»Kritiken sind Seismografen der Gegenwart« |
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Zersplitterung der Filmgeschichte, um sie zum Großen und Ganzen zusammenzufügen |
Das Gespräch führte Cornelia Klauß
Das Kino der Weimarer Republik, die Gegenwart und die Lage der Archive – Gespräch mit Rüdiger Suchsland, Kritiker, Autor und Regisseur des Films Von Caligari zu Hitler
Am kommenden Montag, 30.11.2015 läuft ab 17:30 Uhr im Roten Kino der HFF München, Bernd-Eichinger-Platz 1, der Film Von Caligari zu Hitler in einer öffentlichen Vorführung.
Hierzu veröffentlichen wir eine erweiterte, und
leicht überarbeitete Fassung eines Gesprächs, das Cornelia Klauß (u.a. Mitglied der Programmkommission von Dok Leipzig und medienpolitische Sprecherin des Bundesverband Kommunale Filmarbeit) mit Rüdiger Suchsland im Mai 2015 in Berlin für die
Zeitschrift „Kinema Kommunal“ führte.
artechock: Was drängt einen im Jahre 2015, sich die 1920er, 1930er-Jahre anzuschauen?
Rüdiger Suchsland: Die Initialzündung war die Darmstädter Ausstellung „Gesamtkunstwerk Expressionismus“, die u.a. vom DIF kuratiert war. Ich hatte eine klassische Kunstausstellung erwartet, fand dann aber Architekturmodelle, Plakate und Bilder vor, die um das Kino herum gebaut waren. Das Cabinet des Dr. Caligari bildete den zentralen Punkt, von wo aus schneisenartig die verschiedenen Kapitel zu Phänomenen wie „Serienmördern“, „Masse“, „Psychoanalyse“, „Halluzination“ und „Großstadt“ aufgefächert wurden. Ich empfand diese Anordnung als eine interessante, sehr filmische Form, und es gefiel mir, dass das Kino als eine völlig gleichwertige Kunst in die anderen, klassischeren Künste integriert war. Für gewöhnlich haben wir ja in Deutschland immer noch das Problem, dass der Film nicht so anerkannt ist wie die Literatur, die Malerei, oder das Theater. Film gilt demgegenüber immer noch ein bisschen als „ungebildete Kunst“, die sich zudem an die Industrie verkauft. Zeitgleich gab es im Museum of Modern Art in New York eine Ausstellung zum Weimarer Kino mit dem Titel „From Caligari to Hitler“. Das unterstrich für mich die anhaltende Bedeutung des Themas, sowie den Rang und die Bekanntheit von Siegfried Kracauers Buch. Kracauer ist nirgendwo so unbekannt und unwichtig wie in Deutschland.
Als jemand, der Geschichte und Philosophie studiert hat, beschäftige ich mich schon sehr lange mit der Weimarer Zeit, mit der „Frankfurter Schule“, zu deren Umfeld Kracauer gehörte, und mit Denkern wie Theodor W. Adorno, Walter Benjamin und Leo Löwenthal, die viel über Massenkultur und Massenkommunikation nachgedacht haben. Ich habe mich immer schon gefragt, warum Filme eigentlich nicht als historische Quellen anerkannt sind.
Dazu kommen
Erfahrungen, die ich als Kritiker mache. Wir wissen insgesamt ziemlich wenig von Filmgeschichte, in der öffentlichen Kultur spielt sie so gut wie keine Rolle. Als ich merkte, dass es keinen Dokumentarfilm über die Weimarer Zeit gibt, noch nicht einmal über Teilaspekte, dachte ich zuerst, dass die Rechte entweder unbezahlbar oder erst gar nicht erhältlich sind. Dann haben wir mit einer schlichten Anfrage bei der Murnau-Stiftung festgestellt, dass wir vielleicht einen günstigen
Moment erwischt haben, weil Ernst Szebedits als neuer Leiter gerade angefangen hatte, die Murnau-Stiftung zu öffnen.
artechock: Im Grunde genommen hast Du ein Theorem verfilmt. Es ist die dezidierte These Siegfried Kracauers, wonach das Kino der 20er-, 30er-Jahre eine Vorwegnahme des Nationalsozialismus in einer bestimmten Bildhaftigkeit und psychologischen Tiefenstruktur darstellt. Versuchst du diese These zu belegen oder zu widerlegen?
Suchsland: Mein Film ist keine Verfilmung von Kracauers Buch, oder einer seiner Thesen. Ich glaube auch, dass es falsch ist, das Buch auf „die“ eine These zu reduzieren – was leider oft geschieht. Es ist mehrere hundert Seiten dick, und da steht eine Menge mehr drin.
Kracauers Buch ist für mich vor allem ein Sprungbrett, ein guter Ausgangspunkt, um vom Weimarer Kino zu erzählen.
Am Anfang war auch gar nicht klar, ob wir den Titel vom Suhrkamp-Verlag überhaupt bekommen würden. Ich habe dann festgestellt, dass Kracauer im Ausland viel anerkannter ist als hier. Die Geschichte seiner Rezeption ist sehr von den Umständen seiner Emigration geprägt. Das Buch „Von Caligari zu Hitler“, das er während seines Exils in England und den USA auf Englisch
schrieb, ist zwar bereits in den 50er-Jahren in Deutschland übersetzt worden, aber nur in einer völlig verstümmelten, radikal gekürzten Version unter dem irreführenden Titel »Kino und Expressionismus – Von Caligari bis Hitler« herausgekommen. Diese Formulierung „bis Hitler“ beschreibt den Zeitraum von 1918 bis 1933. Kracauer hat aber nachweislich eine politisch-kulturelle Tendenz von Caligari „zu“ Hitler gemeint, auch wenn das englische
„to“ beide Übersetzungsmöglichkeiten birgt.
Diese Publikationsgeschichte ist ein Indiz dafür, dass man in Deutschland lange Zeit nichts von den Emigranten hören und sich schon gar nicht von ihnen belehren lassen wollte.
Kracauer wird jetzt wiederentdeckt, nicht zuletzt, weil unsere Kultur visueller geworden ist. Wissenschaftler sprechen vom „visual turn“. Eine gute und inzwischen vollständige Gesamtausgabe seiner Schriften gibt es erst seit kurzem.
Interessant an Kracauer sind vor allem seine Fragestellungen, nicht so sehr alle Antworten oder einzelne Filmbewertungen. Was erzählen uns Filme über ihre Zeit, über ihre Entstehungsepoche, über die Leute, die sie
machen und über die Leute, die diese Filme gucken? Inwieweit erzählt uns das Kino etwas über unser eigenes Unterbewusstsein oder über das kollektive Unbewusste – wenn man davon ausgeht, dass es so etwas gibt.
Auch wenn Kracauer ablehnt, bleiben ja bestimmte Fragen: Warum gibt es eigentlich im deutschen Kino der 20er- und frühen 30er-Jahre so viele Serienmörder? Warum gibt es diese vielen autoritären Väter? Zumal einen Vater wie in Metropolis, der den Aufstand seines Sohnes niederringt. Wie gestaltet sich das Verhältnis der Masse gegenüber dem großen Einzelnen, also einem Führer, Priester, Hypnotiseur, wie Mabuse oder Caligari? Warum gibt es andererseits diese
Schlafwandlerfiguren, diese Somnambulen? Es gibt auffällige Motive, einige haben allerdings bereits eine längere Traditionsgeschichte in den Romanen der Romantik. Es ist schon interessant, warum Dracula, eine Figur aus dem britischen Populärroman, in Gestalt des Nosferatu oder Jack the Ripper, ein britischer Serienmörder, plötzlich in Deutschland auf der Leinwand auftauchen. Es ist ja nicht so, dass die Autoren wussten, dass irgendwann Serienmörder an die Macht kommen
würden. Aber sie spürten eine Gewalt in der Gesellschaft, die sich ein Ventil suchte.
Oder: Es war auch kein Zufall, dass bestimmte Mythen wieder Konjunktur hatten. Die Nibelungen sind eine sehr düstere Untergangsgeschichte, die interessanterweise sowohl im Ersten Weltkrieg, als auch unter den Nazis Metapher und Ausdruck für einen kollektiven „Todestrieb“ wurde. Das jedenfalls sind alles Fragen, die man mit oder ohne Kracauer an das Kino der Weimarer Republik stellen
kann und muss.
artechock: Was mich besonders überrascht hat, ist einerseits die Genrevielfalt, ist andererseits die Modernität, die sich besonders in den selbstbewussten Frauen zeigt, denen Du ja auch das Schlussbild widmest.
Suchsland: Man muss sich verdeutlichen, dass diese Phase der Kultur- und Filmgeschichte sehr viel mehr birgt, als der schmale Kanon von Metropolis bis Ruttmanns Sinfonie der Großstadt uns weismachen will. Ich wollte diese Vielfalt herausarbeiten, und deutlich machen, dass erstens das Weimarer Kino zu Unrecht vergessen ist und es zweitens bestimmte Leitmotive in ihnen gibt. Zum Beispiel eben die modernen jungen Frauen dieser Zeit, die nicht nur für das Kino eine Rolle spielen. Ob das die Femme fatale Louise Brooks ist, oder die drei jungen Frauen in Menschen am Sonntag, oder in Fräulein Else oder Lilian Harvey in Ein blonder Traum, wo sie nicht mehr davon träumt, einen Prinzen oder Filmstar zu heiraten, sondern davon, selber ein Filmstar zu werden. Wie findet Kino Eingang in die Alltagskultur? In der Weimarer Zeit fand ein ungeheurer sozialer und politischer Aufbruch statt. Untere Schichten bekamen neue Möglichkeiten, Frauen wurden gleichgestellt, das Klassensystem aufgehoben, der Acht-Stunden-Tag eingeführt. Es herrschte ein liberales und weltoffenes Klima. Wann immer man über deutsche Identität redet, dann wird die Weimarer Zeit unterschätzt.
artechock: Als ich die restaurierte Version von Das Cabinet des Dr. Caligari bei der Berlinale gesehen habe und mich im Vorfeld eher zufällig mit dem Ersten Weltkrieg beschäftigt hatte, nahm ich den Film ganz anders als bislang wahr. Ich habe ihn eher „rückwärtig“ als eine sehr unmittelbare Reaktion auf den Ersten Weltkrieg und gar nicht prophetisch gelesen. Europa war quasi „schlafwandlerisch“ in den Krieg hineingestolpert, ohne eine Vorstellung von der kommenden industriellen Kriegsführung zu haben. Der Film zeigt die Welt als Irrenhaus, kriegsgeschädigt allesamt. Aus meiner Sicht wird Filmgeschichte viel zu sehr aus Gegenwarts-Perspektive bewertet.
Suchsland: Ich stimme dir zu, dass man den Film auch so interpretieren muss. Aber eben nicht nur. Für mich ist das kein Widerspruch, denn man kann nicht nur diesen Film in beide Richtungen lesen, sowohl als Anfang als auch das Ende von etwas. Der Film Das Cabinet des Dr. Caligari war ein enormer Erfolg. Wie expressionistische Kunst überhaupt. Mit
expressionistischer Kunst konnte man eine Zeitlang sogar Zahnpastawerbung machen.
Es wäre aber eine Verkürzung, wenn man im Expressionismus und in seinen Bildern für Schrecken, Wahn und den Zusammenbruch der bürgerlichen „Welt von Gestern“ aber nur eine Reaktion auf die Weltkriegserfahrungen sehen würde – einen Kriegsschaden, wie Du formulierst.
Was da völlig ignoriert wird, ist, dass nicht nur Expressionisten, sondern alle Avantgarde-Bewegungen bereits lange vor 1914 entstanden sind und selbst von der Zerstörung der bürgerlichen Welt träumten, Visionen einer Revolution aller Verhältnisse entwickelten.
Du fragst auch, ob wir zu sehr aus der Gegenwarts-Perspektive urteilen, also zu wenig historisch denken. Mit dieser Frage, aus welcher Perspektive heraus man argumentiert, beschäftigen sich
Historiker seit jeher. Auf der einen Seite gibt es da dieses klassische Theorem nach Cicero: Die Geschichte als Lehrmeisterin des Lebens, „historia magistra vitae“. Aber an Geschichte kann zugleich auch die befremdende Wirkung interessant sein. Ich glaube aber daran, dass man Geschichte unterschätzt, wenn man sie von der Gegenwart und ihrem Nutzen trennt, wenn man glaubt, man könne aus ihr nichts lernen, und sie nur ästhetisch sieht.
Das Tolle am Kino ist ja, dass es Empfindungen bewahren kann wie eine Zeitkapsel: Wie haben die Leute gedacht? Was ist das Fremde, das uns von uns selber trennt, als wir jünger waren?
Die Weimarer Republik ist noch gar nicht so lang her. Aber gleichzeitig ist es doch ein Wahnsinn, dass wir schon zu einer Zeit gelebt haben, als auch Fritz Lang noch gelebt hat.
Ich eröffne meinen Film mit der Bemerkung, dass meine Großväter in dieser Zeit gelebt haben. Mein Vater ist
Jahrgang 27 und ich selbst bin keine 25 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg geboren – da lebte Fritz Lang noch. Umgekehrt kann ich mich erinnern, wie im Fernsehen in den 70er und 80er Jahren noch alte Schinken des Nazi-Kinos liefen, wie es in öffentlichen Debatten die Schuld der Deutschen geleugnet oder relativiert wurde.
artechock: Welche Erfahrungen hast Du bei der Zugänglichkeit zu den Archiven gemacht? Dein Film ist ja in gewisser Weise auch ein Werbefilm für die Murnau-Stiftung.
Suchsland: Klarerweise ist er das. Aber nicht, weil sie unser Kooperationspartner ist, sondern weil sie es verdient hat, dass Werbung dafür gemacht wird, welche Schätze dort verschlossen in den Kellern liegen. Die Murnau-Stiftung gibt öffentlich zu, dass sie zu fast vierzig Prozent gar nicht weiß, was sie hat, weil kein Geld vorhanden ist, die Nachlässe auch nur korrekt zu erschließen. Da rede ich noch nicht von Erforschung. Es ist eine Schande, wie bei uns – ceterum censeo – mit dem Kino und seiner Geschichte umgegangen wird. Wir haben eine Kulturstaatsministerin, die für das nationale Filmerbe zuständig ist, aber einen Großteil ihres Etats für Dinge ausgibt, die eigentlich in die Hoheit der Länder fallen. Ich bin dem BKM ja sehr dankbar, dass wir selbst gefördert wurden und es geht mir auch nicht um BKM-Schelte, aber sehr wohl darum, das BKM auf seine ureigene Funktion aufmerksam zu machen: Das zu finanzieren und zu befördern, was die Länder nicht leisten können – nämlich sich um die Filmarchive zu kümmern. Auf der einen Seite bis zu 900 Millionen für das sogenannte „Humboldt-Forum“, ein preußisches Schloß-Disneyland, auf der anderen Seite gerade eine Million pro Jahr für Filmrestaurationen. Diese kommt dann oft ausschließlich sogenannten Meisterwerken zugute, wie Metropolis, der in den letzten zehn Jahren drei Mal restauriert wurde (was teilweise auch Sinn macht). Es geht mir um die Verteilung für den Film im Vergleich zu anderen Künsten. Wenn ein Gemälde von einem Maler, der von den Nazis vertrieben wurde, zerfällt, geht ein Aufschrei durch Deutschland. Bei einem Film nicht. Das ist eine zweite Vertreibung der Regisseure, Schauspieler und Drehbuchautoren. Man könnte das, was noch da ist, wenigstens so bewahren, dass nicht noch mehr verloren geht. Man müsste viel mehr investieren und die Archive dringend zugänglicher machen. Dann könnte man sogar Geld damit verdienen.
artechock: Verhielten sich die Archive kooperativ bei dem Projekt?
Suchsland: Profitiert haben wir zu allererst vom DIF, dann auch von der SDK und dem Filmmuseum München. Das Bundesarchiv hingegen verlangt schon für die Recherche horrende Summen, dabei weiß man ja zu Beginn noch nicht, was man sucht. Im Vergleich dazu: Sowohl das britische als auch das niederländische Filmarchiv haben alles komplett frei ins Netz gestellt.
Erschwerend kommt hinzu, dass durch die Vertreibung eines großen Teils der Weimarer Filmemacher die Nachlässe verstreut sind. Z. B. liegen die Rechte für G.W. Pabst, die späten Fritz-Lang-Filme oder Menschen am Sonntag in der Schweiz bei Praesens-Film, die uns sehr entgegengekommen sind. In manchen Fällen jedoch haben wir den Zugriff nicht bekommen, weil die Rechtelage umstritten ist. Auf den Film Die freudlose Gasse erheben das Filmarchiv Austria, das Filmmuseum München und die Murnau-Stiftung gleichermaßen Anspruch und führen deswegen einen Prozess gegeneinander, der viel Zeit und – öffentliche – Gelder kostet. Paradoxerweise hat das Filmmuseum München aber eine DVD herausgegeben. Unbezahlbar wiederum sind die Werke von Richard Oswald, die zum Kirch-Nachlass gehörten und jetzt bei Beta-Film liegen.
Meiner Ansicht nach müsste der Umgang mit dem Filmerbe gänzlich anders organisiert werden. Es kann nicht angehen, dass private Rechteinhaber das Vorführen oder die Ausschnitt-Verwendung in wissenschaftlichen Arbeiten wie der unseren, die nicht dem privaten Gewinn dient, nach ihrem Gusto entscheiden. Man sollte eine Gebührenlisten einführen und bei ungeklärten Fällen, eine Summe x hinterlegen. Man könnte das auch abhängig machen vom Einspielergebnis. Was ich mir wirklich von den neuen Medien verspreche, ist hier eine Verbesserung. Das, was man pauschal „Piratisieren“ nennt, könnte man auch als Rückgabe von Kunstwerken, die oft genug mit Steuergeldern bezahlt oder restauriert, gerettet, angekauft und archivert wurden, an die Öffentlichkeit nennen. Damit meine ich nicht jene Modelle, wonach wir Nutzer oder Verwerter alles umsonst haben wollen. Sondern eher die bekannten Modelle mit Verwertungsgesellschaften. Es muss doch aber möglich sein, überhaupt erst einmal Einsicht zu erhalten, damit man erfährt, was man eigentlich will, wofür man ja dann auch bereit ist, zu zahlen.
artechock: Welche Bedeutung hat Kracauer heute noch als Philosoph und als Kritiker?
Suchsland: An seiner Person kann man ganz viel darstellen. Die mit seiner erzwungenen Emigration einhergehenden Verluste sind in seine Texte eingeschrieben. Die erwähnte verfälschende und verspätete Ausgabe seines Buches repräsentiert genau den Geist der Adenauer-Zeit. Kracauer sagt: »Filmkritik ist gleich Gesellschaftskritik.« Genau da liegt heute das Manko. Gute Kritik ist immer auch Gesellschaftskritik, und gute Filmkritik ist immer auch politisch. Wenn sie nur ästhetisch ist, dann ist sie ästhetizistisch. Natürlich kann man einen Film angucken, als ob er jenseits der politischen, kulturellen und zeitlichen Umstände gemacht wurde. Aber das ist eben nur die eine Seite eines Kunstwerkes. Insofern macht es Sinn, dass der neue Preis, der seit letztem Jahr vom „Verband der deutschen Filmkritik“ zusammen mit der MFG Baden-Württemberg vergeben wird, „Kracauer-Preis“ heißt und nicht Frieda-Grafe- oder Lotte-Eisner-Filmpreis. Filmkritik muss gewissermaßen wie ein Seismograph ihrer Gegenwart funktionieren. Das unterscheidet sie von der Filmwissenschaft, die derzeit in Deutschland doch sehr in ihrem Elfenbeinturm sitzt und, sowohl sprachlich als auch in den Kategorien, mit denen sie arbeitet, „Glasperlenspiele“ betreibt. Filmkritik dagegen soll konkret sein und den Mut zu Aussagen haben, über die man streiten kann. All das, hoffe ich, in meinem Film auch transportiert zu haben. Insofern ist der Film auch das Werk eines Filmkritikers.
artechock: Wie wird man in fünfzig Jahren auf das heutige Kino schauen, welche Filme werden etwas über unsere Zeit erzählen?
Suchsland: Kracauer hat sehr genau das Werk von Fritz Lang verfolgt. Beide eint, dass sie sich nicht nur für den bürgerlichen Begriff von Kultur interessiert haben, sondern auch für die Niederungen, für die Volkskultur, um jetzt mal nicht Massenkultur oder Popkultur zu sagen, also für den Teil der Kultur, wo Grenzen überschritten werden, wo das „High“ und das „Low“ zusammenkommen. Das sind für mich auch heute noch im Kino die spannendsten Momente. Ich mag jene B-Movies und Massenunterhaltungsfilme, die nicht unbedingt die Handschrift der Industrie oder des Mainstreams tragen, so wie etwa das Horrorkino aus Frankreich oder Spanien oder einen Film wie A Girl Walks Home Alone At Night der Regisseurin Ana Lily Amirpour, der im Iran spielt und wo Farsi geredet wird. Oder Dennis Gansels Vampirfilm Wir sind die Nacht, der immerhin versucht, sich auf Berlin als Großstadt einzulassen – auch wenn der Film letztendlich missglückt ist.
Ich glaube, dass uns das Weimarer Kino den Spiegel vorhält: Wir können sehen, was dem deutschen Kino heute fehlt. Das sind vor allem die Genre-Filme. Siegfried aus den Nibelungen, das ist der deutsche Superheld. Es ist also alles schon vorweggenommen, vieles auch schon besser gemacht worden.
An Autoren-Filmern hingegen haben wir keinen Mangel. Regisseure wie Oskar Röhler und Christian Petzold beziehen sich eigentlich immer auch auf Filmgeschichte. Fast jedem der Petzold-Filme könnten man einen Weimarer- oder Genre-Film als Paten zur Seite stellen. Gespenster bezieht sich auf Murnau, Phoenix auf Les yeux sans visage des französischen Außenseitersurrealisten Georges Franju, der sich wiederum auf Figuren wie den »mad scientists« bezieht, wie sie in den Weimarer Filmen vorkommen.
Die Filme von Petzold oder Roehler erzählen viel über uns, über unsere Gefühle, Ängste, Sehnsüchte, auch in den Auslassungen über unsere blinden
Flecken.
artechock: Du benutzt gerne Begrifflichkeiten des Populärkinos. Was bringt das? Müssen die Weimarer Filme aus ihrem „heiligen Kunstkontext“ erlöst werden?
Suchsland: Genau! Ich glaube, Kino ist unheilig und darf auch unheilig sein. Heilig sind die Toten, für die wir einen Schrein aufstellen – wo wir sie im schlimmsten Fall dann anbeten und verstauben lassen. Nein! Wir sollten vielmehr mit dem »bösen« Kracauer-Blick auf das populäre Kino und das Populäre im Kino gucken. Es fällt nämlich schon auf, dass wir in Deutschland im Kino wie im Rest der Gesellschaft eine große »Moralmaschine« haben. Das Kino in Deutschland hat es immer stärker nötig gehabt, als das anderer Länder, die Welt am Schluss wieder in Ordnung zu bringen. Das deutsche Kino ist nach wie vor – um noch einmal auf die Frauen zurückzukommen –, von diesen heilig angehauchten Mütterfiguren, diesen sogenannten starken Frauen, dominiert. In den amerikanischen Horrorfilmen bleibt interessanterweise immer eine Frau, „the final girl“ übrig, die das Monster besiegt. Auch sie ist stark, aber eben auch eine »verwundete« Frau, die auch traumatisiert ist. Insofern ist sie als Filmfigur viel komplexer.
Ich glaube auch, dass wir generell ein „Verdrängungskino“ haben, das den eigenen Abgründen nicht ins Gesicht schaut, vor allem denen der Nazi-Zeit. Die Italiener, Japaner und Spanier, die auch ihren Faschismus hatten, haben diese Zeit weitaus interessanter verarbeitet. Sie zeigen – das deutsche Kino ist hingegen ein »Rede-Kino«. Da möchte ich als Beispiele die – gleichwohl respektablen – Filme Der neunte Tag und Diplomatie von Volker Schlöndorff nennen, die aber „Rede-Filme“ sind, genaugenommen Kammerspiele. Sie zeigen das, was man im amerikanischen Kino den „talking killer“ nennt. Also der Mörder, der der sich selbst erklärt, der für alles gute rationale Gründe hat. Was ich gerne im deutschen Kino sehen würde, sind „killing killers“. Es gibt weder deutsche Splatter- noch Horrorfilme, weder Science-Fiction-Filme, noch Psycho- oder Serienkiller-Thriller. Es gibt nur „Tatort“ und Ausnahmen wie Antikörper von Christian Alvart.
Wir brauchen, wenn wir von den Nazis erzählen, auch ein anderes Verhältnis zur Sexualität, um die fraglos vorhandene erotische Verführungskraft des Faschismus zu fassen. Im italienischen Kino gibt es Filme wie Sieben Schönheiten (1976) von Lina Wertmüller und Der Nachtportier (1974)
von Liliana Cavani. Ich warte eigentlich auf die historische Fiktion. Was wäre passiert, wenn Elser es geschafft hätte, Hitler in die Luft zu sprengen?
Ich bin sicher, wenn man in 50 Jahren auf das heutige Kino schaut und weiß, was aus dieser Merkel-Republik geworden ist, dass man dann die Abgründe, die heute schon unter dem sorgfältig gerechten Spießerrasen lauern, entdecken wird.