77. Filmfestspiele Cannes 2024
Die Kunst des Erzählens |
||
Es sind die Zehnerjahre | ||
(Foto: Filmfestspiele Cannes | Miguel Gomes) |
»We tell ourselves stories in order to live«: Joan Didions berühmter Satz wirkt wie gemacht für das Kino.
Ein Film, das ist immer ein abgeschlossenes Leben, eine Geschichte, die wir verfolgen und beobachten, die uns im besten Fall berührt, und erkennen lässt, was wir in der Realität nicht wahrnehmen. Ein guter Film ist beschleunigtes Leben, ein sehr guter gar realer als der Alltag.
Doch woher kommt diese Faszination, was ist es, das uns so berührt, warum kehren wir immer wieder zurück ins Kino, was suchen wir darin?
Miguel Gomes nimmt sich in Grand Tour, der im Wettbewerb von Cannes seine Premiere hatte, dieses Themas an, fragt nach der Metaphysik des Erzählens. Das geschieht zunächst einmal formal, es finden heftige Stilwechsel statt; der Großteil des Films ist in Schwarzweiß gehalten, immer wieder schleichen sich jedoch Farbfilmabschnitte ein. Diese sehr gezielt, sie brechen die Narration auf, springen in die Gegenwart über und zeigen Unterhaltungsformen: Puppenspiele und Fahrgeschäfte, allesamt von Hand betrieben. Zur eigentlichen Geschichte – ein mysteriöser Reisender flüchtet vor seiner Verlobten, die ihn wiederum verfolgt und endlich zur Heirat bringen möchte – tragen diese Einschübe wenig bei, sie setzen allerdings den Ton: Das, was erzählt wird, muss nicht unbedingt gezeigt werden, darf vielmehr eine Poesie entwickeln, von der ausgehend das Werk verstanden werden kann. Ganz in diesem Sinne spielt Gomes mit seiner »Story«, lässt immer wieder Leerstellen aufkommen oder überspringt ganze Abschnitte.
Auch zeitlich herrscht keine Einheit. Obwohl 1917/18 spielend, sind große Teile des Films dokumentarische Aufnahmen der Gegenwart, auch in Schwarzweiß gehalten.
Sie zeigen Szenen aus Städten, Gewusel auf den Straßen, Unikate auf Bürgersteigen, Kreuzungen und vielbefahrene Hauptstraßen. Ebenso Naturaufnahmen, Tiere und Pflanzen, die den Hintergrund bilden, während eine Voice-Over die Hauptstory vorantreibt, und uns Zuschauern erzählt, was passiert. Häufig erreichen diese Zwischenszenen essayistische Züge, Gomes experimentiert virtuos mit Überblendungen, wechselt von rauschhaften zu meditativen Tempi.
Auf diesem Gebiet ist er ein Meister, die Dissonanz von Text und Bildern, die sich zusammenfügen und ergänzen, obwohl sie von völlig unterschiedlichen Dinge handeln.
Gleichsam ist Grand Tour durch die Stimmen der sich abwechselnden Erzählerinnen ein sehr literarischer Film, unheimlich schön geschrieben und gelesen. »Text« wird dabei medial begriffen, auch hier geht es nicht unbedingt um den Informationsgehalt. Obwohl an die 1910er Jahre gebunden, passt er zu den modernen Bildern, verliert – wie jeder gute Roman – seine Wirkung nicht durch einen zeitlichen Sprung.
Die Geschichte, ja, die mag veraltet sein, doch es kommt auf die Formulierungen an, auf nebensächliche Bemerkungen, jene die auf nichts deuten, und gerade damit alles erzählen.
Selbiges geschieht mit dem Musikeinsatz, der unheimlich sicher und elegant gewählt ist, Verbindungen herstellt, wo eigentlich keine sein dürften, die Zeiten überlebt und verbindet. Der ganze Film wirkt wie ein Zusammenschnitt wundervoller Nebensächlichkeiten, zu keiner Zeit ist man am Fortgang der Geschichte interessiert, die durch die simple Prämisse ohnehin klar ist.
Es geht in Grand Tour um die Form, um Stil und Eleganz, um Momente, die im echten Leben, im Rahmen einer Geschichte, zu klein wirken, um von Bedeutung zu sein.
Man ist erinnert an die Melancholie einer Marguerite Duras, den Witz eines Evelyn Waugh, auch an die kaputte Apartheit mancher Christian-Kracht-Erzählungen. Allesamt Autoren und Autorinnen, die an der Sache vorbeireden, deren Geschichten sich erst in den Details, in einzelnen Formulierungen erklären.
Grand Tour ist ein Meisterwerk geworden, der schönste Film des Festivals, ein Lobgesang auf die Kunst und den Ausdruck, ein Werk, das kein Ende braucht, weil es niemals endgültig sein wird, sich immer wieder neu erfinden und entdecken kann. Grand Tour : Ist ein Werk, dem man sich bedingungslos ergibt.
Und: Es ging im Kino schon immer um Geschichten, aber nicht darum, sie zu zeigen.