Bucklicht Männlein |
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Zunehmender Horror: Întregalde | ||
(Foto: Ge-Fo-Rum / Radu Muntean) |
Von Dunja Bialas
Man kann das Laub fast riechen, das den schmalen Waldweg bedeckt. Alles versinkt in Brauntönen. Jetzt auch die Räder des Jeeps, die sich immer tiefer in den Schlamm graben. Hier ist kein Weiterkommen mehr, sie stecken fest. Maria, Dan und Ilinca sind in dem unwegsamen Gelände unterwegs, eigentlich um Hilfsgüter an die vereinzelten Bewohner im bergigen Siebenbürgen zu verteilen, der Winter steht vor der Tür. Unterwegs haben sie ein Väterchen aufgegabelt, das in der Kälte zu Fuß unterwegs war. Der Zahnlose will zum Sägewerk »Întregalde«, wo er jemanden treffen soll. Zunächst erscheint er als völlig harmloser alter Mann, bringt sie dann aber wie ein Dämon vom Weg ab und immer tiefer in eine Lage hinein, aus der kein Entkommen mehr ist, nicht vor der Nacht in den einsamen Bergen, nicht vor der Kälte, nicht aus dem Schlamm.
Das Väterchen ist wie ein Wiedergänger des volkstümlichen »bucklicht Männlein« , das Vorhaben und Pläne durchkreuzt. »Will ich in mein Küchel gehn, / Will mein Süpplein kochen, / Steht ein bucklicht Männlein da, / Hat mein Töpflein brochen«, heißt es im Volkslied. Die Begegnungen mit ihm beginnen immer mit »eigentlich wollte ich nur …«. Aber dann steht das bucklicht Männlein da, und ab da nimmt alles seinen unheilvollen Lauf. Der Film Întregalde ist so auch ein abgedimmter Thriller, der in der abgeschiedenen Wildnis mit den Urängsten spielt. Wie ein Kammerspiel der Ausweglosigkeit trägt sich der Film über weite Teile auf dem laubigen und schlammigen Waldweg zu.
Regisseur Radu Muntean ist einer der Vertreter des Neuen Rumänischen Kinos, das laut der eminenten rumänischen Produzentin Ada Solomon seine Hochphase mittlerweile hinter sich hat. Sein Kammerspiel Dienstag, nach Weihnachten markierte 2010 einen der Höhepunkte dieser Rumänischen Welle, aber auch in den späteren Ausläufern wie jetzt in Întregalde zeigt sich noch immer die magische Kraft der als reduzierte Plansequenzen sich ereignenden menschlichen Konflikte. Diesmal spielt alles auf dem abgelegenen Land, fernab der Großstadt und auch der (dysfunktionalen) Familie, eines der liebsten Sujets des Neuen Rumänischen Kinos.
In Întregalde kann das »bucklicht Männlein«, das die Pläne der Städter durchkreuzt, auch als Inbegriff und Symbol für das Stadt-Land-Gefälle in Rumänien gelten, und – weil der Jeep wegen ihm im Schlamm stecken bleibt – auch als symbolischer Grund dafür, warum im rumänischen Hinterland nichts vorangehen will. Kein Handy-Empfang, eine unwegsame Landschaft und überalterte, senile, auch schlitzohrige Bewohner zersetzen die karitative Mission der drei Bukarester auf vielen Ebenen: Als mit der Nacht auch der Hunger kommt, finden sie in den mitgebrachten Hilfsgütern nur fluffige Erdnuss-Flips.
Unter der Oberfläche des Humanitären tut sich aber auch echte Humanität auf, wenn eine der beiden Frauen sich um das Wohl des Alten sorgt, oder wenn dieser später im Dorf von einer Einheimischen in einem Bottich gewaschen wird. Das ist kein Misery Porn und auch kein Anprangern der Armut, zugrunde liegt hier die echte Zuwendung zum Menschen. Das ist zutiefst philanthrop.
Întregalde tritt den Beweis an, dass es mit dem Neuen Rumänischen Kino noch lange nicht vorbei ist. Uraufgeführt in Cannes, bildet der Film das Centerfold des Rumänischen Filmfestivals, das ab dem heutigen Donnerstag wieder zum ersten Mal seit 2019 vor Ort im Filmmuseum München stattfinden kann. Im Programm sind weitere neue Werke zu finden, die auf dem Land spielen. Crai Nou (Blauer Mond), Gewinner der Goldenen Muschel des Festivals San Sebastián, ist das Debüt der jungen Regisseurin Alina Grigore. Sie begann als Schauspielerin der Neue-Welle-Regisseure Cristi Puiu (Aurora) und Adrian Sitaru (Ilegitime) und erzählt in Blauer Mond von zwei Schwestern, die in den verkrusteten ländlichen Strukturen feststecken. Deren selbstbestimmtes Handeln, und ganz fundamental ihre Bildung, ihre Liebschaften oder der Wunsch, das Dorf zu verlassen, werden von dem tyrannischen Cousin als Angriff aufs Patriarchat und das Fortbestehen der Tradition, und sei es nur des familiären Hotelbetriebs, interpretiert und brachial abgewehrt.
Das Festival beginnt mit einer ganz anderen, undramatischen Tonlage. Die Kampagne von Marian Crişan ist eine Komödie der Gegensätze, in der ein hilfsbereiter und auch ein wenig naiver Ackerbauer aus der Region Salonta an der ungarischen Grenze (von wo auch der Regisseur stammt) einem großspurigen Europa-Politiker bei einer Autopanne hilft und sich dabei vor dessen Polit-Karren spannen lässt. Anders als Întregalde, der im Grunde eine ähnliche Situation zum Ausgang hat, ist in der Komödie naturgemäß alles freundlich und heiter. Sukzessive adaptiert sich der Politiker, dessen familiäre und ökonomische Verwerfungen allmählich hervortreten, an das einfache Dorfleben. Das ist auch das utopische Paradebeispiel für die zumindest vorübergehende Heilung der Städter, die im Kontakt mit dem einfachen Leben auf einen Streich Hochmut, Gier, Faulheit und andere Todsünden abstreifen.
Malmkrog des meisterlichen Cristi Puiu (Sieranevada) schließlich ist eins der unhintergehbaren Highlights des Festivals, gleichzeitig auch ultimative Herausforderung an die Zuschauer. Eine aristokratische Abendgesellschaft diskutiert in dem kleinen Landsitz Malmkrog in Siebenbürgen zu Beginn des 20. Jahrhunderts über Moraltheologie, Europa und den Anti-Christ. Scharfsinnig-rational geht es zu, es wird Französisch gesprochen, die Sprache des osteuropäischen Adels, während die Damen und Herren im feinen Esszimmer mit einem Glas in der Hand herumstehen. Das Menü wird angekündigt, man setzt sich in dem streng kadrierten Setting zu Tisch. Die Diener tragen Speisen herein, füllen Gläser nach, die Gespräche gehen weiter. Malmkrog ist ein radikales, wuchtiges Kino, voller traumwandlerischer Sicherheit in der Inszenierung, das noch lange nachhallt – und endlich auf der großen Leinwand des Filmmuseums seine ganze Kraft entfalten darf.
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Rumänische Filmtage München
In Zusammenarbeit mit der Gesellschaft zur Förderung der Rumänischen Kultur und Tradition e.V.
12. bis 18. November 2021
Filmmuseum München
St.-Jakobs-Platz 1, 80331 München
Eintritt: 4 / 3 €