07.10.2021

Diese zarte Zerbrechlichkeit der Welt

Flowers Blooming in Our Throats
Flowers Blooming in Our Throats: Bild im Bild während der Shutdown-Zeit
(Foto: privat / Eva Giolo)

Das Münchener Filmfestival UNDERDOX erhebt im zweiten Jahr von Corona die Fragilität ins Zentrum – dafür gibt es viele gute Gründe

Von Dunja Bialas

Der Tag, an dem mir die Idee kam, »Fragi­lität« zum großen Thema von UNDERDOX zu machen, war wieder so ein Tag. Schon wieder konnten wir einen Film nicht program­mieren, weil andere, größere Festivals die Deutsch­land­pre­miere verlangen und wir deshalb den Film nicht spielen können. Ganz normale Festi­val­po­litik eigent­lich. Sehr zu begrüßen ist, dass das, was wir vor 16 Jahren mal den »under­do­xigen« Film getauft haben, also Grenz­gänger, die sich zwischen Doku­men­tar­film, Expe­ri­men­tal­film, Spielfilm oder Kunstfilm posi­tio­nieren, in keine Schublade passen und deshalb auch keine Ziel­gruppe anvi­sieren, jetzt auch von anderen deutschen Festivals gezeigt werden. Das ist eine der Erfolgs­sto­ries, die UNDERDOX erzählen kann: Wir haben die Pionier­ar­beit gemacht.

Ermüdend war der plötz­liche Konkur­renz­kampf an jenem Sommertag dennoch. In Anbe­tracht des Budgets, das uns für eine Woche Programm zur Verfügung steht (die Summe wird nicht mehr verraten), erschien der Bestand dieses aus der Liebe zum Extra­va­ganten entstan­denen Festivals plötzlich auf äußerst dünnem Eis. Fragil.

Die Fragi­lität ist im Grunde genommen die eigent­liche Poetik unserer Festi­val­ar­beit. Weil uns das eine nicht umhaut, kommen wir auf andere Ideen. So haben wir uns dieses Jahr gegen ein Kurzfilm-Programm entschieden und zeigen statt­dessen mittel­lange, von uns »Long Shorts« genannte Filme. Das ergibt jetzt vier Abende, wo sich unter den Titeln »Mavericks«, »Analoge Paradiese«, »Dark Matters« und »Brex it!« überaus sinnliche Filme wie DARK MATTER des russisch-deutschen Expe­ri­men­tal­fil­mers Viktor Brim, MENSCH HORST über einen einsamen Plat­ten­bau­be­wohner in Bran­den­burg oder etwa der den Atem anhal­tende FLOWERS BLOOMING IN OUR THROATS der italie­ni­schen Künst­lerin Eva Giolo zu sehen sind. Letzterer ist übrigens ein »Corona-Film«, vermut­lich das meist gemiedene Genre der Festivals, wo man gerne betont, dass kaum ein Film mit Corona zu tun hat.

Die großen Titel und Meister findet man auch dieses Jahr bei UNDERDOX: Frederick Wiseman mit City Hall, Norbert Pfaf­fen­bichler mit dem Gore-Schocker 2551.01: The Kid oder Denis Côtés Sozi­al­hy­giene. Überall fiel uns die Fragi­lität auf. Weil wir sie hein­ein­in­ter­pre­tierten?

»Gewiss­heiten sind unsicher geworden, der Zusam­men­halt steht auf dem Spiel. Tastend sucht die Gesell­schaft – die privaten Bereiche, die Kultur, die Wirt­schaft und insgesamt das öffent­liche Leben – nach neuen Formen und Inhalten des Zusam­men­seins. Auch der Wandel – Abschied, Aufbruch und Neustart – bedeutet Fragi­lität.
Diese gesell­schaft­liche Fragi­lität mani­fes­tiert sich in tastenden und fragenden Werken, denen der Gestus der Behaup­tung fern liegt. Die Filme von UNDERDOX zele­brieren offene Formen, viele Perspek­tiven und ästhe­ti­sche Verschie­den­heit, brechen mit Seh- und Rezep­ti­ons­ge­wohn­heiten und tragen dazu bei, dass sich die Parameter verschieben«, so formu­liere ich es für die Presse.

Heinz Emigholz, den ich an anderer Stelle gegen James Bond in die Waag­schale werfe, zeigt seinen neuen Film The Lobby als Deutsch­land­pre­miere. Wieder ist sein Alter Ego – darge­stellt von Emigholz’ Stamm­schau­spieler John Erdman – in einer emotio­nalen und kogni­tiven Krise. In verscho­benen, verrückten Einstel­lungen – Spleen und Marken­zei­chen von Emigholz’ Archi­tek­tur­filmen – sieht man ihn in verschie­denen Lobbys in Buenos Aires sitzen und von seinen inneren Nöten reden. Die Psyche als Zwischen­zu­stand – und kein Selb­st­op­ti­mierer weit und breit.

Außer dem Klima erscheint uns dieser Tage kaum etwas so fragil wie die geopo­li­ti­sche Lage. Erschüt­tert haben uns während der Vorbe­rei­tungen des Festivals die Ereig­nisse in Afgha­ni­stan. Uns hat damit eine Edition von vor fast zehn Jahren wieder eingeholt, als wir Far From Afgha­ni­stan zeigten, der nach dem Vorbild des Kollek­tiv­films Loin du Vietnam von Agnès Varda, Chris Marker, Jean-Luc Godard und anderen aus dem Inneren der Kriegs­ma­schine heraus entstanden war. Hier waren es die ameri­ka­ni­schen Inde­pen­dent-Regis­seure John Gianvito (von ihm zeigen wir außerdem den aktuellen Her Socialist Smile über die erste ameri­ka­ni­sche links­in­tel­lek­tu­elle und taub­blinde Akti­vistin Helen Keller), Jon Jost, Minda Martin und Travis Wilkerson, große Namen, aber doch nur einem kleinen Kreis bekannt. Die Vorfüh­rung wird ein soli­da­ri­sches Screening sein, die Eintritte werden an IRD (de.rescue.org) gespendet.

Eröffnen werden wir das Festival am heutigen Donnerstag mit Marta Popivodas Land­s­capes of Resis­tance über die serbische Parti­sanin Sofija Sonja Vujanović. Die Kamera hat Ivan Marković geführt, der sonst für Angela Schanelec Spie­ge­lungen findet, die die Räume in kalei­do­sko­pi­sche Unend­lich­keit führen. Seine Aufnahmen stehen bei Marta Popivoda in einem unge­fähren Abbil­dungs­ver­hältnis zum Erzählten, es sind oft die Schau­plätze des Erin­nerten, die er auf der Leinwand als Zeugen der Geschichte erzittern und leuchten lässt. Seine Kunst, Bilder aus dem Dunkeln zu schälen, lässt sich bei Isabell Heimer­din­gers SOON IT WILL BE DARK erfahren, in dem Long-Shorts-Programm »Dark Matters«.

Wieder in drei Spiel­stätten (Film­mu­seum, Theatiner, Werk­stattino) zu Gast, wagt UNDERDOX zum zweiten Mal, ein rein physi­sches Festival mit Filmen nur auf der Leinwand und Gästen im Kinosaal unter jetzt über­holten, aber leider noch fest­ge­setzten Corona-Bedin­gungen durch­zu­führen, wo andere Festivals sich schon längst darauf geeinigt haben, dass das Streamen das Mittel der Wahl und State of the art ist. Wir wissen einfach zu gut von der Wirkung des Kinosaals auf die Bilder. Die ist anders als alles andere: unum­s­töß­lich.

Die Autorin leitet zusammen mit Bernd Brehmer (Werk­statt­kino) das UNDERDOX Film­fes­tival.