77. Filmfestspiele Cannes 2024
Tauschbörse der Gefühle |
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Der Wald ist Umschlagplatz des Rätselhaften | ||
(Foto: Filmfestspiele Cannes | Alain Guiraudie) |
»Misericordia«, das ist lateinisch für »Barmherzigkeit« – und die Bezeichnung eines mittelalterlichen Dolchs. Es ist eine Stichwaffe, genutzt, um zwischen Rüstungsteile zu stechen, den Panzer zu durchdringen. Den Titel hat Alain Guiraudie (Der Fremde am See) perfekt gewählt, beschreibt im Grunde seinen gesamten Film.
Jérémie – ein unscheinbarer Bäcker Anfang 30 – kehrt in sein Jugenddorf zurück. Der dortige Bäckereibesitzer, sein Lehrmeister, ist verstorben, es findet die Beerdigung statt. Es wird nie ganz klar, in welcher Weise Jérémie mit dem Dorf verwurzelt ist, zwar kennt er die Bewohner, es scheint eine lange, zum Teil tiefe Verbindung zwischen ihnen zu geben, doch Jérémie wirkt in vielfacher Hinsicht anders: Sein Körper wirkt schmaler, die Gesichtszüge feiner, die Klamotten sind ein wenig zu elegant. Er wird noch länger in Saint-Martial, so heißt der Ort, verweilen, und nicht, wie geplant, noch am selben Abend wieder abreisen. Die Nächte verbringt er bei Martine, der Frau des Verstorbenen. Das sorgt für Unruhe, denn obwohl viel über die gemeinsame Jugend gesprochen wird, gehört Jérémie nicht mehr hierhin, wirkt wie ein Fremdkörper, etwas Abgestoßenes, das sich nicht mehr einfügen lässt.
Speziell Martines Sohn Vincent sieht in ihm eine Gefahr, vermutet den Versuch einer Affäre mit der Witwe. Er soll sich täuschen, Jérémie ist schwul, liebte seine Jugend lang seinen verstorbenen Ausbilder. Martine weiß das, lässt ihn residieren, hofft insgeheim, dass er die Bäckerei übernimmt. Auch alte (erhoffte) Liebschaften werden aufflammen, sich ebenso neue bilden. Und ein Mord geschieht.
Misericordia ist ein sehr langsamer Film, einer der kaum daran interessiert ist, die Handlung voranzutreiben, diese verläuft schon beinahe nebensächlich, ist mehr ein Stichwortgeber, um die Figuren zu erforschen.
Der Cast ist dabei bewusst klein gehalten, jeder Schauspieler, jede Schauspielerin spielt ihre Rolle mit enormer Präzision. Große Ausbrüche sucht man meist vergebens, Guiraudies Figuren sind gehemmt und verschlossen, verbergen stets das, was
sie tatsächlich wollen. Es ist ein Spiel mit verdeckten Karten, nur die Mittel werden immer offensichtlicher: Wer etwas erreichen möchte, von jemandem etwas will, der tut dies nicht offen, schon gar nicht im Dialog. Es wird umgarnt und herausgefordert, unterschwellig eine Verbindung hergestellt, die sich in den meisten Fälle sexuell veräußert.
Dabei soll allerdings nicht an französische Liebes- und Sexklamotten gedacht werden, Misericordia ist ein sehr ernster Film, einer, der die Liebe bereits aufgegeben hat, die Erotik sowieso. Begierde wird hier zur Währungseinheit, ein Mittel der Manipulation, etwas, das man anbietet – oder entgegennimmt, wenn es denn Vorteile bringt. Die Figuren, die sich dessen bewusst sind, spielen damit, stellen Abhängigkeitsverhältnisse her. Auch sie
werden nicht glücklich dadurch, es bleibt stets ein Vorwand, um schlimmeres zu vermeiden, oder als erhofftes Sprungbrett, um ein höheres Ziel zu erreichen.
Diejenigen, die dieses Begehren, diese Machtherrschaft des (erhofften/ versprochenen) Sex nicht verstehen, denen es unerklärt bleibt, fürchten sich davor, werden immer mehr verunsichert, bis es zu Gewaltentladungen kommt. Sie sind gewissermaßen die ehrlicheren Figuren, jene die ihrem Körper den Vortritt vor dem Geist geben.
Gleichermaßen sind sie jedoch ruppig, zuweilen verbrecherisch und tumb. Für jene ist in dieser Welt der ausgestellten Gefühle kein Platz mehr, im besten Falle können sie abgesondert an ihrem Rand leben.
Dieses vergeistigte, kalte Thema wird visuell und tonal immer wieder gebrochen, die schönen Naturaufnahmen der französischen Wälder, die anfangs noch so traumhaft anmuten, im Laufe des Films aber von der Innenwelt der Figuren übertönt werden, beschmutzt könnte man sagen. Ihnen wird die Farbe genommen, auch visuell, wenn vorwiegend nachts gefilmt wird (Kamera: Claire Mathon). Zudem bindet Guiraudie immer wieder einen unterschwelligen, kaum wahrnehmbaren Humor ein. An sich sind es
gute Witze, lachen möchte man dennoch nicht: Sie verfremden das Geschehen, laden es regelrecht mythisch auf, die Begierde ist hier nichts rein Theoretisches, sie ist greifbar und nachvollziehbar, könnte menschlich sein, würde sie nicht dermaßen instrumentalisiert.
In einer der besten Szenen etwa findet ein Verwirrspiel vor der Polizei statt, Jérémie und ein Pfarrer mimen Sex, um einem Alibi Glaubwürdigkeit zu verleihen. Der Polizist entreißt die Decke, und wir sehen den alten,
unattraktiven und nackten Pfarrer erigiert im Raum stehen. Es könnte ein Bild aus einer billigen Sexklamotte sein, in Misericordia ist es ein Bild zum Weinen – und trotz alledem ein durch und durch menschliches, ja regelrecht schönes.
Guiraudie ist ein anspruchsvoller und tiefgründiger Film geglückt, der sich selbst sehr ernst nimmt, sowie auch seine Themen: unterdrückte Sexualität, erotische Manipulation, allesamt Modethemen, die man im zeitgenössischen Kino nun schon oft gesehen hat, ja regelrecht über hat. Misericordia jedoch zeigt, dass sie noch lange nicht auserzählt sind, es muss ihnen nur die passende Form gegeben werden. Dies glückt hier formidabel.
In Cannes wurde der Film in der Sektion »Première« gezeigt. Alain Guiraudie hätte einen Platz im Wettbewerb verdient gehabt.