27.06.2024
Cinema Moralia – Folge 327

Großzügiger Blick auf den Maulwurfshügel

Die geschützten Männer
Grund zur Vorfreude: Irene von Albertis Die geschützten Männer
(Foto: René Fietzek/Filmgalerie451)

»Nur mal reinschauen«. Erst stirbt die Kritik, dann der Film: Sammeln, übersehen, zeigen was bleiben muss, aber nie missbilligen – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogehers, 327. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Wer ständig im feind­li­chen Feld nach Anzeichen des Beifalls Ausschau hält, macht seine Feinde zu Schieds­rich­tern des eigenen Redens«.
– Hans-Magnus Enzens­berger 1962 zur Angst vor Beifall von der falschen Seite

»Was den Sammler des Weiteren umtreibt, ist das Bedürfnis, dem Leben eine Ordnung zu verleihen, die es sonst nicht hat.«
– Michael Althen

Filmfest München mal wieder – man kommt wohl nicht drumherum. Außerdem freuen wir uns natürlich immer, wenn wir einen Vorwand haben, um nach München zu fahren. Erst recht weil das Wetter hoffent­lich auch nächste Woche gut genug ist, um viel draußen zu sein. Weil es schöne Empfänge gibt, vom FFF und von ARTE und von der Bavaria und weil der Wett­be­werb über neue deutsche Filme einige ganz wunder­bare Werke verspricht, die uns für alles andere entschä­digen werden.

Ich persön­lich freue mich – nicht nur aus persön­li­chen Gründen – sehr auf Klan­destin, den neuen Film von Angelina Maccarone, in dem Barbara Sukowa eine ganz außer­ge­wöhn­liche Haupt­rolle spielt, als konser­va­tive Poli­ti­kerin. Mehr dazu im Podcast von heute.
Ich freue mich über Die Ermitt­lung nach Peter Weiss von RP Kahl, mit dem ich ein sehr sehr facet­ten­rei­ches Podcast-Gespräch geführt habe, das nächste und übernächste Woche hier an dieser Stelle erscheinen wird.
Ich freue mich und bin natürlich ungemein gespannt auf den ersten Spielfilm von Frédéric Jaeger, der, wie nicht alle wissen, aus München kommt, und jetzt als Filme­ma­cher seine zweite – oder dritte? – Geburt in seiner Heimat­stadt erlebt. Frédéric war bekann­ter­maßen lange Zeit Film­kri­tiker, nicht nur als Gründer und Chef­re­dak­teur von critic.de, er war danach Programmer für verschie­dene Festivals, unter anderem hat er die »Woche der Kritik« geleitet und in Mannheim-Heidel­berg gear­beitet, und jetzt will er all das mögli­cher­weise ganz hinter sich lassen und nur noch Filme machen. Allein schon diese Entschie­den­heit ist eine gute Voraus­set­zung dafür und wenn seine Filme dann auch nur annähernd so entschieden sind, kann es nicht anders als wunderbar werden.
Und schließ­lich freue ich mich natürlich auch über den neuen Film von Irene von Alberti – unver­gessen ist ihr letzter Film, der ebenfalls auf dem Filmfest Premiere hatte: Der lange Sommer der Theorie.

Das waren alles noch vor-pande­mi­sche Zeiten, die ganz ganz lange her sind, länger als die sieben Jahre, die im Kalender stehen.

+ + +

Was das Filmfest München aber immer war: Es war eh ein Fest und ein Anlass, Freunde und Bekannte zu sehen, und solche die es gerne werden möchten, und außerdem: Ein Ort, an dem man die Fußball-WM oder EM erlebt hat. Unver­gessen: Wesley Sneider haut im Allein­gang Brasilien raus. Oder, auch 2010: Ich saß mit Carlos im Schuhmann’s, ein Münchner Schrift­steller lästert übel über zwei arme Spanier, die im Trikot vorbei­gingen, und ich sage laut genug für den Neben­tisch: »Morgen is' Schluss«. Fast hätte sich der Dichter mit mir geprügelt, hätte ihn der Feuil­le­ton­chef einer Süddeut­schen Tages­zei­tung nicht zurück­ge­halten, aber ich hatte recht gehabt: Am Abend später flogen die Deutschen im Halb­fi­nale gegen den kommenden Welt­meister raus.

+ + +

Was gibt’s sonst noch? Beim Filmfest eine ganze Menge soge­nannte »kleine« Filme, inde­pen­dent, aber nicht à la Ulla Rapp, alles ein bisschen zu nett, zu brav, ohne Vision.

In einer Kata­log­be­schrei­bung heißt es: »Ein atmo­sphärisch dichter berüh­render Film über die heilenden Kräfte von Krea­ti­vität und Freund­schaft«. Wer will denn so etwas sehen?

Oder: »Nach einem schweren Verlust hat sich Allen, früher ein großer Player im Musik­ge­schäft, in eine abge­le­gene Hütte zurück­ge­zogen. Umgeben von der Einsam­keit der kana­di­schen Wildnis und den sphäri­schen Sounds seines Tonstu­dios ringt er mit seiner Trauer. Doch eine uner­war­tete Begegnung durch­bricht Allens Isolation und zeigt ihm neue Perspek­tiven auf.«

Oder: »Ein essay­is­ti­scher Doku­men­tar­film über unseren mensch­li­chen Blick auf Falter, aber auch über Klima­wandel und Biodi­ver­sität.« Letzteres muss schon sein: Ein Zweck, ein poli­ti­scher Anlass, Kino als Illus­tra­tion einer Agenda. Da sich Falter nicht für den »Kampf gegen rechts« eigenen, also Biodi­ver­sität.
Und dann natürlich: die atem­be­rau­benden medi­ta­tiven Bilder. Meditativ, hey!

Schlafen kann ich, wenn ich tot bin.

+ + +

Es gibt immerhin die tollen Cannes-Replays. Aber nicht The Substance. Der ist alles, aber nicht »Femi­nis­tisch-sati­ri­scher Body-Horror«.
Dazu habe ich hier ausführ­lich geschrieben.

Der Film mit Kate Winslet über Lee Miller wäre toll, weil Lee Miller toll war. Aber es ist halt einfach kein guter Film. Schade.

+ + +

Was aber wieder für alles entschä­digt: »Zum 41. FILMFEST MÜNCHEN wird im Pavillon 333 die private Film­samm­lung des 2011 verstor­benen Film­jour­na­listen Michael Althen präsen­tiert. Von den 1980er Jahren bis in die frühen 2000er hat der Münchner Kritiker über 5500 Filme bei Ausstrah­lung im Fernsehen auf VHS-Kassetten aufge­zeichnet, numme­riert und archi­viert. Von den großen Klas­si­kern über B-Movies bis zu Lieb­lings­filmen. Dazwi­schen auch Filmpreis-Verlei­hungen und Baseball-Spiele. Ob sich die Aufnahmen noch einmal angesehen wurden oder nicht, allein, dass sie ständig zugäng­lich waren, war der Sinn der Sache.«

Sophie Mühe und Artur Althen sind beide in cine­as­ti­schen Haus­halten groß­ge­worden und lieben es, Filme zu schauen und Filme zu machen. Gemeinsam begeben sie sich mit der Althen­schen VHS-Sammlung auf die Suche nach Klas­si­kern und anderen Filmen, die nicht im Kanon gelandet sind, nach verges­senen und verschwun­denen Filmen, die nicht die Tran­si­tion in das nächste Medium geschafft haben.

Die Sammlung wird also noch einmal unter die Lupe genommen, bevor sie endgültig aufgelöst wird. In der Ausstel­lung »Was muss bleiben« wühlen Sophie Mühe und Artur Althen perfor­mativ in dem Fundus, spielen Kassetten auf (Röhren-)Fern­se­hern ab, öffnen den Raum für den (Film-)Dialog und zeigen in fünf Scree­nings Fund­s­tücke aus der privaten Sammlung eines leiden­schaft­li­chen Kino­gän­gers. Frei nach dem Motto von Michael Althen: »Nur mal rein­schauen«. (Text NN)

+ + +

»Gegen die Unüber­sicht­lich­keit des Alltags, gegen das Chaos der Emotionen und Bezie­hungen wird die schein­bare Ordnung der Sammlung gesetzt. Wobei die Ruhe trüge­risch ist: Denn nie ist eine Sammlung so komplett, perfekt und umfang­reich, wie sie sein sollte oder könnte. Denn zwar will der Sammler die Welt im Kleinen wieder­geben, aber die Beschei­dung ist seine Sache nicht – am Ende mündet alles in einen Wahn: nichts zu übersehen, nichts auszu­lassen, nichts zu vergessen. Man könnte das Alzhei­mers Wahn nennen.«
– Michael Althen, 1997

+ + +

Nur eine kleine Anmerkung: Nicht vom Filmfest, aber von über­en­ga­gierten Pres­se­kol­legen werde ich darauf aufmerksam gemacht, dass es für bestimmte Filme ein »Embargo« gibt zum Schreiben über sie. Ich glaube, dass hier einige den Schuss noch nicht gehört haben. Alle Verleiher und ihre Pres­se­agenten können froh sein, wenn es überhaupt noch Leute gibt, die über Filme schreiben, vor während oder nach einem Embargo. Lange wird das nicht mehr der Fall sein.

Erst stirbt die Kritik, dann der Film.

+ + +

Es ist schon 15 Jahre her, da erschien das 14. Heft der Film­zeit­schrift Revolver. Darin kann man alles über die Film­kritik lernen, was man nicht weiß. Unter anderem, dass zu ihr notwendig Groß­zü­gig­keit gehört. Genauso wie zu ihr nicht weniger notwendig Kritik der Kritik und Selbst­kritik gehört. Hart, persön­lich, leiden­schaft­lich und unmiss­ver­s­tänd­lich in der Sprache.
Auch viele, die sich Film­kri­tiker nennen, wissen das nicht. Mit ihnen wird dieser Beruf sterben.

+ + +

Fußball ist, wir wissen das seit langem, das bessere Kino. Nicht nur, weil man nicht weiß, wie es ausgeht. Man kann vom Fußball manches über das Kino lernen, auch über Darstel­lungen von Dramatik und über Inten­sität. Man kann vom Fußball sehr viel über Ästhetik lernen.
Man kann vom Fußball sehr viel für das Leben lernen. Man muss aller­dings auch lernen wollen und die Lehren ziehen.