58. Berlinale 2008
Rambos von Rio bis Abu Ghraib |
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Meisterlich: United Red Army | ||
(Foto: Wakamatsu Productions) |
Interview mit Hong Sang-soo zu dessen Wettbewerbsfilm Night and Day. Neben dem Regisseur steht eine kaum faustgroße Buddha-Figur. Sie wirkt schon ziemlich abgegriffen. Auf eine Frage hin nimmt sie der »koreanische Rohmer« zur Erläuterung zwischen zwei Finger: »Jeder hat seinen eigenen Buddha im Kopf«. Während man ihm zuhört, die verwunderte Überlegung, ob er sie wohl immer mit sich herumträgt. Am Ende des Gesprächs traut man sich dann endlich zu fragen, was es mit der Figur auf sich hat. Die Antwort ist lautes Gelächter: »Keine Ahnung. Ich sehe sie zum ersten Mal. Ich habe eben grünen Tee bestellt, und da stand sie mit auf dem Tablett. Ich habe mich auch sehr gewundert.« Ein Augenblick von kulturellem Verständnis über alles Mißverständnisse hinweg.
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Meine persönlichen zwei Berlinale-Regeln haben wieder voll ins Schwarze getroffen: Fast alle diesjährigen Preisträger liefen in der Pressevorführung um 9 Uhr morgens, morgens, und sogar alle (!!) an den ersten fünf Tagen.
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Kunst in Cannes, Politik in Berlin – die Berlinale bleibt ihrem Ruf auch sonst treu. Mit José Padilhas Tropa de Elite gewinnt wie in den Jahren zuvor ein Film in Berlin, der politische »Relevanz« über künstlerische Innovation stellt. Tropa de Elite ist so politisch brisant, dass er
in seiner Heimat für nachhaltige Kontroversen über Staatsgewalt und Selbstjustiz führte, filmisch ist er zumindest intelligent gemacht. Ein Reißer, der – ähnlich übrigens wie Tirador, der philippinische Gewinner des Caligari-Preises aus dem Forum – quasi-dokumentarische Bilder und die Ästhetik einer schwindelnden Handkamera mit Soap-Elementen mischt. Das Werk handelt von einem traumatisierten Polizeioffizier in den Slums von Rio.
Beklemmend gelingt die Verunsicherung des Zuschauers, der bis zum Schluß nicht weiß, ob er sich mit diesem Rio-Rambo identifizieren soll. Ein pessimistischer Film.
Tropa de Elite bündelt gleich mehrere Trends aus den verschiedenen Berlinale-Sektionen: Den Trend zur Vermischung von Dokumentation und Fiktion, der zum Schauplatz Slum, der zur digitalen Wirbel-Handkamera und
schnellem Schnitt.
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Juryschelte ist trotzdem angebracht. Denn das Gesamtbild repräsentiert weder thematisch noch qualitativ den diesjährigen Wettbewerb. Es scheint, als hätte nach der unterwarteten Absage der zwei Jury-Frauen Sandrine Bonnaire und Susanne Bier in der Restjury endgültig die Altherrenriege um Politthriller-Veteranen Konstantin Costa-Gavras durchgesetzt: So gingen die vier wichtigsten Preise nach Amerika, drei davon in die USA. Hinzu kam der immerhin hochverdiente »Alfred-Bauer-Preis« für Fernando Eimbckes surreal-tragische Komödie Lake Tahoe, die auch den Kritikerpreis der Fipresci erhielt.
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Aber wo blieb Europa, wo Asien? Seit Jahren ging erstmals kein Preis nach Deutschland, und keiner nach Frankreich, und auch die Auszeichnung für Sally Hawkins machte all diejenigen nicht glücklich, die Kristin Scott-Thomas' glanzvollen, aber stillen Auftritt in Phillippe Claudels Il y a longtemps que je t'aime erlebt hatten. Der Drehbuchpreis für den Chinesen Wang Xiao Shuai war hochverdient, gelingt ihm doch mit In Love We Trust eine subtile, gleichermaßen traurige wie ironische Geschichte über Mutterliebe – wie die Hauptfigur um ihr leukämiekrankes Kind zur retten ihren längst wiederverheirateten Ex-Mann zu überzeugen sucht, ein weiteres Kind als Knochenmarkspender zu zeugen – das war eine mit ihren subtilen Mitteln jenseits aller TV-»Dramatik« inszenierte Tragödie, die weit über den engen politischen Horizont der chinesischen Ein-Kind-Politik hinausgeht, und universale Fragen berührte.
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Da hält man sich lieber an die Nebenreihen des Panorama und des Forum, wo oft das wildere, gefährlichere, herausforderndere Kino zu sehen ist, zudem Filmwerke, die man wirklich hier sehen muss, weil sie nicht oft den Weg ins normale Kino finden. Die Berlinale, die am Sonntag nach der Verleihung der Goldenen Bären zuende ging, ist weit mehr, als das Rennen nach den begehrten Trophäen, erst recht in Jahren wie diesen, in denen der biedere Wettbewerb trotz einzelner starker Filme doch viele Wünsche offen lässt. Das »Panorama« glänzte vor allem durch bekannte Namen und bedeutende Themen. Neben dem Dänen Soeren Kragh-Jacobsen, einst für MIFUNE im Wettbewerb gefeiert, der in seinem Film passend zur Francesco-Rosi-Hommage das totgeglaubte Genre des europäischen Politthrillers wieder zum Leben erweckt, war es der französische Film COUPABLE von Laetitia Masson und Kino aus Nahost, das herausstach: Etwa der israelische Film Lemon Tree von Eran Riklis. Er zeigt anhand eines Grundstücks neben der Grenze zu Palästina höchst anschaulich das ganze Dilemma des Nahostkonflikts.
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Zehn Pferdeköpfe, von Schneewehen geweißt, ragen aus dem Eis heraus. Zum Teil sind ihre Münder noch aufgerissen vom Schrecken ihrer Todessekunden – das ist eines der eindrücklichsten Bilder in Guy Maddins My Winnipeg einem komplexen Film-Essay des Regisseurs über seine Heimatstadt, voller Nostalgie und Sehnsucht – der Eröffnungsfilm des diesjährigen »Internationalen
Forums des Neuen Films«.
Wer echte künstlerische Grenzerfahrungen sucht, der muss sich im traditionsreichen Forum umsehen, wo man schon viele Meister der Zukunft entdeckte. Einer der hier besten Filme war der deutsche Beitrag Nacht vor Augen von Brigitte Maria Bertele. Die Regisseurin packt ein Tabuthema an: Deutsche Soldaten, die Dienst in Krisenregionen getan haben. Was geht
eigentlich in ihren Köpfen vor, wenn sie nach Tod- und Gewalterfahrungen zurück in die friedlich-wattierten Verhältnisse der deutschen Mittelstandsgesellschaft kommen? Die Regisseurin zeigt es am Beispiel von David, der sich nicht mehr in die alten Verhälnisse zurückfinden kann. Ein intensives Heimkehrerdrama und die beklemmend inszenierte Geschichte einer Verstörung.
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Einen ungewöhnlichen Blick nach China wirft Sweet Food City von Gao Wen-dong. Er zeigt das China abseits von faszinerendem Wirtschaftswunder-Boom und der Exotik alter Kaiserpaläste. Die sexlose Liebesgeschichte zwischen einer Prostituierten und einem Arbeitslosen in einer heruntergekommenen Trabantenstadt wird erzählt als Parabel kleine Hoffnungen inmitten sozialer Ödnis. Halbdokumentarisch inzeniert, gefällt der Film durch nüchterne
Beiläufigkeit und viel Gefühl.
Summer Book vom türkischen Regisseur Seyfi Teoman stellt einen Jungen ins Zentrum. Mit seinen Augen lernt man während der Sommerferien seine Familie kennen – und auf diese Weise auch viel über die ganze türkische Gesellschaft – ein heller Sommerfilm mit Tiefgang.
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Die größte Sensation eines starken Forumsjahrgangs war aber der Tribut für den japanischen Regisseur Koji Wakamatsu. Drei ältere Filme des heute 74-jährigen Outsiders wurden gezeigt, darunter sein Klassiker Secrets Behind the Wall, der 1965 auf der Berlinale ausgezeichnet wurde, und in Japan durch seine kraftvolle Kritik an der japanischen Nachkriegsgesellschaft einen großen Skandal
verursachte.
Wakamatsus neuester Film heißt United Red Army und hatte auch im Forum Premiere, obwohl er gut in den Wettbewerb gehört hätte. Das Werk handelt von dem Pendant zur deutschen RAF. Auch der japanische Linksterrorismus entwickelte sich als radikaler Ausläufer der Studenten- und Bürgerrechtsbewegung der Sechziger. In drei Akten zeichnet Wakamatsu ihre Geschichte in einer Mischung aus Spielfilm und Dokumentation nach: »Ich wollte fair sein.
Keiner weiß heute noch, was damals geschehen ist. Wir müssen die Erinnerung wach halten.«, so Wakamatsu im Gespräch.
Sein Film startet schnell geschnitten, mit zahlreichen Überblendungen, und präsentiert in einer Stunde die Geschichte der japanischen Studentenbewegung und ihrer Radikalisierung im Schnelldurchlauf. Der zweite Akt beginnt am 1. Januar 1972. Auf einer Hütte in den verschneiten Bergen bereiten sich knapp 30 Angehörige der Untergrundgruppe »Vereinte Rote Armee« zum Kampf gegen das Kaiserreich vor. Schnell eskaliert die Gruppendynamik dieser Isolierten zur Selbstkritik mit tödlichen Folgen, der 14 Menschen zum Opfer fallen. Vor allem als Psychogramm einer Gruppe von Eingeschlossenen, als Untersuchung über Klaustrophobie und Verschwörungstheorie besticht der Film. Auch der letzte Akt, in dem man fünf Übriggebliebenen bis zum Showdown mit der Polizei folgt, zeigt die Geschehnisse konsequent aus der Innensicht der Gruppe, ohne sich je mit ihr gemein zu machen. United Red Army ist ein Meisterwerk des politischen Kinos und war ein Highlight im Berlinale-Forum.
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In der Bunuel-Retro noch der Film Centinela Alerta von 1936/37, mitten im Spanischen Bürgerkrieg. Ein Film wie ein kurzer frischer Frühlingshauch, witzig, antimilitaristisch, aber patriotisch, und im Rückblick voller Wehmut. Eine volkstümliche Komödie und fast ein Musical von Bunuel, gleichermaßen fern allen Surrealismus und aller politischen Agitation, dafür mit vielen Gesangseinlagen. Vor allem die unerwartete Skizze eines Starkinos der kurzen spanischen Republik, und damit das Werk eines nie geschriebenen Kino-Kapitels. Die vergessene Seite des Chamäleons Bunuel, der zugleich in einer genialen kurzen Feuerwehreinsatz-Szene auf Dokumentarmaterial nach einem Bombeneinsatz zurückgreift. Da lässt Bunuel kurz seine Lust am Spektakel aufblitzen.
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Dieter Kosslick hat also sein »verflixtes 7tes Jahr« überstanden. Es war besser als die beiden total missglückten Vorjahre, aber auch 2008 dominiert Mittelmaß, sind die Nebenreihen interessanter, der Wettbewerb oft entbehrlich, die Auswahl mitunter banausisch – also ohne Sinn für ästhetische Kriterien, dafür Namedropping und Flucht in moralisierende Themenkino.
Hinzu kommt das Problem, dass die Nicht-Sektionen wie »Talent Campus« und Kochkino auch gegenüber der
Presse aufgeblasen werden – hier werden aber gar keine Filme gezeigt, sondern nur lautstarke Rand-Events abgefeiert. Die Berlinale bleibt eine Baustelle.
Rüdiger Suchsland