protagonisten. Wir begleiten eine Handvoll Jugendliche. Die Jungs fahren Speedboot. Gangster werden vorgestellt, werden freundlich betrachtet. Drogen werden stolz präsentiert, dann knattert man bei der Verfolgungsjagd mit der Guardia di Finanza den Polizeibooten davon. Die Freundin der Hauptfigur Daniele steht erst um 2 Uhr auf, hängt rum, kaut ihre Fingernägel, lässt sich dann künstliche aus Plastik machen. Sie weiß
nicht, was sie will.
Irgendwann hat Daniele eine neue Freundin. Jetzt sehen wir Sex, die Kamera blickt auf ihr Gesicht. Alles erinnert an Larry Clark, Harmony Korine. Knutschen und Speedboot fahren. Spring Breakers in Venedig.
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Der Film zeigt in all seiner paradox mit Naturalismus kombinierten Künstlichkeit das echte Leben der Menschen der Lagune. Todesahnung und Morbidität wieder mal in Venedig. Der Alte am Anfang spricht es wie ein Omen aus: »Ihr werdet euch noch umbringen mit diesem Speedboot-fahren«.
Am Schluss läuft »Vivere« von Flavio de Luca.
Erst die Pressekonferenz schafft am Tag darauf Sicherheit. Da steht Daniele quicklebendig auf der Bühne.
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Praktisch ist dies also ein Spielfilm, der aus dokumentarischen Elementen zusammengesetzt ist. Schillernde Unsicherheit, aufregendes Kino.
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Vom Ende eines Sommers, also vom Zustand, den wir hier alle erleben, und vom Speedbootfahren, diesmal im Golf von Neapel, erzählt auch Paolo Sorrentino. Aber wie anders!
Sorrentino erzählt anekdotenhaft von einem jungen Mann der 1986, in dem Jahr, in dem Diego Armando Maradona die Hand Gottes war und für den SSC Neapel spielte, 16 Jahre alt war, also genauso alt wie Sorrentino selbst, der auch aus Neapel stammt und wie Sorrentino will der junge Mann, der Flavio heißt, Filmregisseur werden. Vielleicht müssen wir ihn uns also als Alter Ego des Regisseurs vorstellen.
Das wäre immerhin interessant. In diesem Sommer sterben die Eltern von Flavio
an einem Autounfall. Besonders schwerwiegende Folgen hat es aber nicht, der Sommer wäre sowieso zu Ende gegangen, und Flavio macht noch ein paar neue Gelegenheitsfreundschaften unter denen Drogenschmugglern am Hafen.
Aber sonst? Was will uns der Regisseur erzählen?
Der Film ist wenigstens etwas leiser als andere von Sorrentino. Aber wieder dieses Bündeln von Ekelbildern, fette Menschen, Männer mit schlechten Händen und schmierigen Haaren, ein Mann, der nicht sprechen kann, der dafür eine Maschine benutzt und dessen Stimme wie die von einem verrosteten C3PO klingt.
Dazu groteske, vulgäre Dialoge, auffallend schlecht geschnitten und langweilig,
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Immerhin ein kluger Kommentar über Maradona: »Perseverance« sei seine Stärke gewesen. Immerhin sagt ein Regisseur: »Imagination ist ein Mythos. You wanna have fun – that’s how you make Films.«
Und immerhin die Schauplätze sind zum Teil erstaunlich und oft schön.
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Man fährt hier, wenn es morgens zum Festival geht, eine lange pinien-gesäumte Straße am Strand entlang, zwischen den letzten Badegästen des Sommers, dem leerstehenden Hotel des Bais, in dem einst vor über 100 Jahren Thomas Mann zu seinem »T„od in Venedig“« inspiriert wurde, und wo Visconti dann ein halbes Jahrhundert später dessen Verfilmung drehte. Wieder ein halbes Jahrhundert später erinnere ich mich noch an meine ersten Jahre am Lido, als im Hotel noch Festivalbesucher wohnten, und man Interviews führte – zum Beispiel mit Ken Loach, dessen Trotzkismus ihn nicht hinderte im 5-Sterne-Hotel zu wohnen.
Viele Festivalbesucher haben Fahrräder gemietet. Mit denen legt man am Tag mehrere Kilometer zurück auf dem sehr langgezogenen Lido. Je nachdem zwischen 5 und 20 Minuten bis zu dem einem ehemaligen Spielcasino, das noch so heißt, und wo die Vorführräume liegen und auch die Räume für die Pressekonferenzen. Auch für diese Pressekonferenzen muss man aber Karten buchen, weswegen ich zum Beispiel in diesem und dem letzten Jahr nicht eine einzige Pressekonferenz besucht habe. Sonst habe ich das immer gemacht, aber eben immer spontan, wenn gerade Zeit war oder wenn ich gerade Lust hatte nach dem Film noch etwas mehr über diesen zu erfahren. Mich aber fest darauf zu verpflichten, ist zu anstrengend. Zumal man bei drei verpassten Terminen angeblich durch geringere Akkreditierungschancen bestraft wird – was immer das heißt. Im Zweifelsfall kann man in Italien auch die Frage stellen, wie genau es mit dieser Strafe dann wirklich genommen wird.
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Um das Casino herum läuft eine penetrante Bunga-Bunga-Musik, die je nach augenblicklicher Geistesverfassung schwer bis überhaupt nicht erträglich ist. Jedenfalls richtig schreiben kann ich dort nicht.
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Ein früher Vorläufer von Atlantide ist übrigens Agostino von 1962 nach einer Moravia-Vorlage. Er stammt von Mauro Bolognini, auch so einem vergessenen italienischen Kino-Meister.