30.05.2024
77. Filmfestspiele Cannes 2024

Tauschbörse der Gefühle

Miséricorde
Der Wald ist Umschlagplatz des Rätselhaften
(Foto: Filmfestspiele Cannes | Alain Guiraudie)

Alain Guiraudies von Albert Serra koproduzierter Thriller Miséricorde zeichnet in »Cannes Première« sanfte Bilder vom ländlichen Frankreich und taucht in die von Begierde zerfressenen Gedanken der dortigen Bewohner ein

Von Benedikt Guntentaler

»Miser­i­cordia«, das ist latei­nisch für »Barm­her­zig­keit« – und die Bezeich­nung eines mittel­al­ter­li­chen Dolchs. Es ist eine Stich­waffe, genutzt, um zwischen Rüstungs­teile zu stechen, den Panzer zu durch­dringen. Den Titel hat Alain Guiraudie (Der Fremde am See) perfekt gewählt, beschreibt im Grunde seinen gesamten Film.

Jérémie – ein unschein­barer Bäcker Anfang 30 – kehrt in sein Jugend­dorf zurück. Der dortige Bäcke­rei­be­sitzer, sein Lehr­meister, ist verstorben, es findet die Beer­di­gung statt. Es wird nie ganz klar, in welcher Weise Jérémie mit dem Dorf verwur­zelt ist, zwar kennt er die Bewohner, es scheint eine lange, zum Teil tiefe Verbin­dung zwischen ihnen zu geben, doch Jérémie wirkt in viel­fa­cher Hinsicht anders: Sein Körper wirkt schmaler, die Gesichts­züge feiner, die Klamotten sind ein wenig zu elegant. Er wird noch länger in Saint-Martial, so heißt der Ort, verweilen, und nicht, wie geplant, noch am selben Abend wieder abreisen. Die Nächte verbringt er bei Martine, der Frau des Verstor­benen. Das sorgt für Unruhe, denn obwohl viel über die gemein­same Jugend gespro­chen wird, gehört Jérémie nicht mehr hierhin, wirkt wie ein Fremd­körper, etwas Abge­stoßenes, das sich nicht mehr einfügen lässt.

Speziell Martines Sohn Vincent sieht in ihm eine Gefahr, vermutet den Versuch einer Affäre mit der Witwe. Er soll sich täuschen, Jérémie ist schwul, liebte seine Jugend lang seinen verstor­benen Ausbilder. Martine weiß das, lässt ihn resi­dieren, hofft insgeheim, dass er die Bäckerei übernimmt. Auch alte (erhoffte) Lieb­schaften werden aufflammen, sich ebenso neue bilden. Und ein Mord geschieht.

Miser­i­cordia ist ein sehr langsamer Film, einer der kaum daran inter­es­siert ist, die Handlung voran­zu­treiben, diese verläuft schon beinahe neben­säch­lich, ist mehr ein Stich­wort­geber, um die Figuren zu erfor­schen.
Der Cast ist dabei bewusst klein gehalten, jeder Schau­spieler, jede Schau­spie­lerin spielt ihre Rolle mit enormer Präzision. Große Ausbrüche sucht man meist vergebens, Guirau­dies Figuren sind gehemmt und verschlossen, verbergen stets das, was sie tatsäch­lich wollen. Es ist ein Spiel mit verdeckten Karten, nur die Mittel werden immer offen­sicht­li­cher: Wer etwas erreichen möchte, von jemandem etwas will, der tut dies nicht offen, schon gar nicht im Dialog. Es wird umgarnt und heraus­ge­for­dert, unter­schwellig eine Verbin­dung herge­stellt, die sich in den meisten Fälle sexuell veräußert.

Dabei soll aller­dings nicht an fran­zö­si­sche Liebes- und Sexkla­motten gedacht werden, Miser­i­cordia ist ein sehr ernster Film, einer, der die Liebe bereits aufge­geben hat, die Erotik sowieso. Begierde wird hier zur Währungs­ein­heit, ein Mittel der Mani­pu­la­tion, etwas, das man anbietet – oder entge­gen­nimmt, wenn es denn Vorteile bringt. Die Figuren, die sich dessen bewusst sind, spielen damit, stellen Abhän­gig­keits­ver­hält­nisse her. Auch sie werden nicht glücklich dadurch, es bleibt stets ein Vorwand, um schlim­meres zu vermeiden, oder als erhofftes Sprung­brett, um ein höheres Ziel zu erreichen.
Dieje­nigen, die dieses Begehren, diese Macht­herr­schaft des (erhofften/ verspro­chenen) Sex nicht verstehen, denen es unerklärt bleibt, fürchten sich davor, werden immer mehr verun­si­chert, bis es zu Gewalt­ent­la­dungen kommt. Sie sind gewis­ser­maßen die ehrli­cheren Figuren, jene die ihrem Körper den Vortritt vor dem Geist geben. Glei­cher­maßen sind sie jedoch ruppig, zuweilen verbre­che­risch und tumb. Für jene ist in dieser Welt der ausge­stellten Gefühle kein Platz mehr, im besten Falle können sie abge­son­dert an ihrem Rand leben.

Dieses vergeis­tigte, kalte Thema wird visuell und tonal immer wieder gebrochen, die schönen Natur­auf­nahmen der fran­zö­si­schen Wälder, die anfangs noch so traumhaft anmuten, im Laufe des Films aber von der Innenwelt der Figuren übertönt werden, beschmutzt könnte man sagen. Ihnen wird die Farbe genommen, auch visuell, wenn vorwie­gend nachts gefilmt wird (Kamera: Claire Mathon). Zudem bindet Guiraudie immer wieder einen unter­schwel­ligen, kaum wahr­nehm­baren Humor ein. An sich sind es gute Witze, lachen möchte man dennoch nicht: Sie verfremden das Geschehen, laden es regel­recht mythisch auf, die Begierde ist hier nichts rein Theo­re­ti­sches, sie ist greifbar und nach­voll­ziehbar, könnte mensch­lich sein, würde sie nicht dermaßen instru­men­ta­li­siert.
In einer der besten Szenen etwa findet ein Verwirr­spiel vor der Polizei statt, Jérémie und ein Pfarrer mimen Sex, um einem Alibi Glaub­wür­dig­keit zu verleihen. Der Polizist entreißt die Decke, und wir sehen den alten, unat­trak­tiven und nackten Pfarrer erigiert im Raum stehen. Es könnte ein Bild aus einer billigen Sexkla­motte sein, in Miser­i­cordia ist es ein Bild zum Weinen – und trotz alledem ein durch und durch mensch­li­ches, ja regel­recht schönes.

Guiraudie ist ein anspruchs­voller und tief­grün­diger Film geglückt, der sich selbst sehr ernst nimmt, sowie auch seine Themen: unter­drückte Sexua­lität, erotische Mani­pu­la­tion, allesamt Mode­themen, die man im zeit­genös­si­schen Kino nun schon oft gesehen hat, ja regel­recht über hat. Miser­i­cordia jedoch zeigt, dass sie noch lange nicht auser­zählt sind, es muss ihnen nur die passende Form gegeben werden. Dies glückt hier formi­dabel.

In Cannes wurde der Film in der Sektion »Première« gezeigt. Alain Guiraudie hätte einen Platz im Wett­be­werb verdient gehabt.