15.02.2010
60. Berlinale 2010

Hinterm Horizont geht's weiter

Bedways
Bedways
(Foto: Reverse Angle / Neue Visionen Filmverleih GmbH)

Sex und Wahrheit, tolle Gesichter und etwas zu wenig Spielfilme in Alfred Holighaus' letzter »Perspektive Deutsches Kino«

Von Rüdiger Suchsland

»Komm her« sagt die Frau, ein erster Satz, der einiges verspricht, und während man noch rätselt, ob er viel­leicht auch eine Drohung enthält, hat der Film einen mit hartem rockigen Sound schon mitge­rissen auf eine Reise in die Nacht, die auch nah am Abgrund entlang führt, auf den Spuren von Abel Ferrara und Klaus Lemke: Zwei Frauen und ein Jüngling sind einge­spannt in ein fatales Abhän­gig­keits-Drei­ecks­ver­hältnis, in dem Gefühle und Sex genauso zum Tausch­mittel werden, wie Wissen und Macht. Ober­fläch­lich betrachtet erzählt Regisseur RP Kahl in Bedways von einer Regis­seurin, die mit zwei Schau­spie­lern eine Liebes­ge­schichte insze­niert, und dabei sich selbst nicht heraus­halten kann; Leben und Kino vermi­schen sich zunehmend. Eine Schöp­fungs­ge­schichte, flanie­rend und kapi­tel­weise erzählt an sieben Tagen, zugleich eine Reflexion über Sexua­lität und Wahrheit, die ebenso mutig ist, wie intel­li­gent, so ironisch wie abgründig – ein Film auf der Suche, in dem die Fragmente einer Sprache der Liebe sich vermi­schen mit Kino-Frag­menten; verklärte Nacht zur Musik »Sissi­me­tall« und »MyPark«.

Wenn die Perspek­tive Deutsches Kino ein Verspre­chen ist, dann liefert Bedways die Erfüllung: Ein Film, der nichts verspricht und alles hält, eine (Selbst-)Reflexion des Regis­seurs der auch als Schau­spieler arbeitet, über das Filme­ma­chen und die Schau­spie­lerei, die sich auf einem schmalen Grad bewegt, aber niemals abstürzt. Er ist ein Solitär im Programm der Berlinale-Perspek­tive, die immer ein wenig oszil­liert zwischen freund­li­chem Reservat für Film­hoch­schüler und Ort der wahren Entde­ckungen. Letztere wurden hier oft gemacht in den neun Jahren, in denen Alfred Holighaus die Reihe leitete – jetzt wechselt er als Geschäfts­führer zur Deutschen Film­aka­demie.

Dietrich Brüg­ge­mann ist eine der Perspek­tive-Entde­ckungen. Auch sein zweiter Film Renn, wenn du kannst erzählt von einem Drei­ecks­ver­hältnis, und die diese beiden langen Spiel­filme im Programm markieren in ihren riesigen Unter­schieden, bei ober­fläch­li­cher Gemein­sam­keit, die beiden Pole zwischen bravem Main­stream und subver­siver Avant­garde, in die auch das übrige Programm einge­spannt ist. Eine Stärke beider Filme sind die Darsteller: Anna Brüg­ge­mann, Lana Cooper, Myriam Mayet (in Bedways) haben nicht nur ihre tollen, so ausdrucks­vollen und beson­deren Gesichter gemeinsam, sondern auch Regis­seure, die sie zu schätzen wissen und ihnen Szenen von seltener Inten­sität geben.

Das übrige dies­jäh­rige Perspek­ti­ven­pro­gramm setzt die Tendenzen der letzten Jahre fort: Mehr Doku­men­tar­filme, viel mehr mittel­langes, deutlich weniger Spiel­filme. Auch wenn Holighaus mit Recht darauf verweist, dass diese Sektion immer das Ziel hatte, Freiräume jenseits des engeren Programm­kor­setts der übrigen Reihen zu bieten, ist das schade. Denn die Spiel­filme sind da in Deutsch­land, und so wird man den Verdacht nicht los, dass man den einen oder anderen Lang-Film viel­leicht nicht bekommen hat. Der Trend zurück zu Genres­tü­cken, der in allen anderen Reihen deutlich ist, ist hier nicht bemerkbar.
Was den Filmen im Programm immer gut gelingt: Realismus. Ob in der eindring­li­chen, aber auch tristen Milieu­studie Narben im Beton von Juliane Engelmann oder in Marie­jo­se­phin Schnei­ders inten­sivem Iden­ti­täts­drama Jessi oder in Evi Gold­brun­ners poppiger Glamour­re­fle­xion Wags: Kühl und direkt ist der Blick, und nicht zufällig sind es Regis­seu­rinnen und weibliche Haupt­fi­guren, die hier nicht nur gegenüber dem anderen Geschlecht ihre Freiheit einfor­dern.

Etwas mehr Exzess und einen ganz anderen Blick, auch jenseits aller Natu­ra­lismen, erlaubt sich der Schau­spieler Sergej Moya in seinem Hollywood Drama, ein Film-im-Film-Stück zwischen Fiktion und Wirk­lich­keit. Ein weiteres Spiel mit Kino­ge­setzen ist Linus de Paolis The Boy Who Would't Kill, ein Fantasy-Western aus dem Diesseits.

Manche dieser Filme haben tatsäch­lich den Charakter von Visi­ten­karten – ob es immer für den Tatort reicht, sei dahin­ge­stellt. Aber muss es denn überhaupt immer Fernsehen sein? Der unbe­wusste Einfluss der TV-Ästhetik und der sehr bewusste ökono­mi­sche Druck der Redak­tionen auf die Macher schwebt wie ein Damo­kles­schwert über fast allen dieser jungen deutschen Filme. Ande­rer­seits lief kürzlich erst in der ARD der erste Tatort von Florian Schwarz, der hier einst mit Katze im Sack einen der immer noch besten und unge­wöhn­lichsten Spiel­filme präsen­tiert hatte: Da zeigt sich dass das Fernsehen gerade Genrein­ter­es­sierten eine Zuflucht bieten kann – siehe auch Dominik Grafs Miniserie Im Angesicht des Verbre­chens im Forum.

Perspek­tiven, das liegt in der Natur der Sache, reichen über den Horizont hinaus. Alfred Holighaus übergibt eine etablierte Sektion: Robert Thalheims Netto wurde hier entdeckt, Prin­zes­sin­nenbad, Hotel Very Welcome und vieles mehr. Eine tolle Bilanz – und hoffent­lich ein Verspre­chen auf die Zukunft.