58. Berlinale 2008
Schau-Spiele oder: Damon Albarn kotzen sehen |
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Der ideale Abschlussfilm: Michel Gondrys Be Kind Rewind |
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(Foto: Senator Film Verleih) |
Von Thomas Willmann
Nächstes Jahr wird alles anders. Nächstes Jahr werde ich auf der Berlinale reich.
Die ersten Male schien’s nur Zufall. Dann wurde es zum running gag. Aber jetzt bin ich sicher, dass es zur Geschäftsgrundlage reicht: Seit fünf Jahren geht der Goldene Bär grundsätzlich an einen Film, den ich nicht gesehen habe. Und das muss man doch ausnutzen!
Nächstes Jahr also werde ich höflich bei allen im Wettbewerb vertretenen Produzenten vorstellig werden und ihnen anbieten,
gegen einen bescheidenen Beitrag zu meiner Reisekasse auf das Anschauen ihre Films zu verzichten. Andernfalls ich schnurstracks in die nächste Vorführung davon marschieren werde, woraufhin das betroffene Werk ungachtet seiner künstlerischen Qualitäten augenblicklich (im wahrsten Sinne des Worts!) alle Chancen auf den Festivalgewinn verwirkt haben wird.
Ich meine: Es war echt knapp, dieses Jahr! Nachdem ich die reguläre Pressevorführung des letztendlich gülden
bebärten Tropa de Elite verpasst hatte, wurde sogar noch eine zusätzliche eingeschoben. (Nein, freilich nicht, weil ich den Film verpasst hatte – solch einen Status genießt »artechock« dann doch nicht...) Und in die wäre ich um ein Haar gegangen – es hing nur daran, ob ich in der kurz davor beginnenden, parallelen Vorführung von Errol Morris Standard Operating Procedure noch würde einen Platz ergattern können oder nicht. Quasi eine Gottesentscheidung. Aber dann war bei SOP eben noch ein Sitz für mich frei. Und jetzt muss ich mich bei Errol Morris entschiedenst dafür entschuldigen, dass ich ihm den edelmetalleneren Meister Petz gleichsam vom Kaminsims geräumt habe, noch bevor er dort stand, und er sich mit dessen
silbernem Artgenossen begnügen musste.
Dabei hätte sein Film die goldene Variante durchaus verdient: Er ist jener Idealfall einer Doku, die an sich schon ein spannendes Thema hat, die aus diesem Thema wirklich viel – und nicht nur das Erwartete – herausholt, die dann aber vor allem noch so viel mehr ist, die hinauswächst über das, worum es auf den ersten Blick zu gehen scheint.
Ja, Standard Operating Procedure ist ein Film über Abu-Ghraib. Und, gewiss, es ist damit zwangsläufig auch ein politischer Film, ein Film darüber, wie die US-amerikanische Militärführung eine Struktur, Räume geschaffen hat, in denen die Untersten in der Befehlskette sich zu solchen unmenschlichen Entgleisungen hinreißen lassen konnten – und ein Film darüber, wie aber nur eben diese Untersten dann als Sündenböcke geopfert wurden.
Aber SOP ist
auch ein Horrorfilm, der anfangs ganz bewusst Genre-Zeichen setzt (nicht zuletzt durch die Musik Danny Elfmans, jenes Hauskomponisten von Tim Burton, der der Spezialist ist für bizarre Americana, für den Dark Carnival USA). Es ist ein Film über Sex und Macht. Es ist, wie jeder Errol Morris-Film, ein Film darüber, wie sich Menschen ihre privaten Mythologien bauen, um mit dem zurechtzukommen, was die Welt ihnen darbietet und was sie selbst in dieser Welt tun. SOP
ist ein Essay über das Bildermachen, und wie aus Bildern Geschichten werden, und wie das Manipulierbarste daran nicht die Bilder selbst sind, sondern die Zwischenräume, das Schwarze, Dunkle, Undokumentierte außerhalb des Rahmens.
Und was Errol Morris in SOP einmal mehr meisterhaft vorführt ist, wie Menschen anscheinend nur auf eine Gelegenheit warten, sich selbst zu entblößen. Wie in jedem seiner Filme lässt er die Protagonisten – hier alle jene US-Soldatinnen und
-Soldaten, die auf den berüchtigten Folterbildern zu sehen sind, mit Ausnahme jener zwei, die noch im Gefängnis sitzen und sich nicht öffentlich äußern dürfen – läßt also Morris seine Protagonisten einfach reden, möflichst wenig unterbrochen, ganz unkommentiert. Morris' Blick gleicht dem eines Verhaltensforschers – was Menschen tun, und sei es noch so bizarr oder widerwärtig, befremdet ihn wohl auch manchmal, fasziniert ihn aber vor allen Dingen. Er fällt keine
Vor-Urteile, will einfach wissen, was diese seltsamen Kreaturen treibt und wie sie ticken.
Und so sind ihre Äußerungen in seinen Filmen auch immer enorm vielschichtig: Sie funktionieren nie so, wie etwa die deutsche Fernsehdoku es lehrt – dass jemand uns erzählt, wie etwas war, und so war es denn auch. In Sop – wie in Morris' anderen Werken – sind die Aussagen Erzählung, Rechtfertigung, Mythologisierung, Selbstdarstellung in einem,
sind zunächst einmal Sprechakte, hinter denen erkennbar eine komplexe Gemengelage steckt aus Motiven, Erinnerungen, aus Versuchen, sich selbst so sehr wie andere von dem Gesagten zu überzeugen, sich seine eigene Geschichte zu schreiben. Es geht Morris auch um etwas Komplexeres, als jemanden beim Lügen zu ertappen: Die spannendsten Momente sind zumeist jene, in denen man nicht mehr unterscheiden kann, was vermutlich wahr ist, was uns der Mensch auf der Leinwand nur weis machen will
– und was er sich selbst vorlügt, was jene nachträglichen Zurechtlegungen und Erklärungen sind, ohne die keiner von uns die Konsequenzen seiner Handlungen ein Leben lang tragen könnte.
Und das genau sind die Stärken großer Dokumentarfilme, das genau ist aber auch, was sich in selbst eine mittelmäßige Doku viel leichter einschleicht als in einen leidlich guten Spielfilm: Dieser Mehrwert des Realen, diese Vielschichtigkeit des Beobachtbaren.
Mittelmäßige Fiktionen bleiben zumeist flach, da hat alles seinen einen Sinn und Zweck, womöglich noch den ein oder andern nicht minder fein säuberlich hineingepackten und herbeikonstruierten »Subtext«. Da gilt es als
gutes Handwerk, wenn alles abgedichtet und auf Linie gebracht wurde.
Es fällt ungleich schwerer, alles derart unter Kontrolle zu bringen und halten, wenn man die Kamera hinaus in die Wirklichkeit richtet. Irgendwas schlüpft da fast immer mit durch, was unerwartete Ebenen, eine Reichhaltigkeit der Lesemöglichkeiten mitbringt.
Selbst in einem zu braven Film wie Full Battle Rattle, der seinen Stoff eher verschenkt, ist das so: Da geht es um ein
»irakisches« Dorf, welches das US-Militär mitten in der amerikanischen Wüste hingebaut hat, um dort mehrwöchige Simulationenen abzuhalten, mit denen Soldaten auf ihren tatsächlichen Einsatz vorbereitet werden sollen. Man kann nur träumen davon, was ein Errol Morris aus solch einer Vorgabe gemacht hätte; den Filmemachern Tony Gerber und Jesse Moss will es nicht so recht gelingen, die ganze Absurdität der Situation voll auszukosten. Aber selbst hier gibt es in den Gesichtern, in
den Aussagen der Exil-Iraker, die überwiegend dieses Potemkinsche Dorf bewohnen (und das teils über Jahre), immer wieder zumindest Ahnungen von all jenen Geschichten, die dieser zu nah und stur an der Geschichte von der Soldatenausbildung klebende Film nicht auserzählt.
Manchmal aber wird ein Doku-Projekt auch regelrecht überfahren von der Wirklichkeit. Und das kann, im Gegensatz zum Außer-Kontrolle-Geraten einer Spielfilmproduktion, durchaus zu seinem Vorteil sein. Beweisstück A: Heavy Metal In Baghdad.
Man hat nicht den Eindruck, dass Suroosh Alvi und Eddy Moretti anfangs mehr wollten, als eine kleine, pittoreske Musikdoku mit ein bisschen Kriegs-Exotismus, ein wenig Hintergrund-Ironie, einem Schuss Freakshow-Kitzel.
In Bagdad gibt es eine Heavy Metal-Band? Die erste und einzige überhaupt im Irak? Da schau an. Wie bizarr! So muss es angefangen haben für die Journalisten vom Szene- und Subkultur-Lifestyle-Magazin »Vice«. Aber dann kommen sie 2006 auf die glorreiche Schnapsidee, mit einer Videokamera selbst nach Bagdad zu fliegen und sich mal anzuschauen, was eigentlich aus dieser Band, Acrassicauda, geworden ist.
Und zum Glück hatten sie weder so recht eine Ahnung, was sie dort wirklich
erwarten würde, noch das gefestigte Rüstzeug erfahrener Krisengebiets-Dokumentaristen. Da fehlen, vom Grundansatz des Blickwinkels bis hin zum üblichen filmischen Handwerk des Doku-Genres, so ziemlich alle altgewohnten Sicherungsmechanismen. Da ist man plötzlich mitten drin in dem Wahnsinn dieser Stadt, da spürt man die Paranoia, die alles durchdringende, durchtränkende, vergiftende Angst und Bedrohung, dass man noch im Kinosessel mit ins Schwitzen kommt.
Und da wird
der Film irgendwann auch eher zum Sozialprojekt – weil die Filmemacher selbst realisieren, dass so eine Kamera eben doch nicht nur das neutrale, körperlose, quasi unsichtbare Beobachtungsinstrument ist, zu dem sie gerne stilisiert wird. Sondern dass so eine Kamera, dass der Akt des Bildermachens eine Verantwortung mit sich bringt.
Alvi und Moretti stellen sich dieser Verantwortung – zunächst eher etwas widerwillig und überfordert, hat man den leisen
Verdacht, aber immerhin... Sie bleiben mit den Musikern in Kontakt, besuchen sie auch nach ihrer Flucht nach Syrien – wo sie ein reichlich deprimierendes Dasein führen –, und inzwischen ist Heavy Metal In Baghdad nicht zuletzt ein (relativ erfolgreiches) Instrument geworden, um Aufmerksamkeit und Unterstützung für die Band zu erheischen.
Einer Illusion allerdings beraubt einem diese Doku: Dass Leute, für die ihre Kunst tatsächlich eine Sache
auf Leben und Tod ist, notwendigerweise auch großartige Kunst hervorbringen. Allein das Tragen eines Metal-T-Shirts genügt in Bagdad, um sich buchstäblich zur Zielscheibe zu machen für fundamentalistische Heckenschützen. Und von Gewalt und vom Sterben haben die Mitglieder von Acrassicauda nun wahrlich mehr und unmittelbarere Erfahrungen als jeder mit diesen Sujets posende abendländische Metaler. Ihre Musik und ihre Texte aber, soweit man sie in der Doku mitbekommt, sind
nicht weniger adoleszent und generisch als das, was aus der komfortablen, in allen existenziellen Fragen sorglosen Frustriertheit eines gewöhnlichen, westlichen Teenagerdaseins so hervorgebracht wird.
Auf Beweisstück A zur Verteidigung des überforderten Dokumentarfilms freilich hat unmittelbar die Anklage zu reagieren mit gleich zwei Artefakten zum Gegenbeweis: Patti Smith: A Dream Of Life und Bananaz.
Naiverweise sollte man ja meinen, es gebe nichts Wünschenswerteres für einen Dokumentarfilmer als wenn er über Jahre hinweg seinem Sujet nahe sein kann. Insbesondere, wenn besagtes Sujet eine Spezies ist, die sich zwar
gern im Licht der Scheinwerfer sehen lässt, die aber nur selten Blicke gewährt in die Nester des Privaten, in den Bau, wo verborgen gebastelt wird an dem Prachtgefieder, mit dem sie sich dann zur Schau stellt: Sprich, wenn es um jene seltsamen Vögel geht, die Stars. Genauer: Die Rock-Stars.
Aber: Weit gefehlt. In Wahrheit scheint es seltsamerweise geradezu ein Nachteil zu sein, wenn Filmemacher Musikergrößen über lange Zeit hinaus aus nächster Nähe beobachten dürfen. Weil sie
nachher mit Bergen von Material dastehen, und es wohl einen regelrechten filmischen Michelangelo bräuchte, um aus so einem Matterhorn ein wohlproportioniertes, rundes Kunstwerk von anderthalb Stunden zu hauen und zu polieren. Was Steven Sebring und Ceri Levy gelingt, sind dagegen nur zwei anekdotische Steinbrüche.
Sebrings ungeordnete Liebeserklärung an Patti Smith ist davon dann allerdings noch der interessantere. Sein Grundproblem ist zunächst auch noch ein anderes: Bei Patti Smith gibt es keine große künstlerische Fassade, hinter der sich ein ganz anderer Mensch verbirgt. Der Mehrwehrt eines Blicks hinter die Kulissen hält sich in Grenzen, weil Smith schon auf der Bühne und in ihren Texten ziemlich ohne Maske, ziemlich unverstellt dasteht. Smith ist, im guten Sinne, eine Amateurin,
sie ist keine überlegene Manipulatorin und Inszeniererin ihres Materials. (In einer Szene des Films sieht man sie als Gitarristen an einem grundsimplen Blues-Schema in C scheitern...)
So erfährt man im wesentlichen nur, was man ohnehin schon weiß oder geahnt hat von ihr. Plus Geschichtlein über ihre schwache Blase und wie sie bei einem unerwartet langem Trip in einem Kleinflugzeug unbemerkt in eine Flasche gebieselt hat.
Das ist, wo es sich nicht gerade von einer
unangebrachten Woge der Prätention fortheben lässt, aber immerhin nett und sympathisch und eben getragen von einem liebevoll-bewundernden Blick.
Aber hat Sebrings Doku gerade auch wegen der unkritischen Nähe dieser Sicht schon Schwierigkeiten, eine klare Position zu seinem Gegenstand zu finden, einen eigenen Blick und Zugang, welche der Materialsammlung auch einen roten Faden geben würden, so ist Levys Gorillaz-Doku Bananaz nur noch eine reine Materialhalde, ein wirrer Infodump.
Da hat einer die einmalige Gelegenheit, einem eigenbrötlerischen, verschlossenen, grenzgenialen Bastler wie
Damon Albarn in die Werkstatt zu schauen, und das auch noch bei einem seiner interessantesten Projekte – der Cartoon-Konzept-Band Gorillaz, die er zusammen mit dem Comic-Zeichner Jamie Hewlett ins Leben rief. Und dann macht er daraus nicht viel mehr als das konfuse Heimvideo eines pubertären Spielkinds.
Nach Bananaz kann man zwar sagen, man hätte nicht nur schon Pferde vor der Apotheke, sondern auch Damon Albarn vor dem Auftritt kotzen sehen. Aber von dem
kreativen Chaos, das diesen Mann offenbar antreibt und beflügelt, bekommt man hauptsächlich den chaotischen und viel zu wenig den kreativen Teil mit.
Klar: Das liegt auch einfach daran, dass die Dokumentierung des Projekts auf Video wohl anfangs tatsächlich nur für interne Zwecke gedacht war; dass Ceri Levy nicht nur das Handwerk, sondern anfangs schlicht auch die Intentionen eines echten Dokumentarfilmers fehlten. Wenn man, wie er, dann aber mit so einem Konvolut dasteht und
dem nachträglich irgendwie Struktur abringen sollte – warum dann obendrein die fatale Entscheidung, dieses Material ganz für sich sprechen zu lassen und sich jeden Kommentars, ja, selbst so gut wie jeder einordnenden Text-Einblendung zu enthalten?
So fern es uns läge, eine Lanze für die zugetextete, abgedichtete, toterklärte Fernsehdoku-Volkshochschul-Ästhetik zu brechen: Die postmoderne Angst vor jeglicher expliziter Kommentierung ist inzwischen auch schon zur
ebenso kontraproduktiven Masche geworden. Keinerlei Kontext zu geben, kann die Zuschauer in ihrem Blick nicht minder einschränken, als wenn man ihnen alle Beobachtungen, Schlüsse und Wertungen diktiert. (Zu beobachten übrigens auch in der Boxerinnen-Doku Victoire Terminus, Kinshasa.) Das geht, wenn man ein Errol Morris ist und die Beteiligten und Betroffenen tatsächlich dahin bringt, selbst alles zu sagen, was zu sagen ist. Um hunderten Stunden ungefilterter, anekdotischer Beiläufigkeiten eine Form zu verleihen, ist es aber nicht der ideale Ansatz.
Es war, das wurde hinreichend durch die Presse getrieben, die Berlinale der Musik, der Pop- und Rockgrößen: Die Stones, Madonna, Patti Smith, Neil Young – die kleine Sensation, dass Damon Albarn auf dem Festival vorbeischneite, war da kaum eine Fußnote wert.
Das Thema Rockstars zog sich aber auch durch Filme, wo es zunächst nicht offensichtlich war: Deborah »Blondie« Harry hatte in Isabelle Coixets Elegy eine Nebenrolle; Radiohead-Gitarrist Johnny Greenwood steuerte Musik zu P.T. Andersons There Will Be Blood bei (dass er den Soundtrack, der sich an den entscheidensten Stellen auf Ligeti, Pärt und Brahms verlässt, geschrieben hätte, wäre etwas zu viel gesagt); die Musikuntermalung zu dem finnischen Wettbewerbsbeitrag Musta Jää (Black Ice) stammte von Apocalyptica-Chef Eicca Toppinen. (Vielleicht fand die Berlinale deshalb, dass Musta Jää sich in ihr Programm fügte. Was ihm sonst den Platz im Wettbewerb verschafft hatte, außer der Tatsache, dass das Medienboard Berlin-Brandenburg ihn mitproduziert hat, wusste keiner recht zu sagen, angesichts eines Films, der sich in seiner zweiten Hälfte mit seinen krampfig-bedeutungsschwangeren
Konstellationen um Kopf und Kragen konstruierte.)
Aber wie schon in dem Text über Shine A Light beschrieben: Der Reiz an diesem Wildern in dem Kino benachbarten Disziplinen war weniger die Musik an sich, als die Energie, der Mythos, die Persona der Performer. Wie stark die (nach)wirken kann, auch ganz ohne Musik, nur als Konserve, und mit Jahrzehnten Abstand, das war am Extremsten bei Jesus Christus Erlöser zu beobachten: Der aus rechtlichen Gründen erst jetzt umfänglich veröffentlichte Aufzeichnung von Klaus Kinskis legendärem Auftritt in der Berliner Deutschlandhalle 1971. Ein Mann, ein Mikro, ein Scheinwerferkegel, ein anderhalbstündiger Text, mehr nicht. Und selbst wenn das so, wie es geplant war, über die Bühne gegangen wäre, dann hätte es einem noch immer eines der stärksten Erlebnisse dieser Berlinale
verschafft.
Aber an diesem Abend kündigte das Publikum seinen Kontrakt mit dem Künstler, da wollte es sich nicht daran halten, dass da einer vorne etwas macht, und die paar Tausend anderen sitzen still da und schauen ihm zu. Es war die Zeit, wo jeder meinte, immer und überall über alles diskutieren zu müssen, wo jede Meinung als gleich wichtig und gleich verkündenswert galt, eine Zeit aber auch, wo in Deutschland Kinski schon fast nur noch als Parodie, Abziehbild seiner selbst
wahrgenommen wurde, wo viele nichts von ihm wollten als die große, bunte Kinski-Show, Kinski den Freak, Kinski den Irren. Es muss eine leicht entzündliche Mischung gebrodelt haben, damals in jener Halle, aus vorlauter, dummschnäuziger Borniertheit und Überhebelichkeit einerseits, aus gutmeinender, irregehender Engagiertheit andererseits. Und dann also wird Kinski immer wieder von Zwischenrufen unterbrochen, und nach ein paar anfänglichen Versuchen, das einfach zu
ignorieren, gibt er eben doch Kontra, rastet aus, wütet, schlüpft in die Rolle des Verfolgten und Missverstandenen, macht sich zum Jesus und das Publikum zu den Pharisäern, keift die echten Idioten unterschiedslos genauso an wie die, die das so nicht verdient haben, die schlichten wollen oder seinen Vortrag immerhin ernst nehmen.
Ja, klar, man bekommt sie hier dann schon auch, eben jene große, bunte Kinski-Show, Kinski den Freak – aber das wahrhaft Fesselnde und Faszinierende
ist doch Kinski der Profi, Kinski der Schauspieler, Kinski der Künstler. Nicht die Ausbrüche sind das Bemerkenswerte – bemerkenswert sind immer wieder die Versuche danach, sich zu fangen und zu sammeln, seinem Text zum Recht zu verhelfen. (Wer in Kinski nur einen planlosen Berserker sieht, möge übrigens erklären, wie der es schafft, 30 Schreibmaschinenseiten Text fehlerfrei auswendig zu lernen...) Man darf nie unterschätzen, wie kalkuliert das alles war, was Kinski tat –
bis hin zur Inszenierung seiner Persona vom Wilden Mann.
Ja, Kinski geht in Jesus Christus Erlöser manchmal zu weit mit seinen Publikumsbeschimpfungen. Aber wie soll man urteilen, dass er damit nicht im Grunde Recht hat, zumindest mehr Recht als die Zwischenrufer, Klugscheißer und Möchtegern-Witzbolde, die ihm in den Monolog fahren, wenn der eine, große, zentrale Punkt, an dem sich wieder und
wieder die Unterbrechungen aufhängen, nur der ist, dass der Eintritt zu der Veranstaltung 10 Mark gekostet hat.
Das Live-Moment, die Performance – und das Kino nur als Apparatur, diese einzufangen, festzuhalten: Das war wohl der dickste rote Faden, der sich mehr oder minder heimlich durch die gesamte Berlinale schlängelte.
Und dazu passte, dass selbst die Film-Fiktionen, die hier vertreten waren, oft stark auf diesen Aspekt setzten. Mehr noch als ein Festival der Themen-Filme war es ein Festival der Schauspieler-Filme.
Im besten Fall sah das dann so aus wie in Il Y'a Longtemps Que Je T'aime von Philippe Claudel: Der wusste ganz genau, was seine Attraktion war und überließ ihr ohne Kompromisse – aber mit sehr reifer, unaufdringlicher Präzision in der Inszenierung – die Bühne. Und was für eine Attraktion das war! Die anbetungswürdige Kristin Scott Thomas nämlich, die hier endlich, endlich mal einen ganzen Film bekommt, der verliebt ist in ihr Gesicht und jeder
seiner noch so kleinen Nuancen akribisch nachgeht. Dass Scott Thomas nicht den Bären für die beste Darstellerin bekommen hat, ist ein kleiner Skandal, denn was sie hier an Farben auffährt, was sie an feinsten Schattierungen präsentiert, wie sie mit einer millimeterkleinen Regung der Mimik eine ganze neue Gefühlswelt auftut, das sucht seinesgleichen. Es ist das genaue Gegenteil jenes Geschreies und Gegreines, für das man gewöhnlicherweise Schauspiel-Oscars bekommt – ihre
Juliette, eine nach Verbüßen ihre Strafe zu ihrer Schwester ziehende Kindsmörderin, ist eine fast hermetische Figur, eine, die alles für sich behält, die die Welt auf Distanz hält. (Es wäre ein Thema für eine andere Gelegenheit, wie sehr solche Typen, solche Weltabweiser, -vonsichstoßer derzeit auf der Leinwand überhandnehmen, von Into the Wild bis There Will Be Blood.)
Aber Scott Thomas beherrscht die große, die ultimative Kunst, einen ohne Worte und fast ohne Gesten wissen zu lassen, was hinter ihren Augen vor sich geht, und glauben zu lassen, dass dies fast unerschöpflich tief und vielschichtig ist. Wenn sie eine Augenbraue hebt, dann ist mir das mehr und wahreres Spektakel, als sämtliche Explosionen eines Michael-Bay-Films
zusammengenommen.
Im weniger idealen Fall fordert die Konzentration auf die Schauspieler und ihre Kunst allerdings auch filmische Opfer: Man versteht ja, dass Doris Dörrie zunehmend die Lust verliert am großen, umständlichen Filmapparat. Dass sie nah, spontan und ungehindert an ihren Darstellern dran sein will. Und es gibt sicher Vieles an Kirschblüten – HanamiI, was der Arbeitsweise mit Mini-Team
und HD-Kamera geschuldet ist, was so nur zustande kommen konnte, weil fast alle Konzentration auf die Figuren gelenkt wurde und kaum welche auf die Technik. Und es gibt, gerade in der ersten, »deutschen« Hälfte des Films, gerade in den kleinen, alltäglichen Unerträglichkeiten des Familiendaseins, auch viel, was stimmt, was trifft, was eine Wahrhaftigkeit hat, die nicht viel Brimborium drum rum braucht, um anzukommen.
Aber der Preis dafür ist, dass hier das Kino immer wieder
auf seine ureigensten Mittel vergisst – dass die Bilder nur noch funktional werden, dass sie zu Transporteuren eines Inhalts verkommen und ihnen das Glänzen und Staunen abhanden kommt.
Und das ist beileibe kein Problem von Dörrie allein – das scheint im Digitalzeitalter des Weltkinos immer mehr um sich zu greifen. Und immer wieder hat man dabei das Gefühl: Der berechtigte künstlerische Wunsch nach Spontaneität, Unmittelbarkeit, die Sehnsucht, vom technischen
Apparat ganz unbehelligt zu sein, kippt gerne auch mal um in bloße Unwilligkeit, sich der künstlerischen Mühen zu unterziehen, die es nun einmal mit sich bringt, wenn man das Medium seiner Wahl wirklich ernst nimmt und ausreizt.
Es war wirklich erstaunlich, wie viele Filme auf der Berlinale einen mehr oder minder »unsichtbaren«, einen alltäglichen oder semi-dokumentarischen Stil pflegten. Wie wieder und wieder das Medium nur als vermeintlich transparenter Träger für Inhalte, Themen, Performances genutzt wurde.
Und wie wohl es dann tat, wenn jemand das Kino zur Abwechslung mal wieder als eigene Welt und eigene Kunstform zelebrierte. Im Wettbewerb (und vermutlich auf dem gesamten Festival) gab es
niemanden, der so virtuos und lustvoll mit den puren Möglichkeiten des Kinoapparats spielte wie Johnnie To. Sein Man jeuk (Sparrow) war der einzige wirkliche Entwurf einer Gegenrealität, einer Welt aus Rhythmus, Bewegungen, Formen, Formeln und Musik. Es war ein Quasi-Musical mit der Kamera als
Fred Astaire und dem Schnitt als Ginger Rogers, war Tos Hommage an Pickpocket, war sein Les Parapluies De Hong-Kong.
Tos enorme Virtuosität kommt in diesem Film so leicht und selbstverständlich wie die Trick-Taschendiebstähle seiner kleinkriminellen Protagonisten. Es ist ein Film voller kurzer, flüchtiger Berührungen, bei denen immer etwas von einer zur
anderen Person übergeht – das Geld wie die Liebe. Zum Showdown braucht es dann nichts als eine Straßenkreuzung, Schirme, Rasierklingen und einen Pass, an dem das ganze Schicksal hängt.
Und dann bekommt der vermeintlich nur klischeehafte, etwas lächerliche Bösewicht, dieser alte, häßliche Mann, dem man nichts zugetraut hat außer Gier, am Ende einfach so den einen Moment purer, selbstloser Größe im ganzen Film geschenkt.
Wer nach Man jeuk nicht glücklich aus dem Saal schwebte, der muss an dem ganzen Phänomen Kino irgendwie fundamental was falsch verstanden haben...
Dass einen aber auch das Festival insgesamt mit einem positiven Nachklang in die wirkliche Welt entließ, lag neben dem allgemein sehr brauchbaren Jahrgang auch daran, dass es an Anfang und Ende solch passende Klammern setzte.
Am ersten (Pressevorführungs-)Tag wurde gleich auf’s Glücklichste das Möglichkeits-Spektrum des Kinos aufgefächert: Bei Guy Maddins My Winnipeg die
unwirkliche Traummaschine, die oneiropoetische Zauberkiste, die verführerische Entführung in die Gefilde des Unterbewussten. Dann mit Shine A Light – über den wir uns ja schon ausführlich ausgelassen haben – der Film als Aufzeichnungsapparat, als Dokumentarist, Archivar und Transporteur des einmaligen, wahren Moments. Und schließlich mit Om Shanti Om ein großes, buntes Manifest für die Kraft des Fiktionalen.
My Winnipeg ist Guy Maddin at his best – nominell eine Doku über seine Heimatstadt, ein bisschen auch ein Essay-Film, aber letztlich doch einfach wieder eine Reise tief ins einzigartige Maddin-Country: Eine Welt, die immer so aussieht wie ein 20er-Jahre-Stummfilm, den jemand auf dem Dachboden in einer alten Kiste vergessen hat und den man jetzt, verkratzt, halbzersetzt zufällig ans Licht zerrt – eine angeranzte Erinnerung, so fadenscheinig, unzuverlässig, halbgeträumt wie unser Gedächtnis. Das reale Winnipeg, Autobiographisches, Fabuliertes, Unwahrscheinliches und Unmögliches fließen da lustvoll ineinander; Séancen, mitten im Fluss eingefrorene Pferdeköpfe, der Schoß der dominanten Mutter, eine simulierte Invasion der Nazis, Abrisse historischer Architekturdenkmäler, all das fantasiert Maddin unter einen Zauberhut: Das Kino ist die Schwester des Traums, es gibt nach My Winnipeg keinerlei Zweifel mehr daran.
Dann aber eben das helle, reale Rampenlicht von Shine A Light, und gleich danach noch eine andere Variante, und auch sie auf ihre Art ebenso überzeugend, gültig, begeisternd: Eher wieder dem Traum verwandt, aber ein kollektiver, kalkulierter, konstruierter Traum. Nicht das unmittelbar geschürfte, dunkle Gold eines persönlichen Unterbewussten, sondern das raffinierte, glänzende, in wohlvertraute Formen geschmiedete, polierte Edelmetall der projizierten allgemeinen Sehnsüchte.
Om Shanti Om, das neueste Vehikel für Shahrukh Khan, ist in seiner ersten Hälfte eine Hommage/Parodie auf das Bollywood der 70er Jahre, für den hiesigen Zuschauer vielleicht ein bisschen zu voll mit Anspielungen für die mit dieser Tradition besser Vertrauten. In seinem zweiten Teil aber ist er eine herrliche Variante auf Shakespeares »Mausefalle« aus »Hamlet«: Da wird die Fiktion zum
moralischen Instrument, wird dem Mörder sein Verbrechen noch einmal vorgespielt (hier als Film statt als Theaterstück, versteht sich) – da verhilft erst der Schein der Wahrheit ans Licht.
Freilich ist das, nüchtern betrachtet, ein nicht übertrieben stichhaltiges Plädoyer für die vorgespiegelte als die wertvollere Realität. Aber Om Shanti Om ist Bollywood, und Bollywood läßt
einem wenig Chancen zum nüchternen Betrachten. Und überhaupt, wie sagte Herr Licht so treffend: »Nur charmant muss es sein (...) und an Witz darf es nicht fehlen, und sexy soll es sein, und Esprit soll es haben. Und Heiterkeit.« Und, bei Krishna, das hatte es. (Das mit dem »subtil muss es sein« haben wir jetzt aber sicherheitshalber weggelassen, weil... subtil: Eher nein.)
(Seinen größten Star hat das Festival übrigens ein bisschen verschenkt – wohl weil den Berlinale-Machern selbst nicht klar genug war, wen sie sich mit Shahrukh Khan da eingeladen hatten. Ja, klar, Bollywoodstar, hat so seine Fans, das wird man wohl gewusst haben. Aber dass da in Wahrheit im Vergleich selbst die Stones und Madonna kleine Nummern sind, hat man wohl erst nachträglich realisiert. Kein Film war so schnell ausverkauft, bei keinem anderen Roten Teppich gab es derartig fanatischen Auftrieb – aus der ganzen Republik, ja teils aus dem europäischen Ausland waren Verehrerinnen angereist, um einmal ihrem Idol leibhaftig nahe zu sein. Selbst bei Khans Erscheinen auf dem Talent Campus musste die Polizei weiträumig und langfristig für Absperrungen sorgen.)
Ein solches Dreierpack als Auftakt, da braucht man dann schon allein ein paar Festival-Tage um zu merken, dass gar nicht sooo viele Filme das große Versprechen einlösen, dass das hier aufgespannte Dreieck an Leinwand-Möglichkeiten in manchen seiner Ecken (vor allem dem Traumhaften und der Fiktion als besserer Wahrheit) eher dünnbesiedelt blieb.
Und wie soll man die gewisse Ernüchterung, die auf Dauer bei keinem Festival ganz ausbleibt, mit nach Hause nehmen, wenn man zum
Schluss mit einer noch wunderbareren Fantasie von den Möglichkeiten des Kinos verabschiedet wird?
Ist überhaupt ein idealerer Festival-Abschlussfilm denkbar als Michel Gondrys Be Kind Rewind? Als diese Utopie vom Kino als demokratischem, gemeinschaftsstiftendem, de-marginalisierendem Medium? Ich wüsste keinen.
Die Grundidee ist so brillant wie einfach: Jack Black und Mos Def
spielen zwei Kackspechte in einem Kaff in New Jersey, die versehentlich alle Bänder in der alten, winzigen Videothek löschen, in denen der eine von ihnen arbeitet. Und da bleibt ihnen nichts, als alle gewünschten Streifen einfach schnell selbst in Heimarbeit mit ihrer Videokamera und einfachsten Mitteln nachzudrehen.
Was Gondry daraus macht, das ist – wen wundert’s nach The Science
of Sleep – eine mindest ebenso schön handgebastelte, liebevolle, verschrobene, ideensprühende, witzvolle Bricolage wie die Werke seiner Protagonisten. Und es ist eben, ohne dass es aufgesetzt wirkt, zugleich eine Fantasie über die Filme unserer Erinnerung, über die Macht des Selbstgemachten, über den Weg von der Imitation zur Kreation, über alternative Geschichtsschreibungen – und über ein Kino an der Basis, an den Wurzeln, das den Ausgegrenzten ein Podium,
eine Stimme und eine Heimat gibt.
Was soll’s, wenn man in zehn Tagen Festival in Wahrheit eigentlich keinen Film gesehen hat, der das wirklich und völlig einlösen würde?
Man wird ja wohl – und das ist in seinem gesamten Oeuvre Gondrys beglückende, befreiende Botschaft – noch träumen dürfen!
Thomas Willmann