19.02.2010
60. Berlinale 2010

Mit dem Clown kommen die Tränen

Jud Süss - Film ohne Gewissen
Tobias Moretti, Moritz Bleibtreu in Jud Süss – Film ohne Gewissen
(Foto: Concorde Filmverleih GmbH)

Engel, Folterknechte, Gangster und Vegetarier sowie Oskar Roehlers Sittenbild des Faschismus

Von Rüdiger Suchsland

Geschmacks­frage. Man saß beim Interview im Musi­cal­pa­last der Berlinale; die Regis­seurin erzählte gerade von der mise­ra­blen Vorführ­qua­lität bei ihrem Film, da hörte man über den Laut­spre­cher eines der unzäh­ligen, über das Gelände verteilten Monitore den Festi­valeiter bei einer seiner vielen Reden: »Kino­kultur«, sagte der Festi­val­leiter, und »Kiez-Kino«, während die Regis­seurin über den Fried­rich­stadt­pa­last schimpfte, das sei ja überhaupt kein Kino, sondern das Ende der Cine­philie. »Publi­kums­fes­tival«, dröhnte es dagegen aus dem Laut­spre­cher, die Regis­seurin fragte mit leiser Stimme, warum auf einem Film­fes­tival Fern­seh­ware liefe? »Geschmack«, sagte der Festi­val­leiter, der Blick traf die lila­far­bene Berli­na­le­ta­sche, und während der Festi­val­leiter wieder einmal, wie immer, wenn es ums Essen geht, ideo­lo­gisch wurde, forderte, man dürfe kein Fleisch mehr essen, und die Worte »Kino­kultur« und »vege­ta­risch« zum siebten Mal in einem Satz unter­brachte, bot uns die Kino-Servie­rerin, wie immer nach einer Wett­be­werbs­pre­miere, eine Papp­schale mit Berlinale-Curry­wurst an. Wir lehnten dankend ab.

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Gutge­launt. Er lacht, macht schlechte Witze, klopft seinem Gegenüber aufmun­ternd auf die Schulter, hat hier ein Zwinkern für die Damen, dort ein Prost auf seinen Darsteller – der Mann hat ganz offen­kundig seinen Spaß. Mit Kölner Dialekt, dezentem Hinken und viel sardo­ni­schem Charme hat Moritz Bleibtreu in der Rolle des Joseph Goebbels in Oskar Roehlers Jud Süss – Film ohne Gewissen im Berlinale-Wett­be­werb einen groß­ar­tigen Auftritt, einen der besten in seiner Karriere – und definitiv ist dies einer jener Momente dieser Berlinale, die tatsäch­lich in Erin­ne­rung bleiben. Wer glaubt, dass großes Schau­spiel immer nur im Dezenten liegt, wird widerlegt: Bleib­treus Reich­pro­pa­gan­da­mi­nister ist eine mephis­to­phe­li­sche Figur; kein Clown, sondern ein zu Macht gekom­mener Gangster, der seine Straßen­ma­nieren noch nicht abgelegt hat. Der Teufel der Bedrohung steckt in der allzu guten Laune.

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Ob Dieter Kosslick sich diese subtile Botschaft von Roehlers Film wirklich bewusst gemacht hat? Zumindest scheint sie der eigenen Perfor­mance zu wider­spre­chen: Kosslick gibt hier den Lila­lau­nebär und Berlinale-Clown. Aber man weiß ja: Mit den Clowns kamen die Tränen.

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»Pfui!« Buhrufe hörte man mehr als einmal bei Roehlers Premiere, doch zugleich waren sich die meisten Berlinale-Dauer­be­su­cher einig: Wenigs­tens mal Streit und Kontro­verse in einem ansonsten lauen, oft lang­wei­ligen Wett­be­werb. Und was immer man gegen Roehlers Film sagen will: Lang­weilig ist er nicht. Roehler zeigt eine Art »Making Off« von Jud Süß, einem der schlimmsten Hetzfilme des Dritten Reichs. Von Goebbels persön­lich beauf­tragt, geschrieben wohl­ge­merkt nicht nach Feucht­wan­gers Roman, sondern nach Wilhelm Hauffs anti­se­mi­ti­schem Traktat über den Bankier des Herzogs von Würt­tem­berg, drehte Veit Harlan, sonst vor allem für welt­flüch­tige Melo­dramen zuständig, diesen Film. Die Haupt­rolle des schmie­rigen anti­se­mi­ti­schen Klischees übernahm der Wiener Burg­schau­spieler Ferdinand Marian, den hier Tobias Moretti in einem beein­dru­ckenden Aufritt spielt – unin­tel­lek­tuell und eitel ließ Marian sich zu einer Rolle verführen, die ihn persön­lich und seine Karriere ruinierte.

Roehler inter­es­siert sich für die histo­ri­schen Fakten nur am Rande, benutzt sie für eine Groteske über Erotik und Todes­trieb und deren Beziehung zum Faschismus. Das ist hoch­gradig »politisch inkorrekt« und regte daher vor allem jene deutschen Festi­val­be­su­cher auf, die sich schon immer sicher sind, dass sie auf der richtigen Seite stehen. Auslän­di­sche Medien regierten neugie­riger und offener.

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Trotzdem hat das soge­nannte »profes­sio­nelle« Publikum den offenbar besser verstanden, als es selber glaubt. In einer Schlüs­sel­szene, in der eine KZ-Wärters­gattin Marian zum Spontan­fick auf den Dachboden bittet, weil sie die Verge­wal­ti­gungs­szene des Films mit dem zum Juden­fe­tisch gewor­denen Darsteller nach­spielen will, sieht man im Hinter­grund das brennende Berlin. Aus der Anony­mität des Saals schallt ein lautes »Pfui!« Genau. Da hat es einer kapiert, wie auf Faschismus zu reagieren ist. Beim Der Untergang oder Napola hatte man derglei­chen nicht gehört.

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Zugegeben: Nicht alles gelingt, die Figur Harlans bleibt blasser, als es dem Film guttut, aber Roehler gelingt das seltene Kunst­stück, so etwas wie ein Sitten­bild des Faschismus zu zeichnen. Es erinnert von fern auch an die histo­ri­schen Frei­heiten von Taran­tinos Inglou­rious Basterds, ist aber stärker dem Kino der 70er verpflichtet: Dem italie­ni­schen »Sadico-Nazista«-Trashfilm, den abgrün­digen Faschismus-Gesell­schafts­ana­lysen von Pasolini und Visconti, und gele­gent­lich den Melos eines Fass­binder. Einmal mehr ist Roehler einer der inter­es­san­testen deutschen Filme­ma­cher, einer, dessen Filme riskant sind und suchend, der etwas auspro­biert, der sich um Beifall nicht schert, und der sich darum immer wieder eine blutige Schramme holt. Viele stoßen sich an ihm – weil sie ihn nicht verrücken können.

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Trost. Die Tropen sind trist, auch in China. Crossing the Mountain heißt eine Kino-Perle im Berlinale-Forum. Der Erst­lings­film der jungen, doku­men­ta­risch geschulten Chinesin Yang Rui schildert in langsamen, ruhigen Bildern das Leben im Südwesten Chinas. Zunächst glaubt man, hier solle im Geiste Rousseaus eine Idylle beschwört werden, ein einfaches ursprüng­li­ches Leben nahe der Natur. Aber an den Rändern tauchen Bedro­hungen auf, und schnell entfaltet Yang ein exis­ten­ti­elles Drama über die Unmög­lich­keit des Zurück zur Natur. Nichts spendet Trost, aber die Einsicht tröstet, dass es der Mensch selbst ist, der für sich verant­wort­lich ist – sein Glück wie sein Unglück liegt in der Unruhe, die er nicht abschüt­teln kann. Täte er es, wäre er tot. Und dieses Glück aufklä­re­ri­scher clarté verbindet Crossing the Mountain dann mit Angela Scha­nelecs Orly, einer nicht weniger schönen Medi­ta­tion über das Leben und die Liebe und das Weiter­ma­chen nach dem Einbruch des Schick­sals – zwei glück­liche Berlinale-Momente, die für vieles entschä­digen.

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Marathon-Mann. Er läuft. Und läuft und läuft. Am Anfang sieht man ihn nur von hinten. Da läuft er auf einem Laufband, und für den Zuschauer ist schnell vers­tänd­lich: Er läuft vor etwas weg. Bald darauf ist auch klar: Dieser Johann Retten­berger ist noch im Gefängnis. Doch auch am Tag vor seiner Haft­ent­las­sung trainiert er bis zum Umfallen. Bald weiß man auch warum: Er macht mit beim Wiener Stadt­ma­ra­thon, und auf Anhieb gewinnt er das Rennen und eine hohe Geldsumme. Geld scheint ihn überhaupt besonders zu inter­es­sieren: Ins Gefängnis kam er, weil er einst eine Bank überfiel, und bald macht er wieder da weiter, wo er aufgehört hat...

Der Räuber heißt Benjamin Heisen­bergs zweiter Spielfilm, der jetzt im Berlinale-Wett­be­werb Premiere hatte, als erster von drei deutschen Filmen. Es ist hervor­ra­gendes, ebenso span­nendes wie kluges, so emotional mitreißendes wie perfekt gemachtes Kino. Zugleich reprä­sen­tiert Der Räuber den neuen Trend der Renais­sance des Genre­kinos: Vertraute Erzähl­weisen inter­es­sieren inzwi­schen offen­kundig auch die Autoren­filmer, weil man durch sie näher heran­kommt an eine Gesell­schaft, die ebene­falls nach Ritualen und einge­fah­renen Mustern funk­tio­niert. Heisen­berg zeigt einen Getrie­benen, der nur scheinbar als Gangster auch Außen­seiter ist, in Wahrheit aber präzises Abbild und Reprä­sen­tant der Leis­tungs­ge­sell­schaft: Wie die Banker, die er beraubt, kann der nicht genug kriegen, wie sie ist er ein aske­ti­scher Charakter, der auf allen Ebenen von sich selbst Höchst­leis­tungen verlangt, der das Leben aber nicht genießt, sondern immer nur rafft, das erraubte Geld nicht ausgibt, »mehr mehr mehr« will, dabei freudlos wirkt, und seinen Mitmen­schen gegenüber ebenso verschlossen, wie arrogant. So ist Heisen­bergs Film sowohl das Portrait eines Einzel­gän­gers, aber auch das einer neoli­be­ralen Wolfs­ge­sell­schaft und ihrer Ideale.

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Der zweite deutsche Film ist Shahada vom Ludwigs­burger Film­stu­denten Burhan Qurbani. Ein gut gemachter Film über drei Muslime in Deutsch­land zwischen west­li­chen Wert­vor­stel­lungen und kultu­rellen Tradi­tionen. Aus dem Durch­schnitt eines lauen Wett­be­werbs ragte er aber nie heraus. Das lässt sich von Cater­pillar nicht behaupten. Der Japaner Wakamatsu Koji, der schon in den frühen Sech­zi­gern Gast im Berlinale-Wett­be­werb war, und seitdem »der« Provo­ka­teur seiner Heimat ist, beschreibt ein Ehepaar in den vierziger Jahren: Der Mann ist ein Kriegs­krüppel, der alle Glieder und seine Sprache verloren hat. Die Frau pflegt ihn wie ein Kind, doch zunehmend wird das Verhältnis obsessiv, und die Gattin rächt sich am hilflosen Gatten – von dem wir wissen, dass er im Krieg ein Verge­wal­tiger und politisch ein Faschist war – für all das früher erlittene Leid. Ein provo­ka­tiver, zum Teil schwer erträg­li­cher Film, der aber gerade darum im Gedächtnis haften bleibt.

Das Gegenteil hiervon ist wiederum Bal – Honig vom bekannten türki­schen Regisseur Semih Kapla­noglu. Im dritten Teil seiner Yussuf-Trilogie geht es um die Kindheit des Helden: Atem­be­rau­bend schöne Bilder zeigen das Leben eines kleinen Jungen als Sohn eines Imkers. Der Frieden der Natur­auf­nahmen von Wald­land­schaften und Tieren spiegelt den Frieden einer Kindheit – die aber, wie jeder Kino­gänger weiß, nicht so friedlich bleiben kann.

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Der bessere Avatar. Oz, so heißt, wie man sich erinnert, das zauber­hafte Land, das in Victor Flemmings Musical für die junge Dorothy zur Zuflucht wird vor einem Wirbel­sturm und anderen Zumu­tungen der realen Welt. »Oz« ist zugleich aber auch der Name einer wichtigen Program­mier­sprache für Computer. Mit beiden Bezügen spielt Summer Wars, ein Anime von Hosoda Mamoro, der auch gemessen an den Verrückt­heiten, die man von Anima­ti­ons­filmen aus Japan in den letzten Jahren schon gewohnt war, etwas Neues und höchst Beson­deres darstellt. »Oz« heißt hier eine so spek­ta­kuläre wie verfüh­re­ri­sche Internet-Plattform, in der jeder User seinen Avatar wählen und eine virtuelle Zweit­exis­tenz führen kann. Doch bald entfaltet sie ein gefräßiges, höchst bedroh­li­ches Eigen­leben, und es kommt zum Clash zwischen virtu­eller und realer Welt. Was Hosodas Film, der jetzt in der Sektion Berlinale Gene­ra­tion Premiere hat, so besonders macht, ist zum einen die starke Phantasie und der Humor, mit dem er, ohne zu mora­li­sieren, vom Gegensatz zwischen einer tradi­tio­nell lebenden Familie und der modernen Welt erzählt, und scheinbar erschöpften Hand­lungs­ideen – Sommer­fe­rien als Stunde der Adoles­zenz – etwas Neues abgewinnt, wie auch des Regis­seurs geist­rei­ches Spiel mit japa­ni­schen Genres wie dem Samurai-Film. Vor allem aber ist dies visuell eine Reise in neue Dimension: Hosoda entfaltet einen Wirbel­sturm aus Zeichen, bietet ein paar bisher unge­se­hene Anime-Bilder und lässt den Zuschauer dabei begreifen, was die Existenz virtu­eller Paral­lel­welten wirklich bedeutet, vor allem wenn sich die eine Welt mit der anderen vermischt. In dieser Hinsicht ist Summer Wars der bessere Avatar, und im Gegensatz zu James Camerons etwas banalem Welt­erfolg onto­lo­gisch tatsäch­lich auf der Höhe seines Themas.

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Gene­ra­tion, so lautet seit einigen Jahren der neue, englisch gespro­chen cooler klingende Name des einstigen Kinder­film­fest. Und tatsäch­lich hat sich die Sektion – erweitert und noch einmal aufge­teilt in Filme für ganz Kleine (Kplus) und 14plus – längst zu einer wichtigen Reihe gemausert, die über ihre Kern­ziel­gruppe hinaus für alle Cine­philen inter­es­sant ist. Vom Kinder­film übrig ist hier nur, dass die Haupt­fi­guren unter 18 Jahre alt sind. Wahr­schein­lich ist Gene­ra­tion die einzige Berlinale-Sektion, die unter Dieter Kosslicks Leitung quali­tativ besser und prägnanter statt belie­biger geworden ist – ohne Frage ist dies zur Zeit der Ort eines bestimmten Autoren­kinos, wie man es früher auf der Berlinale vor allem im Forum gesucht hätte, das sich heute weniger für die Extreme inter­es­siert, als für die Mitte dazwi­schen. Das gilt beispiels­weise für einen Film wie Retrados en un mar de mentiras vom Kolum­bianer Carlos Gaviria, einem so düster-melan­cho­li­schen, wie präzisen Roadmovie, oder für den berüh­renden, ganz aus Kinder­per­spek­tive erzählten Yeohaeng-ja, in dem die franko-korea­ni­sche Regis­seurin Ounie Lecomte in Spiel­film­form ihr eigenes Leben in einem korea­ni­schen Kinder­heim der 70er erzählt, in dem sie auf fran­zö­si­sche Adop­tiv­el­tern wartete.

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Frank­reich und Asien treffen sich auch in Yuki & Nina, einer Gemein­schafts­ar­beit der Regis­seure Nubohiro Suwa und Hippolyte Girardot, einem ganz heraus­ra­genden Film, dem wohl besten im dies­jäh­rigen Gene­ra­tion-Jahrgang. Auch hier wird ganz aus Kinder­sicht erzählt, ohne Didaktik, ohne falsche Nied­lich­keit oder Senti­men­ta­lität, dafür aber mit einer befrei­enden und zum Teil unglaub­lich witzigen Naivität: Yuki und Nina sind acht Jahre alt, beste Freun­dinnen, und leben in Paris. Am Anfang sieht man beide, wie sie zusammen von der Schule zu Nina nach Haus kommen, reden. Vor allem Nina redet, viel und bestimmt. Yuki ist meist still. Eine Beob­ach­terin mehr als eine Träumerin. Irgendein Geheimnis scheint sie zu umwehen, und viel­leicht ist es ihre Herkunft aus zwei Kulturen, die ihr ein Gefühl des Anders­seins, eine Distanz und zunächst kaum spürbare Zöger­lich­keit gibt. Viel­leicht ist sie auch nur einfach die stillere der beiden. »Je suis comme ça«, »ich bin eben so«, wird sie später mal sagen, als Nina sie fragt, warum sie immer so ängstlich ist.

Bald erfährt Yuki, dass ihre Eltern sich trennen, und dass sie mit ihrer Mutter nach Japan soll. Yuki will bleiben. So entspinnt sich die Geschichte aus Ohnmacht und Flucht­be­we­gung, eine Rebellion gegen die Zumu­tungen der Eltern, einer allmäh­li­chen Eman­zi­pa­tion der Kinder, die keines­wegs ein »Abschied von den Eltern« ist, sondern eine Vertei­di­gung der Kindheit. »Coming of Age« einmal ganz anders, eher notge­drungen. Ein bezau­bernder Film, so intensiv wie außer­ge­wöhn­lich in seiner Wirkung. Immer wieder ist der Film auch sehr lustig, gerade weil er sich nie anbiedert, sondern die Erleb­nis­weise der Kinder ernst nimmt, in der Traum und Wirk­lich­keit gehen inein­ander über. Besser kann Kino auch für Erwach­sene nicht sein.

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Gefallene Engel. Grillen zirpen, sanft streicht der Wind durch’s Gras, ein paar junge Männer liegen in der Sonne und beob­achten die Käfer. Doch die Idylle trügt, und bald entlarvt das Geschehen auf der Leinwand diese ersten Bilder als offene Anspie­lung auf Terrence Malick und seinen Kriegs­film The Thin Red Line.

Das wildeste, also unaka­de­mischste und irri­tie­rendste Kino im Osten kommt zur Zeit aus Rumänien. Und Constantin Popescus Portrait of the Fighter as a Young Man im Berlinale-Forum ist eine Flaschen­post aus einem weiteren verges­senen Schar­mützel des Europäi­schen Bürger­kriegs des 20. Jahr­hun­derts: Nach der Mach­tü­ber­nahme der Kommu­nisten kämpften manche ihrer Gegner in den Wäldern einfach weiter, ähnlich wie ein Jahrzehnt früher in Spanien die anti­fran­quis­ti­sche Guerilla in den spani­schen Bergen den Bürger­krieg fort­setzen, wovon Guillermo del Toro in Pan’s Labyrinth erzählt hat. Sie lieferten sich Gefechte mit der Secu­ri­tate, wurden getötet oder gefoltert.

Popescus Film basiert weit­ge­hend auf histo­ri­schen Doku­menten, ist aber ganz und gar ein Spielfilm, fast ein lako­ni­scher Western aus dem Wilden Osten, der einen Bund junger, engels­glei­cher, zugleich schreck­li­cher Männer zeigt, eine Saga mit hohem body count über Jugend und Entschlos­sen­heit, die die Freiheit der Natur mit ihren Elementen, die Schönheit der Seen und Wälder einer verwal­teten Welt aus grauen Uniformen und Partei­phrasen gegen­ü­ber­stellt.

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Zugleich ist Portrait of the Fighter as a Young Man das Gegenteil aller Verklärung. Ziemlich oft sieht man Männer ballern und dann voller Angst weglaufen, wie Kinder, die etwas ausge­fressen haben. Die Kämpfe gleichen meist einer Hasenjagd, statt Heldentum sind da nur gnaden­lose Härte und Absur­dität. So erzählt Popescu, der den fast drei Stunden langen Film als ersten Teil einer Trilogie des anti­kom­mu­nis­ti­schen Wider­stand in Rumänien angelegt hat, glei­cher­maßen etwas über die Absur­dität des Idea­lismus und die Würde des Absurden. Auch das erinnert an Malick; zugleich wirkt es wie ein fernes Echo auf United Red Army, in dem Japaner Wakamatsu Koji vor zwei Jahren die Selbst­zer­flei­schung der japa­ni­schen Links­ter­ro­risten erzählt hatte.

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Mehr Epos als Drama zeigt Portrait of the Fighter as a Young Man einer­seits das Geschehen als bloße Aufein­an­der­folge von Kämpfen, Wald­gängen, Warten, kurzer Entspan­nung, und immer wieder plötz­li­chem Gefecht. Unter­bro­chen wird sie von den Reden eines Secu­ri­tate-Folter­knechts. Seine menschen­ver­ach­tenden Ausfüh­rungen sind hoch­in­ter­es­sant als histo­ri­sches Dokument, zugleich zu plakativ und ein bisschen tenden­ziös, und damit die schwächste Seite des Films. Am stärksten ist er in kurzen unver­gess­li­chen Bildern, wie dem Gesicht eines umzin­gelten Parti­sanen Sekunden vor seinem Selbst­mord, in beiläu­figen Momenten, wie dem Blick­wechsel zwischen zwei Männern, die sich gleich töten werden, oder dem Hitler­gruß, mit dem die Kämpfer die Nachricht von Stalins Tod kommen­tieren.

Keine Frage: Hier gibt es keine Guten, denn auch die Parti­sanen hier sind unsym­pa­thisch: Faschis­tiode Deppen, verbohrte Natio­na­listen, sadis­ti­sche Macht­men­schen. Popescu dekon­stru­iert die Mythen des rumä­ni­schen Anti­kom­mu­nismus.

»Ein jeder Engel ist schreck­lich«, schrieb Rilke, und Popescu hat dieses Rilke-Zitat seinem Film wohl nicht deshalb voran­ge­stellt, weil die rumä­ni­schen Faschisten der 40er Jahre »Legionäre des Erzengels Michael« nannten, sondern weil seine Geschichte auch von Schönheit und von gefal­lenen Engeln erzählt. Man könnte auch sagen: Vom Menschen.

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Star-Wahnsinn. Immer wieder schwoll das Kreischen und Johlen an. Kinder, Jugend­liche und nicht mehr ganz so junge Erwach­sene standen vereint am Roten Teppich der Berlinale. Sie warteten auf »Leo«, sie warteten lange, aber die Kälte konnte ihre Begeis­te­rung nicht abkühlen. Als ob die Zeit stehen­ge­blieben wäre, oder plötzlich rückwärts gelaufen. Zehn Jahre nach The Beach – wie die Zeit vergeht! – ist »Leo«, also Leonardo DiCaprio zurück bei der Berlinale, und wieder ist er »der« Star des Festivals. Ein junger Mann, der gut aussieht, auch wenn die Jahre nicht ganz spurlos durch sein Gesicht gegangen sind, ein ameri­ka­ni­scher Filmstar, um den sich die Presse balgt, der auch hart­ge­sot­tene Festi­val­gänger zurück­ver­wan­delt in Teenager und Film­ver­rückte. Dem Berlinale-Direktor Dieter Kosslick, der mit einer Berliner Presse konfron­tiert ist, die schon Wochen vor Festi­val­be­ginn ihre Strich­listen führt, wieviel Stars denn nun wohl kommen, ob A, B- oder C-Prominenz, und auch darüber, wer wieder abgesagt hat, ist solcher Star-Wahnsinn nur recht.

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Um Verrückt­heit in anderem Sinn geht es auch in Shutter Island. Denn DiCaprio, fast hätte man’s vergessen, ist ja in erster Linie Darsteller, und in Martin Scorseses neuem Film spielt er wieder die Haupt­rolle – die vierte Zusam­men­ar­beit der beiden, deren gegen­sei­tige Inspi­ra­tion von Außen fast wirkt, wie ein künst­le­ri­sches Vater-Sohn-Verhältnis. Am Anfang des Films reist man mit zwei Männern (DiCaprio und Mark Ruffalo) auf eine abge­le­gene Insel, als US-Marshalls sollen sie dort ermitteln, und von Anfang an ist spürbar, dass ziemlich viel faul ist auf diesem Shutter Island. Die Insel beher­bergt eine Klinik für Schwerst­ver­rückte, viele von ihnen haben Menschen auf ihrem Gewissen. Aber auch der Arzt (Ben Kingsley), und seine Wärter scheinen sich merk­würdig zu benehmen, und früh ist klar, das auch DiCaprios Poli­zei­de­tektiv ein persön­li­ches Trauma mit sich herum­trägt: Der Film spielt 1954, die Männer tragen Hüte zu ihren Trench­coats und die Wunden des Kriegs sind noch kaum verheilt. Und so ver-rücken sich die Perspek­tiven des Films selbst immer wieder – zwischen­durch ist Shutter Island film noir, ein Rache­drama, ein Para­noiath­riller, alles in allem ein Film über Wahnsinn und Gesell­schaft, dessen aktuelle Bezüge in der Parallele liegen, die er zwischen dem Amerika der 50er und dem unserer Gegenwart zieht.

Auch stilis­tisch ist dies ein unge­wöhn­li­cher Scorsese-Film, nicht zuletzt eine Hommage an das Paranoia-Kino für das Samuel Fullers Shock Corridor nur das prägnan­teste Beispiel ist, an das Horror­kino jener Jahre, die B-Filme mit ihren »Body­snat­chers«, fern­ge­steu­erten Menschen und anderen Angstein­fällen, aus denen sich die Theorie der univer­salen Mani­pu­la­tion jener Jahre speist. Und an den film noir, die »Schwarze Serie« der 40er und 50er, die in einem Amerika entstand, das als Sieger des Welt­kriegs seine eigenen Kriegs­trau­mata verdrängte, und an Hitchcock, auf dessen Vertigo der Film so unver­hohlen anspielt, wie DiCaprios Auftritt hier in Spiel und Figur an James Stewart erinnert.

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So ist dieses Werk, eine Verfil­mung von David Lehanes gleich­nah­migem Roman, alles in allem groß­ar­tiges Kino: Getränkt in Film­ge­schichte, der sie fort­lau­fend Reverenz erweist. Kino ist Kultur, nicht weniger als Bücher, Gemälde und Musik; für Scorsese sind sie Lebens­mittel.

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Shutter Island ist übrigens auch eine gute Metapher für die Berlinale: Alle hier sind in ihrem eigenen Wahnsinn gefangen. Wer wirklich verrückt, was normal ist, weiß man nicht mehr. Wir sind die Patienten, egal ob wir im Block A, oder B oder dem Wett­be­werbs­block C für die besonders harten Fälle gefangen sind. Und Festi­val­di­rektor Dieter Kosslick ist eigent­lich dem netten Doktor Ben Kingsleys nicht so unähnlich: Ein humaner, gutge­launter, wohl­mei­nender Arzt, der mit seinen Therapien nicht so wirklich erfolg­reich ist. Daher folgt am Ende dann doch die Lobotomie: Morgen am Abend, wenn die Bären verliehen werden.

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Während Shutter Island außer Konkur­renz läuft, ging der Wett­be­werb mit Zhang Yimou weiter. Der Chinese, 1989 für Das rote Kornfeld mit dem Goldenen Bär und auch später immer wieder in Berlin prämiert, bewegt sich mit A Woman, a Gun and a Noodle-Shop auf den Spuren der Coen-Brüder und ihres Debüts Blood Simple: Die Verbin­dung von lako­ni­schem Witz und kaltem Realismus zeichnen diese schwarze Komödie aus. Bei Zhang wird das in einen knall­bunten Western-Komö­di­en­schmarrn verwan­delt.

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Zwei deutsche Filme aus den Nebensek­tionen verdienen Aufmerk­sam­keit: Thomas Arslan, einer der viel­sei­tigsten deutschen Regis­seure präsen­tierte im Forum Im Schatten. Der Film entspricht dem Trend einer Rückkehr zum Genre, vor allem zum Krimi: Ein frisch aus dem Knast entlas­sener Mann sucht Arbeit – als Gangster. Die still beob­ach­teten, in schönen Bildern eines nacht­schwarzen Berlin getauchten, bösen Ereig­nisse zeigen einen in die Enge getrie­benen Mann, und mit ihm wird der Film zum bestechenden Drama einer korrupten Gesell­schaft.

In Feo Aladags bewe­gendem Debüt Die Fremde, der wie man so hören kann kurz vor Beginn des Festivals noch aus dem Wett­be­werb wieder ausge­laden wurde, spielt Sibel Kikeli großartig und facet­ten­reich eine junge Türkin, im Konflikt mit ihrer tradi­tio­na­lis­ti­schen Familie: Die Ereig­nisse spitzen sich zu – mit unschönem Ausgang. Alle diese Filme vereint eines: Die Welt, die sie zeigen, wird härter, kälter, böser. Kein Trost, nirgends.

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Am Sams­tag­abend werden nach zehn Tagen die Bären verliehen. Auffal­lend viele Filme erzählten von Gesell­schaft in Form von Anstalten und Insti­tu­tionen – Gefäng­nisse, Schulen, Irren­häuser – und von klaus­tro­pho­bi­schen Konstel­la­tionen: Ob schwert­ver­letzter Kriegs­krüppel, als NS-Darsteller oder als briti­scher Premier. Auffällig war auch die Rückkehr von Genre-Stoffen ins Autoren­kino: Benjamin Heisen­bergs Der Räuber hinter­ließ ebenso einen der stärksten Eindrücke wie das rumä­ni­sche Knast­drama If I Want to Whistle, I Whistle – ein heim­li­cher Preis­fa­vorit, ebenso wie Cater­pillar vom Japaner Wakamatsu Koji, Bal vom Türken Semih Kapla­noglu. Die wich­tigste Frage dürfte sein: Wie sehr macht Jury­prä­si­dent Werner Herzog die Entschei­dung zur Chefsache: Ihm könnte auch Roehler gefallen, Wakamatsu sowieso oder Benoit Delphines Mammoth.

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Am Sams­tag­abend weiß man mehr. Einst­weilen ist der Berlinale-Ausklang geprägt von Wieder­ho­lungen, und dem Abschluß-Highlight: Dem acht­stün­digen Kriminal-Epos Im Angesicht des Verbre­chens von Dominik Graf: Eine Art Krieg und Frieden aus dem Gegen­warts­berlin, ein Epos voller filmi­scher Verve und Leiden­schaft. Irgend­wann wird es als Zehn­teiler auch im Fernsehen zu sehen sein.