60. Berlinale 2010
Über dem Pflaster das Eis |
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Familienzusammenführung in Wang Quan'ans Eröffnungsfilm Tuan Yuan – Together Apart |
Von Thomas Willmann
Noch bevor der erste Meter Zelluloid, das erste Byte Bildinformation durch die Projektoren gesummt war, hatte die Berlinale ihr erstes großes Thema: das Wetter. Es herrscht Eiszeit in Berlin. Die erste Meldung auf der Berlinale-Homepage war zum Start eine Empfehlung für festes Schuhwerk und winterfeste Kleidung. Und das war nicht als Witz gemeint. Faustdicke, pockige Eispanzer haben sich über die Gehsteige gebreitet. Hiesige Zeitungen befragen tatsächlich Curling-Spielerinnen, wie man am besten auf glattem Untergrund einherstaksen soll. Und sie befragen Judo-Kämpfer, wie man sich am besten, verletzungsvermeidend im Fall des Falles fallen lässt – wohl falls die Curling-Spielerinnen Unsinn erzählt haben. Fachbesucher bilden Seilschaften, und es gehen Gerüchte um, dass Joseph Vilsmaier schon in den Startlöchern steht, um die Geschichte der ersten Abhandengekommenen zu verfilmen.
Und es ist nicht das schlechteste Thema. Dem meteorologische Ausnahmezustand eignet ein demokratisches Moment. Denn er ist wirklich länder- und sprachübergreifend, man muss keinen Film gesehen haben, muss kein Cineast sein, muss nicht mal wissen, wie man Knio buchstabiert um mitreden zu können. Es gibt ein verbindendes Gefühl, dass die Weltstadt Berlin auch den Potsdamer Platz nicht von der potentiell knochenknackenden Schicht befreien konnte oder wollte. Der Frost ist ein Gleichmacher, der Schnee malt alles weiß, Frieren und Schlittern sind universal. Es ist ein großes »Wir« der Menschen gegen die Elemente.
Das Ganze ist auch lang nicht so stimmungserstickend, wie man meinen könnte: Es macht die Leute auf andere Weise trotzig als der übliche Berliner Februar-Trist. Die Menschenansammlungen unter freiem Himmel mögen etwas (aber auch nur etwas) kleiner sein als sonst – aber sie sind da, und sie dürfen das Gefühl wahren Heldentums haben.
Die Neugier hat mich am Eröffnungsabend doch kurz zum Brandenburger Tor getrieben, wo die neu restaurierte Metropolis-Fassung als kostenlose Open-Air-Vorführung zu sehen war. Und da waren wahrhaftig ein paar Hundert Menschen versammelt, die sich von Wind und Schneetreiben nicht schrecken ließen, zweieinhalb Stunden Stummfilm zu schauen. Und wäre es nicht zu kalt hier für ohne Kopfbedeckung, müsste man sagen: Hut ab! Denn das war einer der bisher eindrucksvollsten Beweise, dass die Berlinale doch noch den
Spagat zwischen Branchenbetrieb und in die Stadt ausstrahlendem Publikumsfestival hinbekommt.
Selbst habe ich mir Metropolis dann aber doch lieber in überdachten und beheizten Verhältnissen betrachtet, bei der Generalprobe mit Live-Orchester im Friedrichstadtpalast. Und man ist ja immer ein bisschen skeptisch, wenn wieder eine neue Restaurierung eines Klassikers angekündigt ist, weil die Unterschiede zu oft dann doch nicht allzu revolutionär ist. Hier aber muss ich wirklich sagen: Es ist nicht nur ein anderer, sondern auch ein wesentlich stärkerer Film geworden.
Ich will ganz ehrlich sein: Bei aller Bewunderung für Langs Monumentalwerk hat es mich doch auch immer letztlich ein wenig kalt gelassen. Ich fand es im Ganzen ein bisschen zu schematisch, allegorisch. Die Geschichte und die Figuren hatten für mich nie annähernd die Größe der Bilder. Das war diesmal anders. Mag freilich auch an der musikalischen Begleitung gelegen haben – ich habe den Film schon in etlichen Fassungen und Aufführungen gesehen, aber noch nie mit orchestraler Live-Begleitung. Und die hat halt doch einen anderen Farbenreichtum, eine andere Wärme und Wucht als Klaviergetöne oder Tonkonserve. Mehr noch aber lag es doch an der neuen Fassung – bei der man kein Wundergedächtnis braucht, um jedes hinzugekommene Fitzelchen eindeutig zu identifizieren, da das verschrammte, ramponierte argentinische 16mm-Material die Spuren seiner Geschichte auch nach digitaler Aufhübschungsversuche unverkennbar im Angesicht trägt.
Es dauert ein bisschen, bis wesentliche Änderungen sichtbar werden: Anfangs beschränken sich die Funde tatsächlich nur auf ein paar versprengte Einstellungen – hier ein Moment mit dem Zeremonienmeister mehr, da eine Reaktion von Freder dazu. Aber schon hier dämmert zunehmend das Gefühl, dass der Film nun wieder seinen ursprünglichen Atem zurückgewonnen hat. Es ist der klassische Fall eines Werks, das in längerer Fassung kurzweiliger wirkt, weil der Rhythmus einfach
besser stimmt, einen mehr mitnimmt.
Doch nicht nur den Atem gibt Metropolis das »neue« Material – auch das Herz, diesen unverzichtbaren Mittler zwischen Konzept und Konkretem, schlägt nun wieder viel vernehmbarer. Die Figuren stehen nichtmehr nur für Prinzipien: Die Feindschaft von Joh Fredersen und Rotwang, erfährt man nun, beruht auf einer alten, unglücklichen Dreiecksgeschichte
– der Unternehmer hatte dem Erfinder einst die unsterblich Geliebte weggenommen, und dann war sie bei der Geburt seines Sohnes gestorben. Plötzlich hat Rotwangs Schöpfungswahn also eine ganz andere Dimension. Und die Hauptcharaktere des Films wirken auch deswegen plastischer, weil sie nicht mehr so allein, im um sie luftleeren Figurenraum agieren, weil es Geschichten und Biographien neben ihren gibt: Josaphat, der entlassene Sekretär Joh Fredersen, ist nun eine gebrochene
Gestalt, deren Treue zu Freder einen echten Preis, echte Größe hat. Und der Arbeiter, den Freder an einer Maschine ablöst, ist nun nicht länger ein bloßes Plot-Zahnrädchen, sondern ein Mensch: »Gregory«, wie er heißt, hat jetzt eine ganze eigene Nebenhandlung – in deren Verlauf auch der Vergnügungsclub Yoshiwara schon früh eingeführt und so vielmehr zum echten Teil der Stadt-Geographie wird statt zum bloß allegorischen Ort. Und wenn Gregory später für Freder stirbt, dann hat
auch er, hat auch dieser Moment nun wahre Tragik.
Aber auch auf symbolisch-allegorischer Ebene ist Metropolis jetzt wieder ein reicherer, oragnischerer Film geworden. Die motivischen Querverbindungen sind stärker, dichter, wuchernder: Hel etwa – die Geliebte, die Rotwang an Joh Fredersen verlor – vervollständigt das Frauen-Vieleck der beiden Marias und der Hure Babylon. Oder der apokalyptische Tanz der Androidin ist nun parallelmontiert mit Fieberfantasien Freders von dem Prediger, der von eben jener Hure Babylon spricht.
All das sind Dinge, wo man sich bereits fragt, wer je auf die Idee kommen konnte, dass Metropolis ohne sie ein besserer, besser vermarktbarer Film sein würde. Vollends verblüffend aber ist, dass nun auch die großen Action-Sequenzen am Ende ungleich dramatischer sind: Die Rettung der Kinder vor den Wassermassen ist jetzt wieder von einer atemberaubenden Dramatik, die alle Blockbuster der letzten Jahre ziemlich lahm aussehen lässt. Das beginnt damit, dass man nun erkennt, wieviel Anstrengung es Maria kostet, denn Gong am Läuten zu halten, mit der sie die Kinder zu sich ruft. Und dann folgt eine lange Passage, in der die Kinderhorden in ein Treppenhaus gepfercht sind, von unten immer weiter nachdrängend, dem steigenden Wasser entfliehend, wo oben aber eine Eisengittertür den Weg ins Freie versperrt. Die einzige sinnvolle Erklärung für die Entfernung dieser Szenen kann nur sein, dass man sie damals zu aufregend fand für das amerikanische Publikum.
Man könnte es vielleicht auch so sagen: Es ist jetzt wieder mehr Fritz Lang in Metropolis. Die gekürzte Fassung stand Thea von Harbou näher – deren Begeisterung für politische Allegorie aber hat Lang ja wohl eher toleriert als ernsthaft geteilt; die Sinnspruch-»Aussage« war stets einer der schwächeren Aspekte des Films. Freilich ist dieser Aspekt nun nicht verschwunden – alles, was bisher in diesem Film zu finden war, ist ja nach wie vor da. Aber es ist nun Teil geworden eines komplexeren, vielschichtigeren Wechselspiels von Kräften. Es gibt jetzt einfach mehr Ebenen, auf denen Metropolis funktioniert und kommuniziert. Und für mich zumindest hat sich das nun zum erstenmal nicht nur im Kopf auch wirklich wie das Meisterwerk angefühlt, von dem man schon immer aus Vernunftgründen sprechen musste.
Eis, Weiß und Frost legen allerdings auch Bilder von Erstarrung, Verkrustung nahe. Und so ganz sind die nicht von der Hand zu weisen. Wenn man all die Rückblicke vor Augen hat, die zum 60. Jubiläum jetzt allüberall zelebriert werden, dann muss man schon zugeben: Einen Film wie manchen damals, der in der Filmgeschichte – oder gar in der Geschichte der Stadt, der Republik – etwas bewegt, dauerhafte Spuren hinterlassen wird, den erwartet hier niemand mehr. Diese
Lebendigkeit traut man diesem Festival dann doch nicht mehr zu.
Das ist nur sehr bedingt ein Problem der Berlinale und viel mehr eins des Mediums, der Kultur im allgemeinen. Es liegt nicht daran, dass große Kunst oder potentiell provokante Werke prinzipiell seltener geworden sind. Und es liegt auch nur teils an einer tatsächlich größeren Toleranz insgesamt: Es liegt vor allem daran, dass alle sich jene Dinge, über die man sich aufregen würde, besser vom Leib halten können. Es gibt
kaum noch öffentliche Foren, an denen eine bunte Mehrheit teil hat und wo neue Gedanken auf jene Leute treffen könnten, die nicht auf sie vorbereitet sind. Umso mehr aber könnte ja ein Festival wie die Berlinale ein Zeichen setzen mit seinem Eröffnungsfilm. Doch ein weiteres Mal war mit Tuan Yuan – Together Apart eine eher rätselhafte Wahl am Start.
Die Auswahl des Berlinale-Openers ist ohnehin eine höchst arkane, obskure Kunst, die hauptsächlich von Faktoren beeinflusst scheint wie »Möglicher Roter Teppich-Star«, »Freundesdienste an Produktionsfirmen«, »Mondphase« und »Vogelflug«. Man stellt sich da immer irgend eine von flackernden Super8-Projektlampen beleuchtete Grotte unter dem Potsdamer Platz vor, wo Dieter Koslick in einer Zelluloid-Robe ein Starlet opfert, um dann nach Anrufung der Gottheit Ar-Ri den Kandidaten zu bestimmen. Und nach mancher kompletter Unverständlichkeit in den letzten Jahren war Tuan Yuan immerhin von respektabler cineastischer Qualität. Hier kann man definitiv nicht vorwerfen, dass der schnöde Glamour-Quotient den Ausschlag gab, denn der liegt hier bei Null.
Nein, es war wohl eher das Gesetz, dass wer einmal auf der Berlinale war, nach Belieben wieder kommen darf. Und hier hat man es eben mit dem neuen Werk von Wang Quan'an zu tun, der einst mit Tuyas Hochzeit zum Überraschungsgewinner wurde. (Der aber nicht aus Dankbarkeit gegenüber nun Tuya’s Neukölln gedreht hätte.) Plus: Da in diesem Film quasi ohne Essen gar nicht kommuniziert werden kann; da jedem wichtigen Gespräch erst einmal ein großes Kochen vorausgeht; da die Charaktere ihre Gefühle, so scheint’s manchmal, besser darüber ausdrücken können, was sie dem anderen servieren, als über das Diskutieren – darum war das quasi auch gleich ein passendes filmisches Appetithäppchen für Koslicks »Kulinarisches Kino«.
Und ja, man kann eigentlich nicht viel sagen gegen diese Geschichte vom taiwanesisch-chinesischen Liebespaar, das nach Jahrzehnten politisch bedingter Trennung erstmals wieder zusammenkommt – als sie, die Chinesin, in Shanghai längst eine Familie mit einem anderen aufgebaut hat. Da sind einige nette Überraschungen dabei – der aktuelle Ehemann etwa erweist sich der ganzen Sache gegenüber als unerwartet aufgeschlossen; grad', als man das große Drama erwartet, meint er: Ach nö, er hat das mit seiner Frau besprochen, alles kein Problem, er will da jetzt nicht im Wege stehen. Es ist auch ein hübsch bedächtiger Film über das moderne Hochgeschwindigkeits-Shanghai, in dem die alte Lebenswelt der Figuren schneller verschwindet, als sie reden und handeln. Und das Ganze ist mit einer großen Sorgfalt inszeniert, da gibt es vor allem Familien-Tableaus, die an die großen Asienkino-Meister wie Ozu erinnern – wo eine lange Einstellung lediglich durch ein Verändern der Figurenkonstellation, durch ein paar Zentimeter Kamerabewegung zu einer ganz neuen Szene wird, wo etwa ein Gruppenbild sich so zum Dreier-Drama wandelt.
Aber über allem liegt eben auch eine solche Gediegenheit, dass einem danach so wenig bleibt davon. Als Eröffnungsfilm war das, absichtlich oder unabsichtlich, ein Statement im Sinn von: »Wir sind ein cineastisches Festival, wir sind aufgeschlossen gegenüber dem Weltkino, wir sind Freunde auch der kleinen Leute – aber wir tun niemand weh, wir wollen keine bleibenden Spuren hinterlassen.« Und grade in einem Jubiläumsjahr, grade bei all dem, was in der Welt derzeit los ist und was sich auf der Leinwand spiegeln ließe – gerade da ließ einen das dann doch ziemlich kühl.