Don't Worry, weglaufen geht nicht

Don't Worry, He Won't Get Far on Foot

USA 2018 · 115 min. · FSK: ab 12
Regie: Gus Van Sant
Drehbuch:
Kamera: Christopher Blauvelt
Darsteller: Joaquin Phoenix, Jonah Hill, Rooney Mara, Jack Black, Mark Webber u.a.
Indi­vi­dua­lismus als säkulare Form der Religion

Der rasende Roll­stuhl­fahrer

Was sich als Bild unver­gess­lich einprägt von Gus Van Sants neuem Film Don’t Worry, weglaufen geht nicht (Don’t Worry, He Won’t Get Far on Foot), ist der auf seinem Rollstuhl immer wieder hals­bre­che­risch über die Bürger­steige Portlands sausende Joaquin Phoenix. Er spielt den Cartoo­nisten John Callahan (1951-2010), der in den 80er Jahren durch zum Zynismus neigende, nicht besonders politisch korrekte Kari­ka­turen bekannt geworden ist und als Rollstuhl-Raser seine kata­stro­phalste Kollision schon hinter sich hat: einen schweren Unfall im Jahre 1972 hatte er gerade mal so überlebt, er ist danach quer­schnitt­gelähmt geblieben. Callahan war Alko­ho­liker gewesen, vor seinem Unfall bereits, und auch noch sieben Jahre danach, ehe er sich bei einer Selbst­hilfe-Gruppe der Anonymen Alko­ho­liker deren Zwölf-Schritte-Programm zur Abstinenz unter­zieht und trocken wird. Und Cartoo­nist. Das alles stellte er in seiner 1989 erschie­nenen Auto­bio­gra­phie „Don’t Worry, He Won’t Get Far on Foot“ dar, auf der Gus Van Sants gleich­be­ti­telter Film beruht.
(Der Titel nimmt übrigens Bezug auf einen Cartoon Callahans, auf dem ein paar berittene Ranger in einer kargen Western-Wüsten­land­schaft auf den verlas­senen Rollstuhl des von ihnen Verfolgten stoßen: Keine Sorge, zu Fuß kommt er nicht weit, beruhigen sie sich. Der deutsche Titel, den der Film von der 1992 erschie­nenen Über­set­zung wohl zu über­nehmen gezwungen ist, trifft die Pointe nicht unbedingt.)

Ein Biopic also mit den Schwer­punkt­themen Behin­de­rung und Alko­ho­lismus, das Gus van Sant uns da vorlegt, noch dazu eins, das von Bekehrung und Berufung zum Künst­lertum erzählt. Droht uns damit ein Problem­film mit der frohen Botschaft, dass man aus jeder Krise als besserer Mensch hervor­gehen kann?
Innerhalb des Werks von Gus Van Sant knüpft dieser Film weniger an die formal radikalen Filme wie Gerry»(2002), Elephant (2003) oder Last Days (2005) an, sondern mehr an Arbeiten wie Good Will Hunting (1997) oder Milk (2008). Das biogra­phi­sche Narrativ, das nun in Don’t Worry, weglaufen geht nicht bedient wird, folgt jeden­falls einer Formel, die auf ein breiteres Publikum zielt. Es ist eine modell­hafte Rezeptur, das Biopic, das den Weg zur künst­le­ri­schen Berufung als Geschichte der Selbst­fin­dung, der Über­win­dung innerer und äußerer Hinder­nisse, ja der Bekehrung zu einem besseren Menschen darstellt, eine Geschichte vom „moral perfec­tio­nism“, wie ihn der erst kürzlich verstor­bene ameri­ka­ni­sche Philosoph Stanley Cavell im Gefolge des ameri­ka­ni­schen Tran­szen­den­ta­lismus (Ralph Waldo Emerson, Henry David Thoreau) immer wieder auch und gerade im Hollywood-Kino verhan­delt sah.«

Dass Gus Van Sant das allzu bekannte Schema mit immer wieder mitreißender Leben­dig­keit aufzu­füllen vermag, liegt zu einem großen Teil an der Schau­spieler- und Starpower, die sich diese Amazon-Produk­tion leistet, und das nicht nur mit der von Joaquin Phoenix verkör­perten Haupt­rolle. Neben Rooney Mara oder Jack Black ist da vor allem Jonah Hill, der den charis­ma­ti­schen Donnie, den Leiter der Anonymen-Alko­ho­liker-Gruppe, mit einer über­zeu­genden Perfor­mance spielt. Außerdem bietet die Selbst­hil­fe­gruppe wunder­bare Auftritte von Kim Gordon (von der großen Inde­pen­dent Band Sonic Youth), Beth Ditto (bekannt geworden mit der Band Gossip) und Udo Kier, der seinem schil­lernden Figu­ren­ar­senal eine mit ihrer Unschein­bar­keit fein jonglie­rende Variante hinzufügt.

Joaquin Phoenix liefert wie in James Mangolds Johnny Cash-Film Walk the Line (2005) wieder eine große Biopic-Show, die manchmal viel­leicht zu sehr für die Galerie, ganz rampen­saumäßig auf den Szenen­ap­plaus schielend angelegt ist.
Doch die Energie und der Overdrive, mit denen Phoenix hier zu Werke geht, scheinen mitunter auch dem Rollstuhl einen zusätz­li­chen Schub zu geben, mit dem John Callahan über die Bürger­steige saust, und er lässt den ganzen Film immer wieder über­borden.

Und diese Unwucht durch das Über­drehte von Figur und Schau­spieler sorgt dann auch für eine formale Seite an dem Film, die ihn das Konven­tio­nelle dann doch aushebeln lässt und die glatte Erfolgs­story etwas aufraut.
Nicht nur dass auf unver­krampfte, gar nicht problem­film­haft bemühte Weise thema­ti­sche Aspekte der Behin­de­rung aufge­griffen werden (von aufplat­zenden Urin­beu­teln bis zu spezi­ellen Erre­gungs­tech­niken beim Sex), sondern auch in der mäan­dernden Struktur präsen­tiert sich der Film durchaus eigen­willig. Die verschie­denen Zeit­ebenen (Alko­ho­lismus vor dem Unfall, der Unfall, die Zeit im Kran­ken­haus und die Reha, Alko­ho­lismus als Roll­stuhl­fahrer, Eintritt in die Selbst­hil­fe­gruppe, Erfolg als Cartoo­nist) werden in frag­men­ta­ri­schen Rück­blenden recht wild vermischt. So deutet Gus Van Sant an, dass die Konti­nuität und aufs gute Ende gerich­tete Teleo­logie immer auch ein Konstrukt ist, das man mit dem Selbst­fin­dungs­nar­rativ der Auto­bio­gra­phie und des Biopics erst herstellt. Freilich ein Konstrukt, dessen sich Gus Van Sant hier mit deut­li­chem Enga­ge­ment und großer Über­zeugt­heit bedient. So ist die chaotisch wirkende Montage mit der Vermen­gung der verschie­denen Zeit­ebenen letztlich natürlich nur ein Schein­manöver und entspricht in etwa dem Gedanken des Zick-Zack-Kurses, den Ralph Waldo Emerson in seinem Essay »Self-Reliance« (1841) darlegt: trotz einzelner momen­taner Abwei­chungen vom Kurs wird die Ziel­ge­richtet­heit der indi­vi­du­ellen Verwirk­li­chung eines besseren Selbst nicht aus den Augen verloren. Insofern stellt Don’t Worry, weglaufen geht nicht eine Magna Charta des Glaubens an das Indi­vi­duum mit all seinen Macken dar, dem ein unver­wüst­li­cher Opti­mismus innewohnt, ganz im Geiste Ralph Waldo Emersons und seines Credos vom „unat­tained but attainable self“ in seinem Essay „History“ (1841). Und selten kann man so gut erkennen, in welcher Weise in Amerika der Indi­vi­dua­lismus als säkulare Form der Religion gelten kann; nicht von ungefähr ist Donnie, der Leiter der Selbst­hil­fe­gruppe, mit an die Präraf­fae­liten erin­nernden ikono­gra­phi­schen Zügen von Jesus Christus gezeichnet.