41. Filmfest München 2024
Filmfest München: Kurzkritiken |
In Kooperation mit der LMU München.
Art does not come easy: Wie schon vor zwei Jahren in der Reihe Neues Deutsches Kino mit The Ordinaries gibt es auch dieses Jahr wieder einen wunderschönen, wenn auch manchmal etwas zu durchkomponierten München-Film. Das München von Camilla Guttner ist jedoch kein Gedankenspiel, sondern die sehr reale, bitter-böse Welt des Münchner Kunstbetriebs. Guttner mag sich nicht zwischen Satire und Drama entscheiden, aber das ist auch egal, denn mit einer großartig leuchtenden Maja Bons und ihrer düsteren Antagonistin Luise Aschenbrenner, muss und will dieser Film mehr als nur über ein Jahr über ein Coming-of-Age als Künstlerin an der Akadamie in München zu erzählen. Das gelingt auch deshalb so gut, weil sich Guttner über ihr kluges Drehbuch der Schwarz-Weiß-Malerei verweigert und selbst die toxischen, alten, weißen Männer-Professoren eben nicht nur als Gift, sondern auch als Möglichkeit zeichnet. Jeder, der regelmäßiger Gast der Jahresausstellungen an der Akademie ist – in zwei Wochen ist es wieder soweit – dürfte nicht nur sie, sondern auch das auf diesem Weg vergossene Blut junger Künstler mit anderen Augen sehen. – Axel Timo Purr
Weiße Wolken. Uninteressante Gespräche uninteressanter Menschen in uninteressanten Landschaften, so ließe sich Frédéric Jaegers Abschlussfilm an der UdK Berlin vielleicht am besten beschreiben. Dabei ist die Grunddisposition wirklich spannend, weil der Sehnsuchtsort Fuerteventura wunderbar gegen den Strich gebürstet wird und Jaeger dafür großartige Bilder findet. Doch das Personal, das hier ein wenig experimentell sein spätpubertäres Coming-of-Age erlebt, bleibt bei all den Leerstellen so schemenhaft wie der Ort und die Gespräche, die hier geführt werden. Ein paar Realo-Anleihen aus Mithu M. Sanyals Identitti oder Yandé Secks Weiße Wolken hätten dem Film gut getan. Stattdessen gibt es neben leeren Blicken und dürftigen Erklärdialogen eine Portion magischen Realismus in Form einer erratischen Griot, die mit mahnendem Blick klärt, was nicht zu klären ist. – Axel Timo Purr
Wie Spielsteine verteilt Frédéric Jaeger seine Thirtysomethings in der Geröllwüste von Fuerteventura. Es darf gewürfelt werden, um die Figurenkonstellationen auszuhandeln: Die schwarze Désirée, tonangebend und vergnügungsbereit, der schwarze Sal, voyeuristisch und schwul, der weiße Elias, genderfluider Steinesammler, sie alle können in dieser unterschwelligen Komödie stets die Positionen wechseln. Wer schläft im Zelt in der Mitte? Wer schlägt ein Rad? Wer verwaltet das Geld? Die aufgeworfenen Fragen des Lebens, denen man ausgesetzt ist, wenn man jäh an den existenziellen Nullpunkt gerät, sind: Wer mit wem, und warum nicht? Geht Geld über Liebe? Tonangeber der Wüste sind die Spiele von Liebe und Macht als Essenzen der Existenz. In den großzügigen Cinemascope-Bildern (Kamera: Maximilian Andereya) bleibt viel Raum für neue Gedanken. Lassen wir sie zu. – Dunja Bialas
Lasset die Selbstfindung beginnen. Drei junge Erwachsene begeben sich auf einen Low-Budget-Roadtrip durch die Wüste Fuerteventuras. Dabei werden Beziehungen auf die Probe gestellt, Maxime hinterfragt und reichlich sexuelle Spannungsfelder entwickelt. Selten traf das Prädikat »Style over Substance« so sehr auf einen Film zu. Die Aufnahmen der Landschaft sind wahrlich phänomenal. Allerdings wird das Werk vor allem durch seine eher mäßigen Schauspieler und drögen Dialoge ständig von sich selbst ausgebremst. Die Fragen, die sich die Figuren stellen, scheinen eher ein Vorwand zu sein, um die ungewöhnliche und eindrucksvolle Landschaft zu präsentieren. Manchmal findet sich zwischen den Zeilen eben doch nicht mehr, als weißes Papier. – Christian Schmuck, LMU München
Betäubte zwischen Licht und Nacht: In seinen stärksten Momenten, wenn die Soundkulisse bewusst umschlägt, den alltäglichen Lärm verdrängt und ein einfaches Klavierstück einsetzt, löst All We Imagine As Light die Spannung zwischen Dokumentarischem und Spielfilm auf. Er negiert beide Ansätze und zielt auf ein imaginäres Drittes. Wir sehen dann keine Bilder mit konkreter Bedeutung mehr; die andauernde Betäubung durch die Beleuchtung, die ständige, auch nächtliche Lichtbeschallung, die die Figuren umgibt und ihre Wahrnehmung formt, wird aufgehoben und genau darin für den Zuschauer erfahrbar. Da ist Anu, die mit ihrem Liebhaber am Beginn der Nacht steht, und Krankenschwester Prabha, die schon desillusioniert ist und nicht mehr an die Rückkehr einer Zukunft mit ihrem nach Deutschland zur Fabrikarbeit emigrierten Mann glaubt. Die Erfüllung beziehungsweise die Rettung bleibt selbst eine imaginäre, keine wirklich zu sehende, weil sie nicht in der (uns gezeigten) Gegenwart liegt. – Noah Mrosczok, LMU München
Mau mau: Wer sich noch an Alireza Golafshans bitterböses und äußerst mutiges Debüt, die »Behindertenkomödie« Die Goldfische, erinnert, dürfte bei Golafshans inzwischen dritten Film schon ein wenig schlucken. Denn aller Mut zum Risiko ist völlig verschwunden. Zwar wird ein an sich relevantes Thema, Helikopter-Eltern und die Erziehung ihres »degenerierten« Nachwuchses, mit immer wieder bissigen und guten Dialogen angemessen vorbereitet, spielen Moritz Bleibtreu und Laura Tonke leidenschaftlich ihre Rollen aus, doch entwickelt das Drehbuch nach den ersten zehn Minuten nicht mehr den geringsten Widerstands- oder Überraschungsmoment, fügt sich alles so, wie ein jeder es erwartet, gibt es allenfalls mit Tonke als vermeintlicher Femme Fatale ein wenig altbackenen Klamauk. Am Ende bleibt das Gefühl, einen netten Sommerfilm mit Bademeisterbetreuung gesehen zu haben, in der sich keiner der Protagonisten von der Stelle bewegt hat. Das ist nicht nur mau, sondern mau mau. – Axel Timo Purr
Quo vadis DDR? Gibt es im Literaturbetrieb gerade auf allen Ebenen Aufarbeitungen und Preise für Post-DDR-Themen, scheint es zumindest in dieser Ausgabe Neues Deutsches Kino gerade ad acta gelegt zu sein. Jannis Alexander Kiefers Film ist die große Ausnahme. Kiefer variiert das Thema sehr originell und immer wieder überraschend. Sein Film im Film integriert intelligent auch die Zeit, ohne die es weder BRD noch DDR gegeben hätten und erzählt mit exzellent fotografierten Bildern ein Kleinstadtleben, das in seiner Absurdität und fast schon zärtlich anmutenden Hoffnungslosigkeit an das Kino von Aki Kaurismäkis erinnert. Hoffnung und Verzweiflung sind hier offensichtlich die Seiten der gleichen Medaille, doch viel schöner als in der Szene, als sich einer der Protagonisten über seine Beatboxing-Fähigkeiten für Momente aus der Umklammerung seiner Sozialisierung befreien kann, lässt sich davon kaum erzählen. – Axel Timo Purr
»If you have a trauma – make a film.« Diesen Ratschlag gibt Regisseurin Shiori Ito ihrem Publikum, das mit ihr durch Höhen und Tiefen gehen muss. Sie hat genau das getan und in Black Box Diaries die eigene sexuelle Missbrauchserfahrung aufgearbeitet. Als Journalistin musste sie zur Wahrheit vorzudringen; einzig dieser Ansporn hielt sie über Wasser und ist doch so eng mit der schlimmsten Nacht ihres Lebens verbunden. Denn auch ihr Vergewaltiger Noriyuki Yamaguchi ist ein renommierter Fernsehjournalist. Dies als Frau gerade in Japan zur Anzeige zu bringen, bricht nicht nur ein Tabu, sondern setzt auch ihre Karriere aufs Spiel. Nach dem Vorfall 2015 sammelte Ito über 400 Stunden an Video- und Tonmaterial, welches vier Jahre Montageaufwand nach sich zog. Das Ergebnis zeigt immer wieder: Man wird als Opfer einer Gewalttat nicht durch das Erlebte definiert, sondern bleibt vor allem Mensch. Ein Film, der mit dem Mut einer jungen Frau die #MeToo Bewegung einleitete, ohne zu wissen, wie viele ihrem Beispiel folgen werden. – Maria Feckl, LMU München
Steppenwolf ohne magisches Theater. Die Band folgt Hesses »Steppenwolf« in der Zusammensetzung: John Kay, Nick St. Nicholas, eine einzige Ambiguität, mehr Wechsel der Mitglieder als große Gigs. Naja, fast: Die Band war riesig. »Born to Be Wild« in Kombination mit Easy Rider ein großes Stück amerikanischer Kulturgeschichte. Oliver Schwehm begleitet John Kay sporadisch acht Jahre lang, zeigt nicht nur die Band, sondern auch die Personen dahinter: Kay und Nicholas zogen beide als Kinder aus einem zerbrochenen Nachkriegsdeutschland nach Nordamerika, nahmen aber den Bruch im Innern mit. Der Film ist ein Nachkriegsdrama, die Geschichte eines Aufstiegs und Falls, eine des Hardrocks und die Lebensgeschichte zweier Außenseiter-Jungen, zweier Steppenwölfe zugleich. Und darin gelungen: Er ist so abwechslungsreich, dass er bezüglich des Entertainments Spielfilmcharakter hat, ohne die Vorteile, eine Dokumentation zu bleiben, zu verlieren. – Selahattin Genis, LMU München
»Would you let your girlfriend do this, too?« Die beiden Jugendlichen schauen sich prüfend in die Augen, als könnten sie mit steigender Dauer des intensiven Blickkontaktes die gewünschte Antwort vom Gegenüber herbeizaubern. Doch was an die Unschuld der ersten Liebe und unbeschwerte Jugendtage erinnert, dem haftet in A Boy and A Girl von Li-Da Hsu ein bitterer Beigeschmack an. Denn der jugendliche Protagonist lässt die Minderjährige allein ins Hotelzimmer gehen, in dem bereits ein Freier auf sie wartet – ein gemeinsames Geschäftsmodell, um endlich ihren trostlosen Leben entfliehen zu können. Der Alltag bedeutet für die beiden Herzschmerz und leere Elternhäuser; zumindest auf emotionaler Ebene. Eigentlich sind sie längst auf sich selbst gestellt auf den ziellosen Radfahrten durch die Gegend, über nächtlich leergefegte Straßen und verlassene Dünen. Kein Wunder, dass sie auf der Suche nach Erwachsenen, die sie kümmern, stattdessen einander fanden. – Maria Feckl, LMU München
Amore e Paura. Liebe und Angst, die gehören zusammen. In diesem Drama nach einem Buch von Domenico Starnone sind sie ungleich verteilt. Die hochbegabte Schülerin Teresa (Federica Rosellini) ist in ihren gutmütigen Literaturlehrer Pietro (Elio Germano) obsessiv verliebt. Eine Geschichte, wie sie tausendfach passieren kann. In einer unsäglichen Nacht gestehen sie sich ihre abgrundtiefsten Geheimnisse als Zeichen ihrer Liebe. Teresa verlässt ihn, und Pietro fürchtet um die Enthüllung, die sein ganzes Leben zerstören würde. Ein Strudel von Albträumen, manischer Liebe, Selbstmordphantasien, Ausgeliefertsein und Mordgedanken dreht sich im Kreis. Kommt Teresa irgendwann zurück? Sehr fesselnd. Jeder Mensch hat ein Geheimnis. Ich werde meines auf jeden Fall für mich behalten. – Hubert Schönwetter, LMU München
Eine weibliche, radikal feministische Partei – und die sympathischste Figur ist ein Mann. Wobei man allgemein nicht sagen kann, dass die Männer besser wegkämen als die Frauen, denn tatsächlich ist von den Hauptfiguren kaum jemand wirklich sympathisch. Allerdings ist genau das auch irgendwo der Punkt: Es geht letztendlich um Machtgier und -besessenheit. Als die Männer von einem neuartigen Virus befallen werden und reihenweise sterben, übernehmen die Frauen die Regierung und alle anderen gesellschaftlichen Bereiche. Das geht so lange gut, bis unter einigen Frauen ähnliche Machtspielchen auftauchen wie vorher unter den Männern. Dabei haben die Figuren mehr eine Funktion als einen Charakter, was zu einer schön bunten und absurden Satire führt, die allerdings auch ein paar Längen aufweist. – Paula Ruppert, LMU München
Macht korrumpiert. Diese Binsenweisheit dekliniert Irene von Alberti für eine queere Partei durch, die durch eine bizarre Epidemie, die nur Alpha-Männchen trifft (also alle Politiker), an die Macht kommt. Das erinnert in den Auswüchsen an Thomas Cailleys exzellente Dystopie Animalia. Doch Alberti will die Komödie und zeigt einmal mehr, wie schwer die Königsdisziplin Komödie ist und wie wenig funktionieren kann, auch und vielleicht gerade, wenn die Absicht besonders gut ist. Das mag auch daran liegen, dass die Realität im Grunde die Fiktion und die Gedankenspiele dieses Films schon längst von unserer woken Cancel-Realität und den Irrungen und Wirrungen der Grünen eingeholt worden sind. Der schwächste »politische Film« in der diesjährigen Ausgabe Neues Deutsches Kino. – Axel Timo Purr
Hoffnung weilt unter uns. Schon immer hatte die 15-jährige Holly etwas an sich, das die Aufmerksamkeit ihres Umfelds auf sich zog. Denn die einfache Herkunft der »Hexe«, wie ihr die Mädchen hinterherrufen, sorgt im Alltag für Ausgrenzung. Als eine Tragödie die Schule heimsucht, nimmt der Fokus auf ihre Person ein ungeahntes Ausmaß an. Etwas an Hollys stechend blauen Augen und ihrer friedlichen Aura löst in Trauernden eine Blockade – durch bloße Berührung des Mädchens. Immer größer wird das Verlangen nach ihrer Nähe, aber wer kümmert sich um sie? Auch das Publikum kann sich dieser Wirkung nicht entziehen. Denn ihr Blick fällt wiederholt auf das eigene Selbst und changiert zwischen wissendem Lächeln und ungewisser Leere. Holly verliert das Gespür für einen schmalen Grad, den Regisseurin Fien Troch in ihrem feinfühligen Drama zeigen möchte: die Balance zwischen Nächstenliebe und Aufopferung. – Maria Feckl, LMU München
Vexierbilder migrantischer Realität: Leis Bagdachs Roadmovie ist einer der überraschendsten Filme dieses Jahrgangs Neues Deutsches Kino. Nicht nur, weil er die richtigen Fragen bezüglich migrantischer Realität(en!) stellt, sondern auch, weil er dafür die richtigen und immer wieder hervorragend fotografierten Bilder findet. Wie in Max Frisch’s »Andorra« geht es auch bei Bagdach um die »Bildnisproblematik«: wie kann sich der einzelne seine eigene Identität bewahren gegenüber dem Bild, das sich die Umwelt von ihm macht? Vor allem auch gegenüber dem Bild, das er von sich selbst macht! Dieser so hochpolitisch wie tiefprivate Ansatz wird in eine hyperreale, winterliche Reise durch Deutschland eingebettet, die durch überraschende Begegnungen und exzellente Dialoge eine subtile Spannung erzeugt. Dass Bagdachs Held viel mehr ist und sogar der Prototyp eines Coming-of-Age eines Neuen Deutschland – so schön, dass es schmerzt – sein könnte, wird in der letzten Szene deutlich, in der die Musik dem Wort die Show stiehlt. Oder anders: Worüber man nicht reden kann, darüber muss man singen. - Axel Timo Purr
Sweet dreams* sind das wahrlich nicht, was uns der Director von Poor Things präsentiert. Eher stimmt: »Wir sind vielleicht alle in Gefahr!« Mafiöse Abhängigkeiten, trügerische Wahrheiten, irreale Apokalypsen, das ergibt drei Filme in einem. Von der ersten Minute an erfasst uns ein Sog in die Untiefen der Phantasie. Dem man sich nicht entziehen kann. Emma Stone, Jesse Plemons und Willem Dafoe sind gewohnt wandlungsfähig. Robbie Ryans latent bedrohliche Kamera in Untersicht bis hin zu extremen Close-ups sowie die mitreißende, auffahrende Musik von Jerskin Fendrix: Alles harmoniert perfekt. Der wilde Psycho-Tanz voller Überraschungen und dramatischen Wendungen verblüfft immer wieder. Eine Prise Coen, eine Spur Tarantino, ein echter Lanthimos. Nichts für schwache Nerven, aber eine unbedingte Empfehlung. *(Intro Song) – Hubert Schönwetter, LMU München
Wer braucht schon Konventionen? Drei Geschichten mit dreimal demselben Ensemble. Der Anthologie-Film von Lanthimos präsentiert dem Zuschauer mehr Fragen, als er beantwortet. Durchweg dominiert Lanthimos' Blick für Ästhetik, er kann sich visuell nichts vorwerfen lassen. Auf narrativer Ebene scheint sich der Regisseur jedoch damit zufrieden zu geben, die zueigen gemachten unangenehmen Situationen und ins Groteske abschweifenden, teilweise urkomischen Momente, die ihn als Regisseur kennzeichnen, zu präsentieren. Anders jedoch, als bei seinen bisherigen Filmen, fehlt es ihm an innovativen erzählerischen Ideen und einem thematischen Leitfaden, weswegen der Film sich eher im Mittelmaß seiner Filmografie bewegt. Sofern man Fan von unkonventionellen Erzählungen ist und bereit ist, dem stark spielendem Ensemble etwas abzugewinnen, lohnt es sich aber, dem Film eine Chance zu geben. – Christian Schmuck, LMU München
Karriere, Überzeugung, Hoffnung, Muse, Moral, Pech: All das behandelt das Drama Klandestin. Im Mittelpunkt stehen der illegal eingewanderte Malik, der Maler Richard, seine beste Freundin und EU-Abgeordnete Mathilda und deren Assistentin Amina. Während Malik auf ein besseres Leben hofft, gerät Tilda in einen Gewissenskonflikt, da er bei ihr in der Wohnung schläft, sie aber beruflich eine harte Migrationspolitik befürwortet – zumal nach einem islamistischen Anschlag in Frankfurt die Nerven sowieso blank liegen. Der Film erzählt die Handlung nacheinander aus der Sicht jeder einzelnen Figur. Dadurch werden diese sehr nuanciert gezeichnet und man bekommt Einblicke in die jeweiligen Standpunkte, die sich zweifelsohne aktuell auch in der Gesellschaft wiederfinden; allerdings ist der Film dadurch oft etwas schleppend und nimmt erst spät an Fahrt auf. – Paula Ruppert, LMU München
Iron Lady Reloaded: Ein Film, der alles will und wenig dabei verliert. Der die Sehnsucht nach Europa, die Flüchtlingspolitik und Flüchtlingsmisere in die richtigen, doppelbödigen und doppelmoralischen Bilder gießt und sich dabei immer wieder genug Zeit lässt, um seine ebenso politisch angelegten Charaktere nach und nach zu angemessener Komplexität zu entwickeln. Wie ein Schachspiel, das aus seiner schwarz-weißen Polarität subtile Spannung und Grauzonenanalyse entwickeln kann. Überragend Barbara Sukowa, die ein Herz aus Stein gibt und Europapolitik mit Privatpolitik furios amalgamiert und in ihrer Ambivalenz ähnlich angelegt ist die vin Anne Ratte-Polle verköperte Marion Bach in wie İlker Çataks Es gilt das gesprochene Wort. - Axel Timo Purr
Verschneite Panoramen, weitläufige Flüsse, bedrohliche Wasserfälle: Für ihren Debüt-Film fährt die französische Regisseurin Françoise Ferraton ein naturgewaltiges Spektakel auf, eine kontemplative Version unserer Welt. Es sind gedachte Landschaften auf Basis des indischen Philosophen Jiddu Krishnamurti. Verbunden werden diese herrlichen Bilder mit gelesenen Texten des Philosophen. Schnell ist man in Gedanken bei Duras India Song, bei Text/ Kontext Überlegungen, bei einem Wettstreit der Bilder mit dem (darüber) Gesagten, samt der Hoffnung der Auflösung des einen im anderen.
Dieser Formwille wird aber leider nicht erzielt, mal wird zu abrupt geschnitten, mal das Konzept völlig aufgelöst: Immer wieder kommen Archivaufnahmen des Philosophen zum Einsatz, die ihm selbst das (sein) Wort anvertrauen, den meditativen
Ansatz des Films stören. So entsteht nichts neues oder herausforderndes, die Dramaturgie ist nicht experimentell, sondern langsam und schwelgerisch.
Schlimm ist das nicht unbedingt, es bleibt ein hübscher Film, der es nur leider nicht vermag über sich selbst hinauszugreifen.
- Benedikt Guntentaler
Die erste Liebe ist immer schwierig. Und wenn zum allgemeinen Pubertätsgefühlschaos auch noch ein neuer Klassenkamerad kommt, kann alles sehr schnell völlig aus dem Ruder laufen. So geht es Amanda, die in einen Jungen aus ihrer Klasse verknallt ist und dann ein Tandem mit dem Neuen gründen soll – der aber Down-Syndrom hat und sie, ist sie überzeugt, garantiert blamieren wird. Der norwegische Kinderfilm behandelt Themen wie Vorurteile, (Cyber-)Mobbing und Gruppenzwang, aber auch Freundschaft sowie das Gefühlschaos beim ersten Crush. Dabei sind die Protagonist*innen so nahbar gestaltet, dass sie das junge Publikum ziemlich sicher verstehen wird. Dadurch entstehen eine absolut kindgerechte Darstellung und Auseinandersetzung mit diesen wichtigen Themen, die eigentlich nicht nur Kinder betreffen. – Paula Ruppert, LMU München
Lieber flanieren statt leben und lieben: So wie Wim Wenders in Perfect Days verschwurbelt auch Élise Girard japanisches Lebensgefühl zu einem folkloristischen Potpourri, durch das Isabelle Huppert als Schriftstellerin tapst und stakst und im vermeintlichen Land der Ghibli-Geister auf ihren verstorbenen, von August Diehl dargestellten Ehemann trifft. Das ist aufgesetzt dämlich und überhaupt nicht poetisch, auch wenn das der Film immer wieder behauptet. Tokio sieht hier so aus wie bei Wenders oder das Paris in Woody Allens Ein Glücksfall: Schöne Hotels, elegische Landschaften und wunderbare Autofahrten mit einer Autorin, die nicht mehr schreibt und nicht mehr liest – safer Writing so wie safer Sex. Immerhin das überrascht. – Axel Timo Purr
Fremdscham statt Fremde erfahren: Eine geistbleich-geschminkte Schriftstellerin, gespielt von Isabelle Huppert, reist beruflich nach Japan, begegnet dort ihrem verstorbenen Geliebten als August-Diehl-Geist, und verliebt sich neu in ihren japanischen Verleger. Was sich wunderbar in einer anzitierten Tradition aus Hiroshima, mon amour, Ghost – Nachricht von Sam und Lost in Translation hätte einreihen können, verliert sich im Banalen. Fäden zu den Themen der Vorbilder wie die Krise der Erzählung, der Darstellbarkeit oder der Kommunikation werden hier zwar in der Prämisse aufgeworfen und ästhetisch angetippt, jedoch an keiner Stelle weitergesponnen oder verwoben. Überlegungen des Films über Trauer und das Schreiben grätschen entweder pathetisch in den Kitsch oder lösen sich auf in unreifer Komik. Dann Schnitt. Nachhaltigen Grusel hinterlässt lediglich August Diehls Anzug. Eine wirkliche Fremdheitserfahrung wird dem Zuschauer nicht zuteil, von der durch Humor und Greenscreen hervorgebrachten Fremdscham einmal abgesehen. – Noah Mrosczok, LMU München
Warum werden Schnecken nicht 5 Meter hoch? Wer sich vor zwei Jahren nicht so recht mit der Darstellung bäuerlichen Lebens in Sabrina Sarabis Niemand ist bei den Kälbern anfreunden konnte, sollte sich Justine Bauers Film ansehen. Mit einer starken, eigenwilligen Bildsprache erzählt sie von Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die dem Leben und Sterben des bäuerlichen Berufs, ja sogar einer Schwangerschaft, mit überraschender und beeindruckender Nonchalance begegnen und dementsprechend auch Verlockungen und Berufsverbesserungsalternativen wie bei Aldi an der Kasse zu arbeiten, eine atemberaubende Resilienz entgegenbringen. Und wenn es auch nur in diesem einen, erzählten Sommer so ist, in dem die stillen Helden dieses stillen Films aufs Joghurtglas gekommen sind. Allein die Eingangssequenz mit Schaukel und der immer wiederkehrenden Stimme aus dem Off ist es wert, diesen Film anzusehen. Und das nicht nur wegen des umwerfenden deutschen Dialekts des Alemannisch-Hohenlonischen, der hier gesprochen wird. Zurecht mit dem Förderpeis Neues Deutsches Kino in der Kategorie »Produzentische Leistung« ausgezeichnet. – Axel Timo Purr
Rot und blau. Neonlicht umspült die Figuren in Motel Destino wie ein Sumpf. Verfolgt und erschüttert vom Tod seines Bruders sucht Heraldo Zuflucht im Sex-Motel Destino und in den Armen der Frau seines despotischen Betreibers. In den fensterlosen Suites, getränkt in konstantem Luststöhnen ungesehener Anderer, scheint die Zeit jede Bedeutung zu verlieren, zu schmelzen. Hintergründig plätschert die Noir-Handlung um Verfolgung, Eifersucht und Gewalt über die Masse ästhetischer Kniffe: eklektische Schnitte, poppiges Neonlicht, surreale Tiersymbolik, eine Menge expliziter Sexszenen, flackernde Heimsuchungen, weichgewaschene Traumvisionen und lyncheske Nebenfiguren. Sie sind für sich genommen spannend, verschwimmen in ihrer scheinbar wahllos gemischten Fülle doch zu einer eher dünnen Brühe. – Lee Redepenning, LMU München
Ein Film der verpassten Chancen. Diese Bezeichnung trifft leider nicht nur auf »Motel Destino« als Film zu, sondern auch auf seine diversen Handlungsstränge und Ideen. Der Film kann sich nicht entscheiden, was er nun sein will – Liebesgeschichte, Porno, Mafia Thriller. Verschiedenstes wird begonnen, aber nichts davon konsequent weiterverfolgt.
Die Ästhetik versucht, über allem zu stehen – zu Beginn noch in starken Blau-Rot-Kontrasten gehalten verliert sie sich
in der zweiten Hälfte in einer enttäuschend normalen Farbgebung. In dieser Abwärtsentwicklung spiegelt sich dann auch das vorhersehbare Ende eines Plots mit stereotypen Figuren wider. Der Großteil des Potentials eines starken Beginns und seinen diversen Elementen wird damit verschwendet. – Anna Schellkopf, LMU München
Luther auf LSD: Wenn die Realität die Satire überholt, funktioniert auch die Filmsatire nicht mehr. Vor 20 Jahren, als Stahlberg den großartigen ersten Muxmäuschenstill gemacht hat, ging das noch. Jetzt gibt es kaum noch überraschende Momente, weder wenn die Deutsche Bahn abgewatscht wird, noch die Melange aus AFD, BSW und Selbstjustizformaten lustvoll inszeniert wird. Zwar gibt es kluge Andeutungen an Nicht-Satiren wie Je suis Karl und The East, doch Stahlbergs Mockumentary dreht sich im Kreis und zündet nur ganz selten die anarchische Wucht, mit der Stahlberg etwa in seinem letzten Film Fikkefuchs noch so gnadenlos wie brillant jonglierte. – Axel Timo Purr
Oh Boy: Darf man das noch? Als deutscher Regisseur nach Ghana gehen und einen Film über das Coming-of-Age von ein paar basketballbegeisterten Jugendlichen in Ghanas Hauptstadt Accra machen, ohne das irgendwer den Vorwurf kultureller Aneignung äußert? Man sollte, man muss dürfen, denn Jan Hendrik Lübbers Hybrid aus Spiel- Dokumentar- und modernem ethnografischem Film ist eine großartige Liebeserklärung an Accra und seine Bewohner. Lübbers dringt mit einer präzise suchenden Kamera und einem subtilen und gottseidank überhaupt nicht folkloristischen Score bis in den intimsten Alltag seiner Helden, zeigt die Hinterhöfe und Wäscheleinen genauso wie das Essen und Alltagshandlungen wie Busfahren mit irren Predigern. Und dann gibt es genaue, wichtige Dialoge, wie der zwischen Mutter und Sohn, der so viel mehr von der ghanaischen Gesellschaft erzählt als der Reuters-Journalismus und man merkt, dass Lübbers nach dem Abitur elf Monate lang als freiwilliger Basketballtrainer in Accra gearbeitet hat. Lübbers Film ist auch ein hervorragendes Beispiel daafür, dass man anders als etwa Matteo Garrone in Io Capitano, auch ohne magischen Realismus und einen Schwerpunkt Migration (obwohl das Thema durchaus zur Sprache kommt) auskommen kann, wenn man von Westafrika erzählt. – Axel Timo Purr
Das Leben rettet uns vor dem Tod. Eine alternde Operndiva (hinreißend: Monica Belucci), lebendig im Pathologieschrank, ein junges, suizidales Mädchen treibt ihren Entführer zur Verzweiflung, ein älterer Mann bestellt einen Sarg mit allen Schikanen, ein philosophischer Barmann betrauert den Verlust seiner Liebe. Die lebensmüden Protagonisten wollen sterben – und doch wieder nicht. Fünf simultan erzählte Geschichten erscheinen zunächst überfordernd, doch man ist schnell mittendrin. Unterm Himmel von Paris, der eigentlichen Protagonistin. Eine herrlich schräge Komödie. Crazy, jede Pointe sitzt, und mit nachdenklichen Momenten. Französisch in bester Tradition. Zum Mitlachen und Mitfühlen. Dieser unterhaltsame Film ist der Eröffnungsfilm der kommenden Filmkunstwochen München! – Hubert Schönwetter, LMU München
Tiquinho möchte Influencer werden. Doch nicht nur das: seine Lieblingsfarbe ist pink, er experimentiert mit Make-up und geht mit Lip-Sync-Nummern live auf Social Media. Währenddessen zündet die alleinerziehende Suellen frühmorgens auf einem Berg Kerzen für ihren homosexuellen Sohn an – in Hoffnung auf Heilung. Ihre Kollegin weiß: die Zeit dafür drängt. Denn ist Tiquinho erstmal volljährig, ist der Zug zur Umkehr endgültig abgefahren. Dass sich diese während der Arbeitszeit mit Kollegen zum Stelldichein trifft, verschweigt die strenggläubige Dame ihrer Freundin jedoch; schließlich feiert sie 39. Hochzeitstag. Eine Umkehrtherapie verspricht Hoffnung, aber wie soll Suellen sich diese leisten? Regisseurin Carolina Markowicz erzählt in ihrer bissigen Komödie von einem (doppel)moralischen Dilemma und stellt die Frage, wieweit wir von unseren eigenen Prinzipen abweichen, um denen der Gesellschaft gerecht zu werden. – Maria Feckl, LMU München
Das enfant terrible der deutschen Politik. Antipolitikerin in den höchsten Sphären der Politik, Mitgründerin der Antiparteienpartei: Petra Kelly. Doris Metz zeigt die Verkörperung des deutschen Philisterschrecks nicht nur politisch, sondern vor allem privat. Einerseits zwischen Honecker und Kennedy, andererseits zwischen den USA, Bonn und der Oma in Mittelfranken. Nicht Petra Kelly, die Aktivistin, auch Petra, der Mensch. Metz fängt beide Perspektiven durch die Berücksichtigung unterschiedlichster Stimmen ein: Otto Schily, Luisa Neubauer, Kellys Bruder John, ihre Freundin Eva. Neue ungesehene Bilder, Stimmen zu Kelly aus drei Generationen – mit politischem, wie privaten Fokus. Dem Film gelingt viel. Man sieht ihn politisch, sieht aber auch, wogegen Kelly abstrakt kämpft im Alltag ihres eigenen Lebens: eine gequälte Frau, am Ende wohl durch die Hände eines einnehmenden Mannes ermordet. Politik und Privates sind nicht zu trennen – Metz zeigt das und auch deswegen hat man einen (leider!) aktuellen Film gesehen. – Selahattin Genis, LMU München
Was passiert, wenn man ein Theaterensemble mithilfe von Motion-Capturing animiert und in ein futuristisches Setting setzt? Diese Idee liegt Planet Magnon zugrunde. Die uns bekannte Weltordnung hat sich grundlegend geändert; die Menschen leben in Kollektiven, die teils sektenartige Züge anzunehmen scheinen. Plötzliche, in den sonst eintönigen Farben giftgrüne Gewaltanschläge stören den herrschenden Frieden, und es folgt gewissermaßen eine Abenteuerreise durch die verschiedenen Planeten des Sonnensystems. Dabei hat jeder Planet seine eigenen Farben, seine eigenen Strukturen, seine eigene Landschaft. Der sehr realistische, aber auch extrem glatte Animationsstil wird wohl nicht jede*r gefallen. In Kombination mit der komplett elektronischen Musik entsteht alles in allem ein experimentelles Science-Fiction-Werk. – Paula Ruppert, LMU München
Sie sind die Geister, die stets verneinen! Und das mit Stil. So in etwa lässt sich Scott Cummings' Realm of Satan wohl am besten beschreiben. Der Film portraitiert Mitglieder der Church of Satan und liegt dabei irgendwo zwischen Dokumentar- und Spielfilm. Er gibt Einblicke in die Häuser, Gewohnheiten und Rituale seiner Figuren, verteufelt sie aber nie, da alle Szenen in Zusammenarbeit mit den Protagonist*innen selbst inszeniert sind. Man hat jedoch nicht das Gefühl, dass dadurch eine arg ideell geprägte Darstellung zustande kommt; vielmehr entsteht ein Kaleidoskop von sehr auf die Ästhetik bedachten Individuen. Diese prägt den dialogarmen Film, der durch den Ton mit den Möglichkeiten einer weiteren Ebene spielt. Das führt zu einem sehr lohnenswerten Dokumentarfilm – der im klassischen Sinne nicht wirklich einer ist. – Paula Ruppert, LMU München
Ein dunkler Raum, rote Tapeten, eine Ziege auf dem Esstisch. Dieses Spiel mit Klischees und gelebter Realität durchdringt den gesamten Film, der den Führungspersonen der »Church of Satan« Raum zur Selbstinszenierung gibt. Gleichzeitig wird den Zusehenden durch Scott Cummings ein einzigartiger und faszinierender Blick in die Leben von Satanist:innen gewährt, der gleichermaßen mit dokumentarischen wie fiktionalisierten Elementen arbeitet und frei von
Vorverurteilung ist.
Die durchgestylte Ästhetik der Satanist:innen – ein wichtiges Element im praktizierten Satanismus – bildet die Grundlage der visuellen Gestaltung des Films selbst. Es wird eine eine fast fiebertraumartige Erfahrung geschaffen, getragen von wechselnder Musik verschiedener Stile und dunklen Farben, nur selten von gesprochenem Wort unterbrochen. – Anna Schellkopf, LMU München
Krisengipfel. Oder: Stell dir vor, es ist G7-Treffen und die Apokalypse bricht aus. Gerade noch bei Fototermin und Arbeits-Dinner sehen sich die Regierungschefs der bedeutendsten Industriestaaten der westlichen Welt mit einer neuen, brisanten Krise konfrontiert: die wiederauferstandenen Moorleichen Niedersachsens. Auf der Suche nach Hilfe kämpfen sich die Karikaturen bekannter Politiker*innen – eine Angela Merkel zwischen sachlich und schmachtend, die sich an einen hyperemotionalen Justin Trudeau schmeißt, während Joe Biden schwurbelnd über seine Todeswünsche sinniert – durch künstliche Sets und ihre eigene Überforderung. Die satirische Überzeichnung vom Typ »Heute Show« findet in Kombination mit dem Remix klassischer Genrehorror-Elemente eine bizarre Balance aus reinem Klamauk und bissigem Humor. – Lee Redepenning, LMU München
Politgroteske, die sich alle Freiheiten nimmt. Auf Burg Dankerode treffen sich die Staatschefs zum G7-Gipfel, nach getaner Arbeit sollen sie in einem Pavillon im Park ein vorläufiges Statement zur globalen Lage verfassen. Hilde, Gastgeberin und deutsche Kanzlerin, süffisant von Cate Blanchett verkörpert, teilt in Arbeitsgruppen ein, alle brainstormen dilettantisch, lassen sich von ihren Gelüsten (Wein, Sex) ablenken und vom Banalen, das ihnen so durch den Kopf geht (Urlaub, Hobbys). Während die Präsidenten tagen, versinkt der Park im Nebel, als wäre würde hier noch einmal Lars von Triers Melancholia gegeben. Sex, Schlamm und ein Zombie-Rudel zersetzen schließlich die Versammlung. Das ist deutsche Angst, ist deutscher Wald, märchenhaft und absurd. Vom kanadischen Experimentalfilmer Guy Maddin. – Dunja Bialas
Uns geht es gut hier. Was natürlich alles andere als wahr ist, so wie bei jedem, der das von sich und seiner Beziehung behauptet. In Judith Angerbauers dichtem Psychogramm über ein Paar mit Kind während einer Auszeit auf einer griechischen Insel bricht das Kartenhaus der behaupteten Familienidylle jedoch schnell zusammen, gibt es wuchtige, wahrhaftige Streitszenen und nicht mal der Sex ist noch schmerzfrei. Angerbau zieht die Schrauben mit weiteren Protagonisten souverän und psychologisch differenziert an, so dass am Ende ein Totentanz der Dysfunktionalität entsteht, der kaum besser inszeniert sein könnte und immer wieder an den großen Klassiker einer erodierender Beziehung, an Ingmar Bergmans Szenen einer Ehe erinnert. – Axel Timo Purr
Stell dir vor, du erzählst einen Witz und keiner lacht. So ähnlich geht es dem Drehbuchautor Joseph, dem Protagonisten in Fabian Stumms Sad Jokes. Nur findet bei ihm ein Produzent sein ganzes Drehbuch überhaupt nicht lustig, obwohl es eigentlich eine Komödie hätte werden sollen. Eine Komödie, deren Witze ab und zu auch traurig sind. Und so ungefähr lässt sich der ganze Film beschreiben: lustig und irgendwo traurig. Witzige Dialoge, tragikomische Momente, Situationskomik und ernstere Episoden wechseln sich ab. Zum Glück möchte man hier, anders als in Josephs Drehbuch, gern ab und zu lachen. Gleichzeitig kann man hinter den Dialogen und Fassaden entweder eine tiefere Ebene suchen, oder aber sich einfach nur unterhalten lassen, was „Sad Jokes“ zu einem sehr angenehmen Seherlebnis macht. – Paula Ruppert, LMU München
Dieser Film-im-Film ist so klug wie emotional und wirklich außergewöhnlich. Unter der Regie von Fabian Stumm, der auch vor der Kamera als Hauptdarsteller brilliert, entfaltet sich ein tiefsinniger, komischer und immer wieder berührender Reigen über Leben und Überleben im Alltag eines Filmemachers. Die grundsätzlichste Frage deutet sich bereits im Titel des Films an: ist nicht Traurigkeit und Scheitern die eigentliche Grundlage jeden Humors? Stumm gibt nicht nur eine Antwort, sondern über seine bis in die kleinste Nebenrolle großartiges Ensemble variiert er seine Antworten auf beruflicher und persönlicher Ebene mit Dialogen, die fast immer unter die Haut gehen und überraschen. Allein der sich grandios entwickelnde Monolog aus Schillers Jungfrau von Orleans erzählt ein ganzes Leben, so traurig wie schön. Keine Überraschung ist es, dass Stumms Film sowohl den FIPRESCI- als auch den Förderpreis Neues Deutsches Kino für Regie erhalten hat. – Axel Timo Purr
Über die Bürde, erwachsen zu werden. Am Strand eines brasilianischen Fischerdorfes erlebt Tamara ihren letzten Sommer mit ihren Freunden, bevor sie in die Stadt Brasilia zieht. Dabei arbeitet sich der Film an den gängigen Coming-of-Age Themen ab. Die Regisseure kreieren streckenweise großartige Momente, wenn sie das Setting und die Figuren frei agieren lassen und man das Gefühl bekommt, einfach nur einen Ausschnitt aus dem Leben der Jugendlichen zu verfolgen, wobei der Film emotional häufig die richtigen Töne trifft. Trotz dieser sehr guten Momente kommt der Film nicht um einige Klischees und Längen umher. Insgesamt dennoch definitiv sehenswert, alleine wegen der erfrischenden Darbietungen der Jungdarsteller. – Christian Schmuck, LMU München
»When I die, you can eat me.« Am Ende seiner Kräfte trifft der buddhistische Mönch im tibetischen Hochland auf den Schneeleoparden, den er früher einmal gerettet hat. Mystische Bilder eines einzigartigen Wesens in einer grandiosen Landschaft. Das ist großartig. Derselbe Schneeleopard reißt später mehrere Schafe und wird festgesetzt. Reporter, Beamte und Polizisten streiten mit dem Schäfer um Entschädigung und Freilassung des streng geschützten Tieres. Diese aggressive Auseinandersetzung nimmt leider einen zu großen Teil des Films ein und passt nicht zum Kern der Story um die magische Beziehung von Mönch und Schneeleopard. Eine erstaunliche Parallele: Wolf und Bär verschmähen auch hierzulande keine Schafe. Noch pikanter wird’s, wenn die Staatskanzlei Problembären im Wirtschaftsministerium verortet. – Hubert Schönwetter, LMU München
Sonnenplätze (Deutschland/Spanien 2024 · R: Aaron Arens · Neues Deutsches Kino)
Künstler sind keine leichten Menschen. Hat man mehrere von ihnen auf einmal und steckt sie auch noch in eine komplizierte Familiensituation, sind Chaos und Drama vorprogrammiert. In „Sonnenplätze“ werden alle Figuren auch in ihren schlechten Eigenschaften gezeichnet, allerdings wird man weder genervt von ihnen, noch hasst sie am Ende. Dazu gäben sie jedoch genug Anlass: Die Tochter, aufstrebende Autorin, kriegt ihr Buch nicht verlegt und flüchtet vor der Realität ins familiäre Ferienhaus auf Lanzarote. Dort findet sie ihren Vater, ebenfalls Autor, der scheinbar aus ähnlichen Gründen da ist. In den hügeligen Weiten der Insel kommt sich die Familie letztendlich nicht aus und muss sich aussprechen – was keineswegs einfach ist, da kaum ein Familienmitglied im gesprochenen Wort die offensichtliche Wahrheit sagen kann. – Paula Ruppert, LMU München
Liebe ohne Leiden? Künstler ohne Exzentrik? Sein ohne Schein? Diese Fragen werden in Aaron Arens' komödiantisch aufbereitetem Familiendrama aufgeworfen. Eine zerbrochene Künstlerfamilie kommt am Ort des Glücks vergangener Tage zusammen. In ihrem Haus auf Lanzarote zerbricht sie an der Exzentrik und am Schein – und findet schließlich aber doch ihren Platz in der Sonne. Arens, der an der HFF in München studierte (wo Wim Wenders noch immer Honorarprofessor ist) folgt in seinem Abschlussfilm dem Drive, lässt seinen Film durch die Wüste laufen; äußerlich unaufgeregt, innerlich brennend betrachten; schreien; den Zuschauer Kind sein wollen – den Künstler sich das Ohr abschießen. Der Film lohnt sich, sofern man akzeptiert, dass das Leben zwischen Liebe, Leid, Kunst, Exzentrik oder dem Sein und Schein stattfinden. Zu verstehen: Er lohnt sich. – Selahattin Genis, LMU München
Glück für alle Zeit oder die Hölle ist immer zuerst die eigene Familie. Da hilft es natürlich auch nicht, wenn die Familie sich wie in Aaron Arens Familiendrama im intellektuellen Milieu einer Schriftsteller- und Verlegerfamilie bewegt und das Reflektieren über das eigene Leben zum beruflichen und privaten Alltag wie die Butter aufs Brot gehört. Arens Introspektive einer dysfunktionalen Familie überzeugt vor allem durch den mutigen Ansatz keine Person sympathisch zu zeichnen und irgendwie alle schlecht wegkommen – so wie in dem Debütroman der hier gezeigten Tochter und Jungschriftstellerin. Dass es wieder einmal ein Sehnsuchtsort der Deutschen sein muss (Lanzarote, siehe Sabbatical und All we ever wanted für andere Beispiele dieser Spielart in diesem Jahr), um eine deutsche Familie zu dekonstruieren, also eine etwas banale Hinterfragung eines vermeintlichen Paradieses, hätte nicht unbedingt sein gemusst, aber für den Drehbuch-Förderpreis Neues Deutsches Kino, hat es dennoch gereich. – Axel Timo Purr
Körpersymmetrien. Die Figuren in Swimming Home kreisen um sich selbst, unergründlich, abgeschlossen, schön. Fast obsessiv wirkt die Übersetzung von Beziehungskonstellationen ins Visuelle. In jeder Einstellung werden Körper zu Skulpturen komponiert, in satten Farben des 16mm-Films und kaum spürbaren Kamerabewegungen zu Kunstwerken inszeniert. Handlung (beim Familienurlaub in Griechenland bringt eine Fremde Chaos ins System) ist Nebensache, vielmehr formieren sich an der ungebetenen Gästin Frakturen in der Scheinharmonie. Und doch ist da mehr unter der Oberfläche; Knackse in der Patina, die Einblicke zulassen in ein Inneres, das hervorzubersten droht. Die Adaption von Deborah Levys Roman entwickelt in seiner bildgewaltigen Langsamkeit einen verstörenden Sog, dem man sich nur schwer entziehen kann. – Lee Redepenning, LMU München
Eigenartige, mit Horrorelementen versetzte Intrudergeschichte des britischen Künstlers Justin Anderson. Eine Familie mit einem depressiv-melancholischen Poeten als Vater macht Urlaub in Griechenland. Eines Tages treibt im Swimmingpool ein nackter Frauenkörper: Kitty (Ariane Labed). Sie ist die zentrale Figur, die das familiäre Gefüge in Off-Balance bringen wird, auch ganz wörtlich, denn Kitty, die Botanikerin, lernt nicht nur sehr schnell Gedichte auswendig, sondern interessiert sich auch für die lokale Modern-Dance-Szene, in der Artisten auf allen Vieren performen, als wären sie Spinnentiere, um sich hinterrücks ins Bewusstsein der Menschen zu schleichen. Statt auf einen verdrehten Horror-Plot vertraut der Film jedoch aufs Atmosphärische, auf leise Psychogramme seiner Figuren, erzählt von der Schwüle und (sexuellen) Überhitzung der Gemüter im Huis-Clos einer Sommervilla. – Dunja Bialas
Sport ist Politik. Es mag sich ein wenig plakativ anhören, dass Tatami der erste Spielfilm ist, der von einem iranisch-israelischen Regie-Duo inszeniert wurde. Doch der Film hält dieses Werbeversprechen, auch weil er wie jeder gute Sportfilm ein politischer Film ist, in dem psychologisch differenziert austariert wird, wie schwer der Weg ist, sich in einem totalitären Regime »richtig« zu verhalten, ohne dabei Freunde und Familie zu gefährden. Wie schon in seinem hervorragenden Golda zeigt Nattiv auch hier, wie aus einem fast schon kammerspielartigen Setting ein beklemmendes Thriller-Narrativ entstehen kann, in dem alle Facetten des Widerstands und der Anpassung durchdekliniert werden, ohne das dabei moralinsauer aufgestoßen werden muss. Und nicht zuletzt überzeugt auch der Sport selbst, zeigen Amir und Nativ, was Judo ist und wie sehr dieser hier aufregend inszenierte und gefilmte Sport so wie Fußball an sich schon politisches Handeln artikuliert. Ein Film, der vielleicht zu einem ähnlichen politischen Türöffner werden könnte wie die Serie Tehran. – Axel Timo Purr
Isländisches Haiku. Flashback in der Corona-Anfangszeit 2020: 1969 arbeitet der isländische Student Kristófer aus einer Laune heraus in einem japanischen Restaurant in London. Er verliebt sich in Miko, die Tochter des Chefs. Bald darauf verschwindet die japanische Familie spurlos. Nach 50 Jahren (erst jetzt, weil er bislang verheiratet war?) macht sich Kristófer auf die Suche nach seiner damaligen Liebe, die ihn bis nach Hiroshima führt. Baltasar Kormákur erzählt das Liebesdrama nach der Roman-Vorlage von Ólafur Jóhann Ólafsson durchgehend sehr leise und ruhig. Ein schüchterner Isländer und eine junge, aufmüpfige Japanerin. Ungewöhnlich. Das aufrührende Geheimnis ihrer Flucht aus London löst sich erst am Ende der Story auf. Darauf muss man lange warten. Ein Film, auf den man sich besonders einlassen muss. Dann entfaltet er seine Wirkung. – Hubert Schönwetter, LMU München
Ladies and Gentlemen…The Rolling Stones! Der klassische Beginn eines Stones Konzerts bildet hier die letzten Worte des Films. Man fragt sich jedoch, was die Stones denn jetzt genau mit diesem Film zu tun hatten. Wir verfolgen das Leben der Mitte 40-jährigen geschiedenen Mutter Rita, die eine Midlife-Crisis durchlebt. Der Film plätschert mehr oder weniger so dahin, während Rita mit ihrem Sohn, ihrer alternden Mutter und ihrem Liebesleben zu kämpfen hat. Dabei schafft es der Film kaum, interessante oder emotionale Momente herzustellen, sondern beschränkt sich auf oberflächliches Abklappern der gängigen Themen eines solchen Dramas. Mitunter vermag es der Film an einigen Stellen eine gewisse humoristische Leichtigkeit zu präsentieren, um jedoch spätestens im letzten Drittel seinen erzählerischen Schwächen zu erliegen. – Christian Schmuck, LMU München
Zwischen junger Liebe und traumatischer Enfilade. Ein Film, der sich gleich zwei großen Themenkomplexen annimmt. Einerseits verfolgen wir das junge Paar Viet und Nam, die ihre Homosexualität verbergen müssen. Zum anderen thematisiert der Regisseur Nachkriegsfolgen und Traumata. Mit pointierter Ruhe wird die Geschichte in außergewöhnlichen Analogfilm-Bildern und episodenhaften Abschnitten erzählt. Mitunter verliert der Regisseur etwas den Blick fürs Wesentliche. Trotzdem weiß er zu beeindrucken und dem Zuschauer ein gesellschaftliches Bild von Vietnam um die Jahrtausendwende aufzuzeigen, welches nachhaltig im Gedächtnis bleibt. Lässt man sich einmal auf das Tempo und die Erzählweise ein, sieht man einen bewegenden Film. – Christian Schmuck, LMU München
Ein Traum von Europa: Mit einem eindringlichen Elektro-Score erzählt Noaz Deshe von dem surrealen, dann wieder hyperrealen Alltag in einem griechischen Flüchtlingscamp. Ein wenig stört der magische Realismus, den Deshe immer wieder benutzt, um seine Geschichte mit einem allzu vagen moralischen Impetus zu verankern. Doch der Film ist gerade dann am stärksten, wenn er sich wie die Fortsetzung von Agnieszka Hollands Green Border sieht, wenn er von Traumatisierung und Kleingruppenpolitisierung und von völlig grotesken Sehnsüchten nach einem Europa spricht, dass es so natürlich gar nicht gibt, dass dann auch in dem finalen Teil des Films einem aseptischen Tagtraum gleicht. – Axel Timo Purr
»Eine geile Zeit« haben die Familien im Hinterhof eines DDR-Wohnblocks. Zufrieden mit ihrem einfachen Leben, doch Arbeitslosigkeit und Zukunftsängste in der Zeit der Währungsumstellung nach der Wiedervereinigung Deutschlands belasten. Zufällig finden sie Millionen bald ungültiger Ostwährung und die Marktwirtschaft – sprich: die dunkle Seite des Kapitalismus – stürzt die Hausgemeinschaft in absurde Geschäftigkeit. Natja Brunckhorst, zuerst bekannt als 13jährige »Christiane F. – Wir Kinder vom Bahnhof Zoo«, schrieb auch das Drehbuch. Der große Star Sandra Hüller als Maren (in einer für den Plot überflüssigen Dreiecksbeziehung) nimmt sich angenehm zurück, Peter Kurth (Onkel Markowski) ist der überzeugende »Pate«, wobei man bei ihm immer den Eindruck hat, er braucht nicht groß zu schauspielern. Trotz Überlängen in der zweiten Hälfte und teils unpassender Musik bietet die leichte Komödie humorvolle Unterhaltung. Ein allerletztes DDR-Märchen mit vermeintlichem Happy End. – Hubert Schönwetter, LMU München
Wann endlich hören wir damit auf, die DDR als Märchen zu erzählen? Durch den Gelbfilter betrachtet Natja Brunckhorst die Zeit direkt nach dem Mauerfall, die Währungsunion steht bevor. Klar, dass die Ossis mit der abgewickelten Mark Reibach machen und es den Wessis zeigen wollen! Dabei wird überstrapaziert: der Mythos von der guten deutschen (DDR-)Mark, die Zeichnung der bösen Kapitalistenschweine, die Gemütlichkeit der Ost-Gemeinschaft, als wäre die DDR lediglich »Marienhof«. Sandra Hüller und Ronald Zehrfeld geben sich alle Mühe, den Film zu retten, arbeiten sich aber erfolglos an den Redundanzen und plumpen Dialogen ab. Zwei zu eins sollte wohl ein zweiter Good Bye, Lenin! werden. Angeblich nach einer wahren Geschichte. Wann endlich werden die wirklich wahren Geschichten über die DDR erzählt? Wann endlich nehmen wir das Schicksal des Osten ernst? – Dunja Bialas