25.05.2024
77. Filmfestspiele Cannes 2024

Die Kunst des Erzählens

Grand Tour
Es sind die Zehnerjahre
(Foto: Filmfestspiele Cannes | Miguel Gomes)

Miguel Gomes' Grand Tour im Wettbewerb von Cannes ist ein literarischer Film, ohne zu Ende zu erzählen

Von Benedikt Guntentaler

»We tell ourselves stories in order to live«: Joan Didions berühmter Satz wirkt wie gemacht für das Kino.

Ein Film, das ist immer ein abge­schlos­senes Leben, eine Geschichte, die wir verfolgen und beob­achten, die uns im besten Fall berührt, und erkennen lässt, was wir in der Realität nicht wahr­nehmen. Ein guter Film ist beschleu­nigtes Leben, ein sehr guter gar realer als der Alltag.

Doch woher kommt diese Faszi­na­tion, was ist es, das uns so berührt, warum kehren wir immer wieder zurück ins Kino, was suchen wir darin?

Miguel Gomes nimmt sich in Grand Tour, der im Wett­be­werb von Cannes seine Premiere hatte, dieses Themas an, fragt nach der Meta­physik des Erzählens. Das geschieht zunächst einmal formal, es finden heftige Stil­wechsel statt; der Großteil des Films ist in Schwarz­weiß gehalten, immer wieder schlei­chen sich jedoch Farb­film­ab­schnitte ein. Diese sehr gezielt, sie brechen die Narration auf, springen in die Gegenwart über und zeigen Unter­hal­tungs­formen: Puppen­spiele und Fahr­ge­schäfte, allesamt von Hand betrieben. Zur eigent­li­chen Geschichte – ein myste­riöser Reisender flüchtet vor seiner Verlobten, die ihn wiederum verfolgt und endlich zur Heirat bringen möchte – tragen diese Einschübe wenig bei, sie setzen aller­dings den Ton: Das, was erzählt wird, muss nicht unbedingt gezeigt werden, darf vielmehr eine Poesie entwi­ckeln, von der ausgehend das Werk verstanden werden kann. Ganz in diesem Sinne spielt Gomes mit seiner »Story«, lässt immer wieder Leer­stellen aufkommen oder über­springt ganze Abschnitte.

Auch zeitlich herrscht keine Einheit. Obwohl 1917/18 spielend, sind große Teile des Films doku­men­ta­ri­sche Aufnahmen der Gegenwart, auch in Schwarz­weiß gehalten.

Sie zeigen Szenen aus Städten, Gewusel auf den Straßen, Unikate auf Bürger­steigen, Kreu­zungen und viel­be­fah­rene Haupt­straßen. Ebenso Natur­auf­nahmen, Tiere und Pflanzen, die den Hinter­grund bilden, während eine Voice-Over die Haupt­story voran­treibt, und uns Zuschauern erzählt, was passiert. Häufig erreichen diese Zwischen­szenen essay­is­ti­sche Züge, Gomes expe­ri­men­tiert virtuos mit Über­blen­dungen, wechselt von rausch­haften zu medi­ta­tiven Tempi.

Auf diesem Gebiet ist er ein Meister, die Dissonanz von Text und Bildern, die sich zusam­men­fügen und ergänzen, obwohl sie von völlig unter­schied­li­chen Dinge handeln.

Gleichsam ist Grand Tour durch die Stimmen der sich abwech­selnden Erzäh­le­rinnen ein sehr lite­ra­ri­scher Film, unheim­lich schön geschrieben und gelesen. »Text« wird dabei medial begriffen, auch hier geht es nicht unbedingt um den Infor­ma­ti­ons­ge­halt. Obwohl an die 1910er Jahre gebunden, passt er zu den modernen Bildern, verliert – wie jeder gute Roman – seine Wirkung nicht durch einen zeit­li­chen Sprung.

Die Geschichte, ja, die mag veraltet sein, doch es kommt auf die Formu­lie­rungen an, auf neben­säch­liche Bemer­kungen, jene die auf nichts deuten, und gerade damit alles erzählen.

Selbiges geschieht mit dem Musik­ein­satz, der unheim­lich sicher und elegant gewählt ist, Verbin­dungen herstellt, wo eigent­lich keine sein dürften, die Zeiten überlebt und verbindet. Der ganze Film wirkt wie ein Zusam­men­schnitt wunder­voller Neben­säch­lich­keiten, zu keiner Zeit ist man am Fortgang der Geschichte inter­es­siert, die durch die simple Prämisse ohnehin klar ist.

Es geht in Grand Tour um die Form, um Stil und Eleganz, um Momente, die im echten Leben, im Rahmen einer Geschichte, zu klein wirken, um von Bedeutung zu sein.

Man ist erinnert an die Melan­cholie einer Margue­rite Duras, den Witz eines Evelyn Waugh, auch an die kaputte Apartheit mancher Christian-Kracht-Erzäh­lungen. Allesamt Autoren und Auto­rinnen, die an der Sache vorbei­reden, deren Geschichten sich erst in den Details, in einzelnen Formu­lie­rungen erklären.

Grand Tour ist ein Meis­ter­werk geworden, der schönste Film des Festivals, ein Lobgesang auf die Kunst und den Ausdruck, ein Werk, das kein Ende braucht, weil es niemals endgültig sein wird, sich immer wieder neu erfinden und entdecken kann. Grand Tour : Ist ein Werk, dem man sich bedin­gungslos ergibt.

Und: Es ging im Kino schon immer um Geschichten, aber nicht darum, sie zu zeigen.