Frankreich/Israel/D 2021 · 110 min. · FSK: ab 12 Regie: Nadav Lapid Drehbuch: Nadav Lapid Kamera: Shai Goldman Darsteller: Avshalom Pollak, Nur Fibak, Lidor Edri, Yoram Honnig, Yonatan Kugler u.a. |
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Mit Vanessa Paradis in der Wüste: Y | ||
(Foto: Grandfilm) |
Am westlichen Rande von Israel liegt die Arava-Wüste. Weit und breit gibt es hier nur staubiges, weißes Gestein und ausgedörrte Pflanzen. Trotzdem kann man unvermutet auf Fahrradfahrer treffen, eine apokalyptisch und futuristisch anmutende Szenerie. So zumindest erzählt es Nadav Lapid in seinem neuen Film Aheds Knie, der immer wieder solche surrealen Irritationsmomente streut. Die Fahrradfahrer gehören zu den 5000 Siedlern, die fernab der Zivilisation an der Grenze zu Jordanien wohnen. Mitte der Neunziger wurde die Wüstengegend einmal Schauplatz für Friedensverträge mit dem Nachbarland, das Tote Meer und eine spektakuläre Schlucht sind in dieser ansonsten unbeschriebenen Landschaft die einzigen Fixpunkte. Das sagt Yahalom David (Nur Fibak), die verantwortlich ist für die Bibliothek im Ort und als Angestellte des staatlichen Kultusministeriums darüber wachen muss, dass alles seine Ordnung hat. Sie empfängt den Filmemacher und Videokünstler Y. (auf Hebräisch auszusprechen als »Yud«) (Avshalom Pollack), der mit einer kleinen Maschine aus Tel Aviv angeflogen kommt, um der Wüsten-Gemeinde seinen neuesten Film vorzustellen.
Das Western-Motiv des Neuankömmlings in einer abgelegenen Gemeinschaft ist auch im vierten Spielfilm des israelischen Regisseurs Ausgangslage für die Friktionen seiner Figuren. Anders als in Synonymes, mit dem Lapid 2019 den Goldenen Bären der Berlinale gewann und der von einem jungen Israeli in Paris erzählte, bleibt er diesmal in Israel, begibt sich jedoch an dessen Randzonen, um diese auch metaphorisch auszuloten: Gemeint sind hier auch die Ränder der Staatsraison, dort, wo der Staat aufhört, nachvollziehbar zu agieren, mit seinen Bestimmungen, mit seinem Staatsschutz, mit seinen Übergriffen auf die Bürger. Y. soll vor seinem Auftritt in der Bibliothek ein offizielles Dokument des Kultusministeriums unterzeichnen, in dem er versichert, keine heiklen Themen anzusprechen. Das erinnert an totalitäre Eingriffe in die Gedanken- und Redefreiheit – Lapid wiederholt hier seine Kritik aus Synonymes, und wie dort wird in Aheds Knie die Hauptfigur von traumatischen Flashbacks aus dem Wehrdienst eingeholt. Eine Erfahrung, die Lapids Filmschaffen seit seinem Debüt Policeman (2011) prägt.
Der Titel Aheds Knie verweist auf den Titel des nächsten Films von Lapids Alter Ego Y., den dieser zu Beginn in Tel Aviv mit einem Casting vorbereitet. Gefunden werden soll eine Darstellerin für die reale palästinensische Aktivistin Ahed Tamimi, die 2017 einen israelischen Soldaten geohrfeigt hatte und dafür ins Gefängnis kam. Der Fall sorgte für einen Skandal, als der Politiker Bazalel Smotritch twitterte, sie habe eine Kugel verdient, zumindest in die Kniescheibe. »Wo ist dein Sieg?«, fragt die Film-im-Film-Polizeibeamtin. »Im Martyrium«, antwortet Ahed. – Ahed, der Name steht in Israel für Widerstand und Zivilcourage.
Dieses Filmprojekt also hat Y. im Kopf, als er, angeschubst durch das Zensur-Formular, das er unterzeichnen soll, ein zunächst stummes Wort-Duell in der Arava-Wüste auszutragen beginnt. Nachdem ihm das Formular vorgelegt wurde, stülpt er sich erst einmal die Kopfhörer über und hört auf Anschlag Vanessa Paradis mit »Be My Baby«, tanzt dazu und lässt seine Wut raus. Hoch und nieder hebt sich dazu die Kamera von Shaï Goldman, visiert die Sonne an, nimmt Drohnen-Perspektive ein, schwenkt auf und schwenkt ab, ganz so, als wäre ein Derwisch am Werk. Lapid hatte derartige Bild-Entfesselungen auch schon in Synonymes zelebriert. Sie zeigen die Haltlosigkeit und Verlorenheit seiner Figuren, manifestieren aber auch seinen Widerstand gegen allzu konventionelle Sichtweisen auf die Welt und gegen eine sich unsichtbarmachende und dadurch positionslose Filmsprache. Das Durcheinanderbringen der Ordnung erleben nicht nur seine Filmfiguren, Lapid bringt selbst das Regelhafte zum Tanzen.
Die Wüste ist dafür eine geeignete Leerstelle, in der nicht nur Friedensverträge neu ausgehandelt werden: Y. streitet mit Yahalom über die Unterzeichnung des ministeriellen Formulars und über die Freiheit von Meinung, Rede und Kunst. Das surreale Setting bringt unterschwellig Wüstenfilme wie Alejandro Jodorowskys Western El Topo (1970), Philippe Garrels psychedelischen Filmtrip La cicatrice intérieure (1972), Jordi Colomers Künstlervideo »En la pampa« (2008), aber auch Shirin Neshats hochpolitische, symbolstarke Filmkunst von Land of Dreams (2021) in Erinnerung. Auch bei Lapid macht die realistische Erzählung der Symbolhaftigkeit Platz: Im Wort-Duell zwischen der Bibliothekarin und dem Filmemacher wird mitten in der Wüste die Rechts- und Staatsmoral als letztlich unlösbarer Konflikt ausgetragen. »Das Kultusministerium von Israel hat allen israelischen Künstlern den Krieg erklärt«, lässt Lapid seinen Alter Ego sagen.
In diesem Krieg kann es – wie womöglich in der Israelfrage insgesamt – keine Sieger geben. Wenn am Ende die Meinungsfreiheit des Künstlers ungeachtet aller Strafandrohungen dann doch durch List vollzogen wird, muss wieder ein neues Opfer gebracht werden. Die Wüste ist der moralische Ort, an dem sich die komplexe und auch auswegslose israelische Situation am klarsten zeigt. Lapid benennt deutlich die Ambivalenzen des israelischen Staats, womit er auch zu provozieren weiß. Seine starke filmische Ausdrucksweise hat aber nicht nur die politische Befreiung von einer autoritären Staatsmacht im Visier: In jedem Moment seines Films beweist Lapid seine Freiheit in der Kunst.
Wie sehr Israelis mit ihrer Heimat hadern, politisch wie privat und allen Grauzonen dazwischen, ist gerade über die reiche Film- und Serienkultur Israels immer wieder und sehr erschütternd nachzuvollziehen. Serien wie Fauda und Hamishim bilden diesen Komplex genauso ab wie die Filme von Ari Folman (Waltz With Bashir, 2008), Ester Amram (Anderswo, 2014), Samuel Maoz (Foxtrot, 2017), Sameh Zoabi (Tel Aviv on Fire, 2018) oder Nadav Lapid, der mit seinen Synonymes 2019 den goldenen Bären der Berlinale gewann.
Auch in seinem neuen Film, der in Cannes 2021 für die goldene Palme nominiert war und schließlich mit dem Preis der Jury ausgezeichnet wurde, geht Lapid mit seiner israelischen Heimat hart ins Gericht. Doch hatten wir es in Synonymes noch mit einem Porträt des Künstlers als jungem Mann und zahlreichen Ambivalenzen und offenen Fragen gegenüber Israel zu tun, ist Lapids Alter Ego »Y.« (Avshalom Pollak) in Aheds Knie ein schon gestandener Regisseur mit Berlinale-Erfolg, der sich, hochpolitisiert und von Israel angeekelt, um das Casting seines neuen Films kümmern muss, eines Films, der den Fall der Aktivistin Ahed Tamini thematisieren soll, also die Geschichte jener jungen Palästinenserin, die 2018 ins Gefängnis musste, weil sie einen israelischen Soldaten geohrfeigt hatte. Eine Haftstrafe, mit der der damalige Parlamentsabgeordnete Bezalel Smotrich alles andere als zufrieden war: »Meiner Meinung nach hätte sie zumindest eine Kugel in die Kniescheibe bekommen müssen. (...) Das hätte sie für den Rest ihres Lebens unter Hausarrest gestellt.«
Doch die den Titel des Films gebende Szene des Politikers entpuppt sich in der Casting-Inszenierung schon schnell als ebenso gebrochen und Erwartungshaltungen unterlaufend, wie es Lapids ganzer Film ist. Denn Smotrich wird nicht nur vom Fauda-Geheimdienst-Chef Yuval Segal dargestellt, auch das Casting wird im Laufe des Films gleich noch einmal dekonstruiert, als die Schauspielerin, die für die Rolle vorgesprochen hat, in einem Telefonat mit Y. unfreiwillig alles widerlegt, was sie schauspielerisch angelegt hatte.
Zu diesem Zeitpunkt befindet sich Y. allerdings schon zu Besuch in einem abgelegenen Wüstenort in der Arava, wo einer seiner Filme mit anschließender Podiumsdiskussion aufgeführt wird. Und ähnlich wie in der Eingangssequenz des Castings werden auch hier schnell Erwartungshaltungen dekonstruiert, wird aus einer in den Raum gestellten Affäre mit der den Event organisierenden stellvertretenden Direktorin der staatlichen Bibliotheksabteilung, Yahalom (Nur Fibak), ein Kampf um die Wahrheit politischer und persönlicher Identität.
Denn Lapid integriert hier einen weiteren binnenpolitischen Skandal der letzten Jahre, die umstrittene Kulturpolitik Israels unter Miri Regev, nach der Filmprojekte, die öffentliche Gelder erhalten wollten, inhaltlich überprüft werden mussten und von deren Politik auch Y.s Einladung in die Arava betroffen ist, denn er muss einen zensurähnlichen Fragenkatalog beantworten und sich verpflichten, auf dem Podium keine Israel diskreditierenden Themen anzusprechen.
Was sich ein wenig überkonstruiert anhören mag, wird über das intensive Spiel der beiden Hauptdarsteller Avshalom Pollack und Nur Fiba wieder wettgemacht und mehr noch durch die wuchtige Inszenierung, die sich mit wilden Kameraschwenks und einer ähnlichen Melange aus hyperrealen Beziehungsszenen und surrealen Momenten wie in Foxtrot auf ein so emotionales wie ernüchterndes Ende hinarbeitet, das dann wiederum so intelligent wie aufbegehrend und vor allem überraschend ist.
Denn obwohl nie ganz klar wird, was Inszenierung, was wahr und was falsch ist, was Symbolik oder einfach nur plumpe Wahrheit ist, ein Kameraschwenk wie ein Pinselstrich einen Geisteszustand, sexuelles Begehren oder einen historisch-geografischen Diskurs unterstreicht, bleibt die Kritik Lapids an den israelischen Verhältnissen kristallklar und vor allem wutentbrannt, merkt man gerade in dieser unfiltrierten Nähe zum Thema, dass Lapid sein in nur zwei Wochen geschriebenes Drehbuch auch fast genauso schnell verfilmt hat, dass hier nicht nur brutal gegen den Tod der Kunst und Kultur und eine Nation, sondern auch den Tod seiner Mutter angeschrieben wurde, die bis dahin seine Filme editiert hat.
Doch so groß Lapids Wut auch ist, so nüchtern und exemplarisch führt er vor, wie politische Zensur das Kulturleben diffamiert und private Beziehungen bis ins Familiäre unterminiert, zeigt dabei aber auch, was es bedeuten kann, sich gegen das System zu stellen und als Rufer der Wahrheit selbst Menschen zu verleumden, die sich zwar mit dem System arrangiert haben, aber dennoch bereit waren und sind, für die Kultur Opfer zu bringen. Das ist in der gezeigten Intensität kaum zu ertragen, doch wartet Lapid am Ende immerhin mit einem Funken Hoffnung auf, indem er über eine Binnenerzählung, den auch schon in Synonymes eingeflossenen, traumatisierenden Militärdienst, ein weiteres Mal auf die Metaebenen jeder Inszenierung hinweist und in den Raum stellt, dass das israelische und damit auch das palästinensische Dilemma mit dem Eingeständnis gelöst werden könnte, dass die ganze Gewaltspirale selbst nur Inszenierung ist, um das bestehende System wieder und wieder zu reproduzieren.
Das ist immerhin so etwas wie wirkliche Hoffnung bei all der Destruktivität, von der Aheds Knie sonst in so großer Intensität erzählt. Dass diese nichts beschönigende Sichtweise ihre Berechtigung hat, erzählt uns jedoch nicht nur dieser Film immer wieder überzeugend, sondern auch der vor wenigen Wochen erschienene Amnesty-Bericht über Israel, dem man Lapids Film ohne Bedenken an die Seite stellen kann, um verstehen zu können, wie der hier kritisierte Staat auf seiner basalsten, der menschlichen Ebene funktioniert.