27.06.2024

»Die Leidenschaft fürs Filmemachen war immer da«

Frédéric Jaeger
Der Blick des Kritikers: Frédéric Jaeger
(Foto: Sebastian Weindel)

Alles, was er immer schon wollte: Frédéric Jaeger, in seinem früheren Leben Filmkritiker und Festivalleiter, hat die Rolle gewechselt und zeigt beim Filmfest München seinen Abschlussfilm: All We Ever Wanted

Was machen, wenn der lang­jäh­rige Kritiker-Kollege die Seite der Leinwand wechselt und Filme­ma­cher wird? Natürlich ein Interview! Frédéric Jaeger, Ex-Film­kri­tiker von critic.de, Ex-Programmer beim Film­fes­tival Mannheim-Heidel­berg, hat jetzt zum Abschluss seines Film­stu­diums an der Univer­sität der Künste den Spielfilm All We Ever Wanted über eine Dreiecks- und Freund­schafts­be­zie­hung reali­siert, der auf Fuer­te­ven­tura spielt und der kargen Land­schaft viel Raum gibt. Jaegers Kurzfilme aus der Zeit seines Studiums waren in München bereits beim UNDERDOX Film­fes­tival zu sehen. Umso mehr freut es die Inter­view­ende, gleich­zeitig UNDERDOX-Leiterin, dass Jaeger jetzt in der Reihe »Neues Deutsches Kino« zusammen mit Irene von Alberti und Fabian Stumm gezeigt wird. Zur Offen­le­gung sei angemerkt: Das Interview ist die »Extended Version«, das die Autorin mit dem Filme­ma­cher für die Pres­se­mappe geführt hat. Geld ist dabei keines geflossen.

Das Gespräch führte Dunja Bialas

artechock: Deine Kurzfilme spielen alle in und um Berlin herum. Mit deinem Abschluss­film All We Ever Wanted verlässt du dieses vertraute Setting und begibst dich in einen unbe­kannten Raum. Wie kam es zu dieser Entschei­dung?

Frédéric Jaeger: Die Land­schaft von Fuer­te­ven­tura war für mich eine Entde­ckung. Auf den ersten Blick eintönig und zersie­delt, aber faszi­nie­rend, da man auf sich selbst zurück­ge­worfen wird und schon bald anfängt, die Nuancen in den Grau- und Braun­tönen wahr­zu­nehmen. Die Vulkan­insel lädt dazu ein, sich in ihr zu verlieren und zu sehen, was man mit einem flüch­tigen Blick nicht sehen kann. Da wusste ich, dass ich dort einen Film drehen will.

Die Land­schaft ist dabei der stumme Prot­ago­nist, der entschei­dend in die Konstel­la­tion der drei Figuren hinein­funkt.

Das Setting ist für mich ein spie­le­ri­sches Element. Einer­seits erzählt es viel darüber, wo und wie sich Menschen zuein­ander verhalten. Ande­rer­seits kann es auch Bezie­hungen stören und eine Dynamik auslösen. Ausgangs­punkt für den Film war die Frage, was es mit drei Menschen macht, wenn sie dieser unwirt­li­chen Land­schaft ausge­lie­fert sind. Drei Deutsche – ein Paar und der beste Freund der Frau – reisen nach Fuer­te­ven­tura, verlieren ihre Unter­kunft und entscheiden sich zu bleiben. Der Film zeigt, was der Kontroll­ver­lust mit ihnen und ihren ohnehin ange­strengten Bezie­hungen macht.

Beziehung ist das Stichwort. Auch deine Kurzfilme würde ich grob als Bezie­hungs­komö­dien labeln. In deinem Abschluss­film kommt eine neue Kompo­nente hinein: die Klas­sen­frage. Wie kam es dazu?

Jeder, der schon einmal mit Freund*innen verreist ist, weiß, dass im Urlaub der Umgang mit Geld sehr schnell eine große Rolle spielt. In All We Ever Wanted hat Désirée die meiste Macht, weil sie über das Geld ihrer Mutter verfügt, während ihr weißer Freund Elias sich nach ihr richtet. Da über­la­gern sich Geschlech­ter­rollen, Geld, Status und Race. Teil davon ist auch Coolness, denn Elias ist besonders uncool, wäre aber gern so entspannt wie Sal. Mich inter­es­sieren die Erwar­tungen, die wir an Figuren und Situa­tionen haben, und das, was sich dahinter versteckt.
Wenn Désirées Mutter ihr die Karten sperrt und die drei aus der Feri­en­villa geschmissen werden, verändert sich etwas im Trio. Diese langsamen Verschie­bungen und was sie sichtbar machen in den mensch­li­chen Bezie­hungen, das wollte ich zeigen.

Siehst du in der Befreiung von ökono­mi­schen Zwängen tatsäch­lich die Voraus­set­zung für Freiheit?

Ungleich­heiten sind dynamisch und faszi­nie­rend, da sie drama­ti­sches und komö­di­an­ti­sches Potenzial haben. Oft werden sie aber verschleiert, weil es das roman­ti­sche Ideal gibt, dass man sich in der Liebe auf Augenhöhe trifft. In All We Ever Wanted gibt es zwar eine Krise, aber keine exis­ten­zi­elle. Désirée, Elias und Sal entscheiden sich ganz bewusst, sich auf das Abenteuer einzu­lassen, weil sie nicht viel damit riskieren. Die Unfrei­heit der drei hat mehr mit Hemmungen, Ängsten und Erwar­tungen zu tun. Dass ihre Welt aus den Fugen gerät, hilft ihnen dabei, das zu erkennen. Der Film zeigt, wie sie ihre Scham ablegen, ihr Begehren arti­ku­lieren und einander zuhören, was die Grundlage von Freiheit in Bezie­hungen ist.

Wenn wir die Frage nach ökono­mi­schen Zwängen auf die Produk­tion des Films über­tragen: Wie frei hast du dich beim Dreh gefühlt?

Ich habe mit Mitte 30 parallel zu meiner Tätigkeit als Kritiker und Programmer nochmal ange­fangen zu studieren, an der Univer­sität der Künste in der Klasse Narra­tiver Film. Mein Ziel war, viel zu drehen. Dafür muss man ästhe­ti­sche Parameter finden, die vereinbar sind mit den Produk­ti­ons­mit­teln. Ich habe das als vergnüg­liche Heraus­for­de­rung erlebt. Einer meiner Lieb­lings­filme über das Filme­ma­chen ist The Five Obstruc­tions, den Lars von Trier gemeinsam mit seinem Mentor Jørgen Leth gemacht hat. Leth kriegt dafür die Aufgabe, mehrmals ein Remake von seinem erfolg­reichsten Film zu drehen und jeweils fünf andere will­kür­liche Regeln zu befolgen. Und just aus diesen Beschrän­kungen entsteht eine beein­dru­ckende Krea­ti­vität. Das ist ohnehin meine Erfahrung: Es ist deutlich einfacher, kreativ zu sein, wenn es einen Rahmen dafür gibt, als wenn alles möglich ist. Was nicht als ein Loblied auf unter­fi­nan­zierte Filme miss­zu­ver­stehen ist. Es geht vielmehr darum, Schlupf­löcher zu finden, Einschrän­kungen zu umgehen oder aus ihnen eine Stärke zu machen.

Du hast bereits mehrfach mit anderen Dreh­buch­au­toren zusam­men­ge­ar­beitet. Wie stark hat die Zusam­men­ar­beit mit Naomi Bechert deinen Film beein­flusst?

Mit Blick auf meine Kurzfilme habe ich fest­ge­stellt, dass sie weniger divers sind als mein eigenes Umfeld. Anstatt zu hoffen, dass das Casting das schon richten würde, habe ich entschieden, dass zwei der drei Haupt­fi­guren schwarze Deutsche sein sollten. Letzt­end­lich führte das Casting dazu, dass ich drei Haupt­dar­steller mit rassi­fi­zierten Erfah­rungen besetzt habe, von denen einer als Weißer durchgeht. Eine der Heraus­for­de­rungen bestand darin, mit der Tatsache umzugehen, dass ich ein weißer Mann bin, der einen Film mit zwei schwarzen Figuren und Schau­spie­lern schreibt und insze­niert. Es war mir wichtig, die Vielfalt unseres Alltags in Deutsch­land darzu­stellen – ohne dass der Film in erster Linie davon handelt oder blind ist für die Probleme des Lebens in einer rassis­ti­schen Gesell­schaft. Dafür war es sehr wertvoll, Naomi Bechert als Co-Autorin zu haben, auch weil sie ihre Erfah­rungen als afro­deut­sche Dreh­buch­au­torin und ihre Expertise in der Anti­ras­sis­mus­for­schung und in queer-femi­nis­ti­schen Projekten einge­bracht hat. Und später war der Austausch mit den Schau­spie­lern entschei­dend. Ich hoffe, der Film ist ein Spiegel der gemein­samen Reise.

All We Ever Wanted zeichnen sehr male­ri­sche Bilder aus – von der Kargheit der Land­schaft, von ihrer Leere und auch von ihrer Unwirk­lich­keit. Wie hast du mit dem Kame­ra­mann Maxi­mi­lian Andereya zusam­men­ge­ar­beitet?

Maxi­mi­lian Andereya ist ein Multi­ta­lent, er arbeitet als Editor, als Kame­ra­mann und als Regisseur. Für den Film haben wir uns diese besondere Insel gemeinsam erschlossen. Gerade weil es im Film viele unan­ge­nehme Situa­tionen gibt, war für uns klar, dass wir in dieser unwirt­li­chen Land­schaft das Elegante und Schöne heraus­stellen wollten. Dabei zeigt der Film eine graduelle Entwick­lung von einer stati­schen zu einer immer beweg­teren Kamera, um der Befreiung der Figuren zu folgen. Der fließende Übergang zwischen sehr unter­schied­li­chen Stim­mungen ist dafür besonders wichtig, was eine der großen Leis­tungen der Montage von Maja Tennstedt ist. Weil Begehren als zentrales Thema genauso verbunden ist mit der Wirk­lich­keit wie mit unseren Träumen, gleitet der Film auch immer wieder in das Traum­hafte hinüber.

Ich kenne dich als sehr poin­tierten Dialog­schreiber, der die Figuren auch mit einer gewissen Süffisanz aufein­ander loslässt. Welche Bedeutung spielt für dich Humor beim Filme­ma­chen?

Mir ist es sehr wichtig, dass erstens ich mich selbst und zweitens die Figuren sich selbst nie komplett ernst nehmen. Es gibt stets einen doppelten Boden, insbe­son­dere in der Art, wie sie mitein­ander sprechen. Oftmals beziehen sich Dialoge auf Phrasen, die wir aus dem Alltag kennen und auf Stereo­type. Aber es gibt in anderen Momenten auch ein Sprechen, das ganz direkt ist. Dialoge sind ein Spiel von Verste­cken und Offen­legen. Komik hat natürlich auch mit Timing zu tun, und in meinen Filmen sagen Menschen oft im falschen Moment das Richtige. Es macht großen Spaß, dafür zu sorgen, dass sich Situa­tionen off oder deplat­ziert anfühlen.

Über die Verab­schie­dung der monogamen hete­ro­se­xu­ellen Beziehung beschrei­test du den Raum des Queeren. Ist diese Queerness für dich wesent­lich gewesen im Dreieck von Class, Race und Gender?

Mit All We Ever Wanted wollte ich mich mit den sich langsam verän­dernden Sehn­süchten beschäf­tigen. Wie bei meinen Kurz­filmen geht es mir darum, eine queere Erzählung zu schaffen, die offen und unvor­ein­ge­nommen ist. Der Film erforscht, wie wir fluide Sexua­lität denken und leben und wie das eine oft im Wider­spruch zum anderen steht. Es geht weniger um Identität oder Labels als vielmehr darum, wie es sich anfühlt, sich ständig auf unsi­cherem Terrain zu bewegen. Das ist für mich sehr queer.

In der Synopsis des Films steht, dass Sal schwul ist.

Das ist eine Krücke, die Außen­ste­henden helfen soll, sich zu orien­tieren. Im Film bleibt das offen, ebenso wie das Begehren von Elias, der in einer hete­ro­se­xu­ellen Beziehung lebt, aber auch mit Männern knutscht. Vermut­lich ist er bisexuell, ohne sich so zu labeln. Politisch müssen wir unbedingt für mehr Sicht­bar­keit kämpfen, insbe­son­dere für die Reprä­sen­tanz von Bise­xu­ellen. Doch hier wollte ich das Unbe­stimmte und Mehr­deu­tige zulassen. Insofern ist es ein dezidiert nicht-hete­ro­se­xu­eller Film.

Elias scheint im Trio eine leicht unter­le­gene Position zu haben. Magst du alle deine Figuren gleich gern?

Ich empfinde für alle drei eine große Zärt­lich­keit. Elias steht vor allem am Anfang des Films im Mittel­punkt, da er sich selbst in Frage stellt und sehr neuro­tisch ist. Ich finde es sehr einneh­mend, dass er gern ein anderer wäre und aus seiner Haut überhaupt nicht raus kann. Doch die anderen Figuren entwi­ckeln sich stärker. Sal, der anfangs wenig sagt, findet zunehmend seine Stimme und wird zur heim­li­chen Haupt­figur. Désirée, die zuerst die Richtung vorgibt, erlebt eine Verän­de­rung, als sich die Dynamiken verschieben.

Du hast erst Mitte 30 Filme­ma­chen studiert, obwohl du schon vorher mehrfach an Filmen beteiligt warst. Du hast parallel als Film­kri­tiker gear­beitet, später zusätz­lich als Film­ku­rator, und hast mit dem Kollegen Dennis Vetter und mir zusammen ein eigenes Festival, die Woche der Kritik, gegründet. Wieso jetzt der Wechsel zum Filme­ma­chen?

Die Leiden­schaft fürs Filme­ma­chen war immer da, aber das Schreiben über Filme hat mir lange Zeit mehr Erkenntnis und Spaß gebracht. Filme­ma­chen ist für mich kein Wechsel auf eine andere Seite, sondern ein anderer Zugang zur gleichen Leiden­schaft fürs Kino. Nach zwanzig Jahren Film­kritik und zehn Jahren als Kurator würde ich sie gern primär im Filme­ma­chen ausdrü­cken.

Müssen deine eigenen Film­pro­jekte den inneren Film­kri­tiker fürchten?

Das müssen sie unbedingt! Aber der äußert sich sehr früh, bei der Story­ent­wick­lung und beim Schreiben. Er stellt Fragen wie: Mit welchen Figuren will ich Zeit verbringen? In welchen Situa­tionen will ich ihnen begegnen? Welche drama­ti­schen Konstel­la­tionen inter­es­sieren mich? Da geht es um Lust, Humor und ein bisschen um Ethik. Am Set hat der Kritiker wenig Einfluss, da es dort um unmit­tel­bare Entschei­dungen geht.

Wie empfin­dest du das Zusam­men­spiel von Kritik und Schaf­fens­pro­zess?

Kritik und Schaf­fens­pro­zess gehen Hand in Hand. Beim kreativen Prozess geht es darum, alle Ideen zuzu­lassen, bis man eine findet, die begeis­tert. Film­kritik ist für mich ohnehin eher ein Jasagen, eine Neugierde, etwas zu entdecken, und eine Freude an der Möglich­keit, einen Film zu sehen. Diesen Ansatz sollte man sich bewahren.

Nach dem Abschluss­film kommt das Debüt. Wie geht es weiter und fürchtest du dich vor den Produk­ti­ons­ver­hält­nissen außerhalb der Hoch­schule?

Momentan arbeite ich an einem Drehbuch für eine turbu­lente Komödie über einen über­ge­wich­tigen schwulen Mann, der in alle seine hete­ro­se­xu­ellen Freunde verliebt ist. Ich bin sehr gespannt, wie Fern­seh­sender und Film­för­de­rungen darauf reagieren werden. Ich sehe es jeden­falls als Spiel und Heraus­for­de­rung und hoffe, die kreative Freiheit in neue Projekte über­tragen zu können.