77. Filmfestspiele Cannes 2024
Welt der Oberflächen |
||
Geschändete Gräber | ||
(Foto: Filmfestspiele Cannes | David Cronenberg) |
David Cronenbergs Karriere beinhaltet viele Phasen, beginnend beim Body-Horror seines Frühwerks, auf das Literaturverfilmungen folgten, die bereits immer abstrakter wurden, und ihn schlussendlich zu seinem heutigen Kino führten.
The Shrouds – sein neuer Film mit Premiere in Cannes – fühlt sich wie eine logische Entwicklung an, ein Film, der all seine bisherigen Themen aufgreift, fortdenkt und modernisiert, jedoch auf fundamental andere Art. Es ist ein sehr moderner Film geworden, nicht unbedingt in seiner Machart, mehr durch die inhaltliche Ausrichtung. Cronenberg befasst sich mit dem Digitalen, mit technischem Fortschritt, mit Displays, AIs, Videos und Teslas.
Die Filme des Kanadiers hatten schon immer einen aseptischen Touch, selbst seine Horrorfilme wirken steril, die Verformungen und Körper-Kuriositäten sind bei ihm stets zu gleichen Teilen ausgestellt und plastisch, weniger ein Schock als Kunstobjekte, die zur Interpretation und genauen Betrachtung einladen. Cronenberg ist ein Regisseur der Oberflächen, weniger interessiert an Emotionen als an theoretischen Reflexionen.
Deutlich wurde dies auch in seinem letzten Film Crimes of the Future, der erneut mit dem Body-Horror spielt, dies aber besonders radikal, der eigene Körper wird hier zum Kunstobjekt, in Form einer Performance-Art, die im Dialog mit seinem eigenen Schaffen steht.
Sein neuester Film The Shrouds nun fühlt sich wie ein geistiger Nachfolger von Crimes of the Future an. Erneut sind die Kulissen befreit von jeglichem Staub und Dreck, und es gibt auch keine Natürlichkeit mehr.
Dazu passend das Schauspiel: Keine Emotionen zeichnen sich in den Gesichtern ab, die Betonungen muten entrückt an, sind zu drastisch und zu expressiv, alles wirkt, als würden die Figuren nicht selbst sprechen, sondern nachahmen, was sie einmal gehört oder gesehen haben, man könnte auch sagen: Gerade so, wie wir es von einem (Hollywood-)Film erwarten.
Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang die Leistung Diane Kruegers, die gleich drei Rollen spielt, eine davon (auch namentlich im Abspann genannt): Ein virtueller AI-Avatar. Dieser technische Anspruch, der Übergang ins Digitale, samt der damit einhergehenden Entkörperung, ist ein Hauptthema des Films.
War in Videodrome noch die Rede vom »New Flesh«, ist dieses nunmehr erreicht. Menschen, die sich von sich selbst entfremdet und keine Beziehung mehr zum Körper haben, permanent versuchen, diesen zu überwinden und zu verbessern, gleichzeitig aber nicht aufgeben wollen. Die »Shrouds«, das sind Gräber mit installierten Webcams, mit Displays auf den Grabsteinen, die es ermöglichen, dem Verwesen der Leichname der geliebten Menschen in Echtzeit beizuwohnen.
Das Körperliche ist also nurmehr direkt mit dem Tod verbunden, mit einer Angst, es nicht mehr kontrollieren zu können, nicht mehr festzuhalten und zu analysieren. Denn: Alles muss festgehalten und beobachtet werden, wo sich Rätsel auftun, herrscht die Angst, das Ungewisse scheint schlimmer als der Tod.
Auf der anderen Seite – ein typischer makabrer Cronenberg-Kniff – versichern sich die Figuren immer wieder über Sex der eigenen Körperlichkeit. So ist der Film auch in einer seltsamen Art erotisch, zelebriert den Sex zwar formal, lädt ihn inhaltlich jedoch gespenstisch auf. Nie ist es ein Akt der Liebe, der stattfindet, immer ist es eine Bestätigung des eigenen Seins oder ein Suchen nach verlorenen Erinnerungen.
All diese Themen werden anhand einer verworrenen Dramaturgie etabliert, die sich auch immer wieder selbst behindert: Cronenberg erzählt sehr umständlich und durcheinander, schnell wird klar, dass er die tatsächliche Handlung meidet. Wo keine Klarheit mehr herrscht, darf diese auch nicht von Seiten der Story geheuchelt werden, wie die Protagonisten löst sich so der Film immer weiter auf, hält zwar an seinen Motiven fest und erforscht sie, weigert sich jedoch, sie zu einem Ende zu führen oder verständlich zu machen.
Hier ist es wieder das Internet, das greift. The Shrouds fühlt sich an wie ein stetes Absinken in Bubbles und Algorithmen, ein manisches Suchen nach Sinn, das zu nichts führt, außer weiteren Verunsicherungen.
Es ist ein trauriger, sehr durchdachter Film geworden, einer den so nur Cronenberg drehen würde, der nun im letzten Teil seiner Karriere immer experimenteller wird, Dramaturgien hinter sich lässt, und dem Kino noch einmal alles abverlangt. Dieser letzte Film von Cronenberg, vielleicht sein allerletzter, passt gut in die moderne Zeit – fast wirkt es, als hätte sie nur auf Cronenberg gewartet.