68. Filmfestspiele von Venedig 2011
»The time is out of joint...« |
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Au weia: Abel Ferraras 4:44 Last Day on Earth | ||
(Foto: Capelight) |
Venedig, 6.9.2011, siebter Tag – »Dieses Jahr sind die vom Teufel besessen.« meinte Kollegin Margret Köhler gestern in Bezug auf die Festivalleitung. Wie recht sie hatte, konnte sie da noch gar nicht ahnen – oder doch? Ist Margret etwa selbst mit Satan im Bunde? –, aber der heutige Festivaldienstag, der siebte Tag des Festivals, schien tatsächlich vom Teufel besessen. Man könnte natürlich auch sagen: Venedig war einmal wieder genau so, wie man sich Italien vorstellt.
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Vielleicht lag ja alles an der Apokalypse und an Abel Ferrara. Dessen neuer Film 4.44 Last Day on Earth hatte Festivalchef Marco Müller offenbar zu einem Akt des Wahnsinns verleitet. Müller verlegte aus völlig schleierhaften Gründen die Pressevorführung vom größten Saal (Palagalileo), in dem normalerweise sämtliche Wettbewerbsfilme gezeigt werden, in den kleinsten, den Sala Pasinetti. Es war auch die einzige Vorführung am Dienstag, zwei weitere sollen
am Mittwoch ebenfalls im Pasinetti stattfinden, und die offizielle Premiere wie immer im Sala Grande des Palazzo. Weil im Pasinetti nur rund 100 Leute Platz haben, im Palagalileo fast 2000 war das Chaos vorprogrammiert. Manche entwickelten schon kreative, aber auch erkennbar verzweifelte Vorschläge: »Ich schließe mich vielleicht einfach beim Film davor auf dem Klo ein«, meinte zum Beispiel die Redakteurin einer Berliner Tageszeitung.
Aber wozu das Ganze? Wollte Müller damit nun
einen seiner gewohnt willkürlichen Hypes kreieren, oder musste hier ein Regisseur vor sich selbst gerettet werden?
Offenbar hat er sich dann später aber doch noch beraten lassen, und alle Pläne über den Haufen geworfen. Um 19.30 Uhr bekam man, jedenfalls die Besucher einer anderen Wettbewerbsvorstellung, einen Zettel in die Hand gedrückt, auf dem sämtliche Pasinetti-Vorführungen abgesagt wurden. Stattdessen setzte man für heute (!) 23 Uhr eine Vorführung im Palagalileo an. Wer das nicht mitbekam oder nicht rechtzeitig umdisponieren konnte, hatte halt Pech gehabt. Glück für Carlos vom BR, dass er mich anrief.
Die Italiener finden sich nun wahrscheinlich wieder ungemein kreativ, nur weil sie vor dem selbstangezettelten Chaos noch die Flucht ergriffen hatten, indem sie ein anders anzettelten. Alle anderen stöhnten nur: »Die Italienier! oder ›This godforsaken festival.‹«
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Am Morgen des gleichen Tages wurde um neun der Film Sorpresa gezeigt. Auch so eine Spezialität Marco Müllers. Jedes Jahr gibt es einen solchen »Überraschungsfilm«, über dessen Titel oder Macher im Vorfeld nichts zu erfahren ist, außer hunderten von Gerüchten. Fast immer handelt es sich allerdings um einen Film aus Asien. Auch diesmal. Diesmal war es People Mountain, People Sea vom Chinesen Cai Shangjun, der 2007 mit The Red Dawn ein sehr schönes Debüt präsentiert hatte. Auch der lief um neun im Pasinetti, auch hier standen hunderte von Kollegen an – mit dem kleinen Unterschied allerdings, dass es am Abend noch eine Pressevorführung angesetzt war, diesmal im großen Palagalileo. Das war auch ganz gut so, denn als die hundert Glücklichen es sich im Pasinetti bequem gemacht, und die anderen zwei-, dreihundert frustriert wieder gegangen waren – nach bestimmt 45 Minuten Wartezeit, wurde die Vorführung von People Mountain, People Sea nach wenigen Sekunden abgebrochen. Der Film hatte nämlich keine Untertitel!
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Die hatte er dann, als er am Abend im proppevollen Palagalileo gezeigt wurde. Trotzdem wurde der Abend noch lustiger, als die Vorführung am Morgen. Das lag gar nicht einmal an den überaus aufgeräumten Italienern, die warum auch immer bereits den dämlichen Festivaltrailer und dann auch diverse Logos euphorisch beklatschten. Sondern an der Vorführung selbst...
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Man muss das erlebt haben. Zuerst merkt man, während der Film etwa 45 Minuten alt ist, nur ganz unbewusst, »dass da etwas ist«. Dann denkt man an Gerüche, glaubt, den Film zu riechen, den Dreck und Ruß der Metropole Chongqing am Yangtse Fluß. Dann ist klar: Es brennt! Rauchschwaden durchziehen sichtbar das Saalobere, und es stankt gehörig nach brennendem Holz. Innerhalb weniger Sekunden stehen viele im Saal auf, der Film läuft ungerührt weiter. Wir selbst bleiben ebenfalls ungerührt sitzen, verfolgen das Spektakel. Von der ersten Reihe aus kommt immer nochRauch.
Letztes Jahr hatte es sturzbachartig in den Presseraum geregnet. Diesmal Feuer ohne Feueralarm. Marco Müller muss sich jedenfalls inzwischen auch schon blöd vorkommen. Und Venedig wird allmählich seine eigene Parodie. Italien ist wirklich in der Krise. Dass heißt natürlich andererseits keineswegs, dass wir jetzt lieber in Toronto wären...
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Um auch jenseits solcher Erlebnisse zu verstehen, was das Festival von Venedig von dem in Cannes unterscheidet, könnte man jetzt natürlich über vorgeführte Filme reden. Oder über die Festivaldirektoren, die bis 2005 fast jährlich wechselten, während Marco Müller, der seit sechs Jahren amtiert, damit die längste Amtszeit aller Mostra-Direktoren aufweist.
Man kann aber auch mal über die Namen der Vorführsäle sprechen. In Cannes heißen sie seit Jahrzehnten »Lumiere«, »Debussy«, »Bunuel«, »Bazin«. In Venedig wechseln die Namen fast immer. Verständlich, wenn auch zu Missverständnissen führend ist das bei dem ein paar tausend Zuschauer fassenden Kinozelt, in dem die Wiederholungsvorführungen stattfinden, und das erst Pala BNL hieß, dann Pala TIM, 2005 einmal Area Alice. Heute nennt man es, weil man offenbar keinen Sponsor mehr gefunden hat, einfach PalaBiennale. Schwerer wiegt es bei dem wichtigsten und größten Kinosaal, einer ehemaligen Freiluftarena, die in den späten 60ern mit Beton ausgegossen und richtigen Kinosesseln sowie einem Holzdach versehen wurde. Jeder nennt ihn hier zwar Palagalileo, wie er auch über das Jahr hin heißt, aber in manchen Jahren wurde er aus undurchsichtigen Gründen offiziell als Pala Lido geführt, in diesem Jahr als Pala Darsena – also »Saal des Hafenbeckens«, womöglich weil sich daneben ein kleiner Anlegesteg befindet. Vielleicht aber auch, weil man es in Venedig mit einen Naturwissenschaftler wie Galilei nicht so gern hält, und weil Festivalboss Marco Müller die Erde wahrscheinlich lieber als Scheibe betrachtet.
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Wie gesagt: Der Tag des Satans ist noch nicht zuende. Wer weiß, was noch kommt? Um 23.45 Uhr, kurz vor der Geisterstunde erst einmal die Apokalypse... Und wenn die Erdscheibe dann wider Erwarten doch noch steht, und wir nicht alle am Rand heruntergefallen sind, dann geht es danach wieder mehr um die Filme.
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Der letzte Akt des Tages kam nun also: Die Apokalypse des Abel, des Abel Ferrara. Vor dem Film, bevor wir uns in die Akkreditierten-Reihe einreihen treffen wir Richard Lormand, einen der sympathischen internationalen Presseagenten. »This makes me sad« sagt Richard mit Hinblick auf die trotz später Stunde lange Schlange, »Why are you guys still supporting this man?« Ferrara habe doch seit mindestens 15 Jahren keinen guten Film mehr gemacht. Ich gebe ihm ein bisschen recht, verteidige Ferrara trotzdem, verweise auf New Rose Hotel, und muss all das knappe zwei Stunden später bitter bereuen. 4.44 Last Day on Earth wird zur bisher nervtötendsten Erfahrung dieses Festivals.
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Die Frage, von der Ferrara ausgeht, ist ja nicht uninteressant: Was würden wir tun, wenn wir wüssten, dass morgen früh die Welt untergeht? Würden wir uns zum Beispiel einen Ferrara-Film angucken? Eher nicht.
Würden wir überhaupt, auch an Tagen, die schöner verlaufen, einen von Ferrara gedrehten Porno sehen wollen? Die Frage liegt nahe, weil 4.44 Last Day on Earth vor allem von zwei Leuten handelt, die in einem Appartment in der New Yorker Upper East Side wohnen. Sie sind unter sich, und Ferrara nutzt die Gelegenheit, seine Freundin Shanyn Leigh die zugleich die Hauptrolle spielt, und das leider ziemlich unsäglich, ziemlich oft nackt oder halbnackt in Reizwäsche herumzulaufen, oder ihren nackten Hintern in die Luft zu räckeln. Das muss wohl Liebe sein, bringt den Film aber nicht weiter. Auch sonst strapaziert der Film vor allem das Sitzfleisch.
Die Bilder sind digital, sie wackeln und sind doch sehr uninspiriert heruntergefilmt. Im Hintergrund hört man ein Grundrauschen. Das Paar im Zentrum, Leigh und der in derartigen Filmen inzwischen unvermeidliche Willem Dafoe, hat eine Wohnung in der diverse Apple-Computer und mehrere Bildschirme herumstehen. Auf denen sind Nachrichten zu sehen, die vom bevorstehenden Weltuntergang handeln. »The world will end« sagt der Anchorman und verabschiedet sich: »I will spend the last hours with my family.« Dokumentarfilme erzählen im Rückblick, wie es zu allem kam. Am Anfang war das Kyoto-Protokoll. Aus irgendeinem absurden Grund läuft auf einem Bildschirm auch eine Sendung von 2009, in der Al Gore redet. Da kann der Dalai Lama nicht mehr weit sein, und tatsächlich taucht er bald auf. Auf einem anderen Programm leugnet ein buddhistischer Guru den Weltuntergang, schließlich ist ja auch dieser nur in unserem Kopf.
Man glaubt es nicht! Aber es kommt noch schlimmer: Ein asiatischer Bestellservice bringt Essen – ob die bis zum Ende aller Dinge wirklich noch arbeiten? Was wollen sie mit dem Geld machen? Willem Dafoes Figur, der bestimmt ein bourgoiser Yuppie-Depp war, ist plötzlich großzügig mit den Armen der Welt, drückt dem asiatischen Essenboten ein paar Hunderter in die Hand und erlaubt ihm, auf seinem Apple mit der Familie in China zu skypen. Vielleicht soll das alles eine Komödie sein? Schön wär’s. Shanyn Leigh fängt nämlich plötzlich an, in Dripping-Technik Bilder zu malen. Denn wenn morgen die Welt unterginge, würden wir heute natürlich noch ein Kunstwerk schaffen. Oder auch nicht...
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Au weia! 4.44 Last Day on Earth wirkt wie ein Achternbusch-Film, der in New York spielt. Wobei der Unterschied darin besteht, dass es Ferrara ernst meint.
Ferrara gönnen wir ja den erneuten Auftritt auf einem A-Festival, aber allmählich muss man ihn wirklich nicht mehr finanzieren. Denn für jeden schlechten Film, der hier läuft, wurde ein guter abgelehnt – außer vielleicht bei den italienischen Filmen. Aber das Hauptproblem bleibt natürlich die
Tatsache, dass jeder Film, den ich schlecht finde, für jemand anderen ein Meisterwerk ist – und umgekehrt.
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Es gibt viele Gründe Marco Müller, den Leiter des Filmfestivals von Venedig zu kritisieren. Ein paar haben wir hier schon genannt, auf andere werden wir noch kommen. Es gibt aber auch gute Gründe ihn zu bewundern. Wofür man Müller gar nicht genug bewundern kann, ist seine Fähigkeit, zu programmieren. Damit sind jetzt nicht etwa jene auf die Dauer etwas abgenutzten Tricks gemeint, über die wir hier bereits geschrieben haben. Sondern einfach Müllers Begabung durch die Abfolge oder das Nebeneinanderstellen Beziehungen zwischen Filmen herzustellen, eine Art imaginären Dialog der Filme zu provozieren. Das fällt einem in Venedig irgendwann immer auf, und bald danach erinnert man sich auch, dass das in Cannes, Berlin oder an anderen Orten eben nie so funktioniert, wie hier.
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Ein der Öffentlichkeit kaum bekanntes Faktum ist, dass man als Berichterstatter, auch für seriöse Medien, keineswegs ein Interview »einfach so« bekommt, jedenfalls nicht auf Festivals wie diesen. Natürlich ist es selten schwierig, das Filmteam zu Filmen der Nebenreihen zu treffen, oder Regisseure aus Asien und Lateinamerika. Alles andere aber wird von internationalen PR-Agenturen verwaltet, und oft genug verhindert. Als zusätzlicher Störfaktor wirken hier oft noch die jeweiligen Agenturen der deutschen Verleiher. Als Kritiker muss man von ihnen »nominiert« werden, das heißt, die eigene Bewerbung um ein Interview muss vom deutschen Verleih abgesegnet werden. Gibt es keinen deutschen Verleih, ist es schwer, überhaupt ein Interview zu bekommen.
Vor allem aber werden für bekanntere Regisseure und Darsteller von diesen Agenturen zum Teil horrende Geldsummen verlangt. Das gilt zumindest für die Filme der amerikanischen Major-Studios. So wird die Öffentlichkeit durch Ökonomie kolonialisiert. Ohne ihr Wissen natürlich. Bezahlt werden müssen diese Summen idealerweise von den Medien selbst. Weil das glücklicherweise jedenfalls in Deutschland meistens nicht geschieht, zahlen die Verleiher. So kostete Madonna in Venedig 1500 Dollar pro Interview. 600 Dollar waren für Steve McQueen zu bezahlen, 250 für Andrea Arnold. So ist das Ganze natürlich auch eine Börse, die – noch präziser, als später die Preisverleihung – den aktuellen Marktwert der Regisseure wiederspiegelt.
Für einen Verleih kommen dann schnell höhere fünfstellige Beträge zusammen. Auf meine Frage: »Lohnt sich das denn?« antwortete die Vertreterin eines gar nicht so schlecht gestellten deutschen Verleihs: »Wenn wir das immer fragen würden, dann könnten wir gleich aufhören.« Bleibt noch die Frage: Wer kassiert das Geld eigentlich? Die Agenturen? Die Studios? Oder die Stars selber?
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Für einigen Verdruss unter den deutschen Journalisten sorgte in diesem Jahr der grundsätzlich hochsympathische Münchner Verleih Prokino, im Prinzip unbedingt einer der erfolgreichsten Partisanen fürs Autorenkino. Dieser Verdruss hing zum einen mit einer Sache zusammen, die eigentlich unter Marginalien fällt. Prokino veranstaltete ein Abendessen für Journalisten, zu dem doch recht viele, die hier vor Ort sind, auch für vermeintlich »wichtige« Medien, keine Einladung erhielten. Nun ist dies das gute Recht von Verleihern oder Weltvertrieben, einzuladen, wen sie wollen, oder eben nicht. Da aber das Verhältnis zwischen Verleihern und Filmkritik immer ein Geben und Nehmen ist, und ein Verleih wie Prokino früher oder später wieder mehr als dankbar sein wird, wenn ein wichtiger Filmstart mit Interviews flankiert wird, kann man auch diejenigen Kollegen verstehen, die sich etwas mehr Großzügigkeit wünschen. Nur fürs Protokoll: Auch ich war nicht eingeladen – hätte aber aufgrund des dichten Filmprogramms und Marco Müllers autoritärer Programmierung auch so wenig kommen können, wie zum Empfang der Filmstiftung NRW, zu dem ich vorab zugesagt hatte, und von den zahlreich erschienenen Kollegen nur Gutes hörte: Zum Beispiel über das Kleid von Jessica Schwarz und über Hannelore Elsners unerschöpflichen Redefluss.
Um noch einmal auf Prokino zurückzukommen: Da ging es natürlich nicht nur um erwähntes Abendessen, sondern noch viel mehr um die Problematik der oben beschriebenen Nominierungspolitik. So hörte man von den Kollegen der ARD, dass man im Venedig-Bericht der Sendung »ttt« am Sonntag sehr gern über Steve McQueens Film Shame berichtet hätte. Prokino aber wollte »ttt« außer zwei ungeeigneten Szenen auch auf mehrfache Nachfrage dann keine verwertbaren Ausschnitte geben. Angeblich mit der Begründung, es passe nicht in die Strategie des Verleihs, man wolle alle Presse lieber für den Kinostart aufheben, und sei erst dann an einem »ttt«-Beitrag interessiert. Das ist selbstverständlich ein völlig untragbares Verhalten, mit dem der Verleih mittelfristig auch die eigene Festivalanwesenheit kaputt macht. »Wir sind doch kein Umschlagplatz für den Vertriebsstart« hörte man von den ARD-Kollegen, die überaus sauer waren. Für zusätzlichen Ärger sorgte, dass die Pressefrau von Prokino den ganzen Dienstag telefonisch nicht zu sprechen war, sogar mindestens einmal bei einem ARD-Anruf einfach auflegte. So wird es nun keinen Shame-Beitrag in »ttt« geben. Ob Prokino wirklich so einfach auf 2 Milionen TV-Zuschauer verzichten kann?
Natürlich müsste »ttt« jetzt auch konsequent genug sein, und wirklich auch zum Filmstart keinen Beitrag bringen – so lange sie das nämlich nicht tun, wird sich an solchem Verhalten der Verleiher nichts andern – auch wenn sie bei nächster Gelegenheit gern über das Desinteresse der Presse klagen.
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Wieder im Kino. Der erste Gedanke: Das kann ja heiter werden. Da geht ein Mann eine Straße entlang, von rechts nach links. Ein paar Autos kommen ihm entgegen, als sie weg sind, geht er noch immer, und man sagt zu sich selbst: Wenn er jetzt auch noch nach links aus dem Bild geht, ohne das geschnitten wird, ist das Schlimmste zu befürchten. Tut er aber nicht. Sondern Cai Shangjun schneidet immer genau dann, wenn es richtig ist. Und so gelingt dem 1967 geborenen Chinesen in seinem zweiten Spielfilm einer der besten Filme des Wettbewerbs.
People Mountain People Sea war der Überraschungsfilm, über dessen widrige Vorführumstände ich am Mittwochfrüh schon geschrieben hatte. Aber nicht über den Film selbst, und das war gut so, denn zwei Tage des Nachdenkens haben gezeigt, dass dies dein Film ist, »der bleibt«, der in einem weiterarbeitet, und den man nicht vergisst. Eher im Gegenteil.
People Mountain People Sea hat alles, was man sich im Kino wünschen kann:
Ungewöhnliche, oft ungesehene, wohlkomponierte Bilder. Spannung. Menschliche Abgründe.
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Nach der Auftaktszene folgt diese Sequenz: Der Mann geht durch ein Dorf. Er trifft einen anderen Mann, man redet ein bisschen, raucht eine Zigarette, dann fährt der Ankömmling mit dem anderen auf dessen Motorrad mit. Es geht eine Weile durch bergige Straßen. An einem Steinbruch mit fast gleißend weißen Kalk-Steinen machen sie Halt. Der Mitfahrer stellt sich zur Pinkelpause in eine Ecke. Als er die Hose öffnet, fällt dein langes Messer heraus, und nun ahnt man schon, was kommen muss: Nachdem er sich wieder auf den Rücksitz des Motorrads gesetzt hat, und der Fahrer gerade wieder losfahren will, trifft ihn ein wohlgesetzter Stich in der Nierengegend. Er wehrt sich kurz, beide fallen zu Boden, verliert er das Bewusstsein. Der Täter schleift sein Opfer in eine Ecke des Steinbruchs, lässt ihn da liegen, fährt allein mit dem Motorrad los. Sein Messer bleibt zurück, und während man sich als Zuschauer noch unwillkürlich in die Rolle des Täters versetzt, und überlegt: Will er nicht das Messer mitnehmen? Ist der sicher, dass das Opfer tot ist? Warum beraubt er ihn nicht? – geschieht genau das und man sieht eine Szene, die von Bresson stammen könnte: Die Kamera bleibt ohne Schwenk ein paar Sekunden auf dem leeren Tatort stehen. Dann hört man von Links neben dem Bild Geräusche. Stöhnen, ein Scharren. Offenbar lebt das Opfer noch! Dann hört man von rechts das Geräusch eines heranfahrenden Motorrads. Offenbar kommt der Täter zurück!! Er parkt das Motorrad. Hebt das Messer auf, und geht in Richtung des Opfers. Jetzt schwenkt die Kamera mit ihm mit nach links. Der Täter sticht noch zweimal zu, wieder in die Nierengegend, und wird zum Mörder.
Jetzt erst setzen die Anfangscredits ein, und man sieht die schroffe weiße Steinlandschaft, und eine rote Plastiktüte, die markant an den Felsen herunterfällt. Tolle Bilder und ein toller Anfang.
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Sehr grob zusammengefasst erzählt People Mountain People Sea von dem Bruder des Opfers, der um der Familienehre willen auf eigene Faust den Mörder sucht. Dieser Trip wird zu einer Höllenfahrt. Es geht vom Land in die Metropole Chongqing am Yangtse Fluß und später weiter in die Bergwerksregion des Nordwestens. Der Held heißt Tai, ist in der Stadt gescheitert und verschuldet. Auf der Reise besucht er einen alten Freund. Der ist heroinsüchtig und betrügt ihn irgendwann um das wenige Geld, das er noch besitzt. Dann trifft er seine Ex-Frau. Die ist neu verheiratet, der gemeinsame Sohn muss ins Heim. Dann arbeitet er in einer Kohle-Mine, weil er dort den flüchtigen Täter gefunden hat. »Your life is your only capital.« wurde Tai ziemlich zu Beginn gesagt. Am Ende setzt er es in einer Weise ein, mit der man noch Sekunden vorher nicht rechnen konnte.
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Inszeniert ist das alles mit kühler Lakonie, eine gute, coole Erzählweise. Jederzeit ist absolut alles möglich. Unter anderen Umständen hätte der Regisseur vielleicht sagen können »my name is Cai Shangjun, and I make Western.« (wie einst ein anderer »my name is John Ford, and I make Western.«). Die Kamera beobachtet genau mit leichter Bewegung, zeigt unglaublich viel. Eine der vielen glanzvollen Szenen ist eine eine gute Minute lange ungeschnittene Bergabfahrt mit dem offenem Fahrstuhl der Bergleute.
People Mountain People Sea, eine maoistische Formulierung, die auf die Kraft des vereinten Volkes rekurrierte, das so unbesiegbar und stark ist wie ein Berg oder ein Meer, ist ein ebenso großartiges, wie abgründiges, zugleich nie polemisches Portrait des zeitgenössischen China: Eine Welt, die in ihrer Primitivität ans europäische 19. Jahrhundert erinnert, so düster ist, wie aus einem Dickens-Roman. Darüber, wie es dort zugeht, muss man sich keinen
Illusionen hingeben.
Das wird vor allem gezeigt. Sätze wie »only money can buy information. Today’s reality.« ergänzen das nur.
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Venedig, 7.9.2011, achter Tag – Venedig hat viele Probleme, und über ein paar davon haben wir an dieser Stelle schon geschrieben. Eines der größten Probleme heißt natürlich Toronto. Das kanadische Festival ist viel besser organisiert, für die Teilnehmer billiger, hat viel Geld, und vor allem den Markt, für den in Venedig keine Infrastruktur existiert. Die Folge für Venedig: Nach dem ersten Wochenende beginnt die Festivalkarawane, vor allem die Händler, nach Kanada weiterzuziehen.
Es sind drei Tricks, die Marco Müller auf Lager hat, um sein daher zur Halbzeit notorisch erschöpftes Festival noch einmal aufzuputschen. Die ersten beiden haben wir hier vor zwei Tagen schon beschrieben: Der erste ist der Pasinetti-Trick: Man nehme einen Wettbewerbsfilm mit halbwegs bekannten Namen, und zeige ihn nur im kleinsten Saal des Festivals. Alle, die ihn dadurch nicht sehen können, glauben, sie hätten ausgerechnet den wichtigsten Film des Festivals verpasst, reagieren hysterisch und fertig ist der Hype.
Der zweite Trick ist der Sorpresa-Trick: Ein Überraschungsfilm, der als solcher frühzeitig angekündigt, in allen übrigen Details aber streng geheim gehalten wird. Alle spekulieren, um was es sich wohl handeln könne, Dutzende von Namen wabern tagelang durchs Festival, und viele bleiben schon deshalb noch länger vor Ort. Denn wer weiß... Fertig ist der zweite Hype, und das Festival hat einen Tag länger seine Schlagzeilen.
Der dritte Trick ist der Mittwochs-Trick: Man programmiere einen Altmeister mit bekanntem Namen auf den Festivalmittwochabend. Normalerweise wären viele schon abgereist, aber den einen Film wollen sie noch sehen. Bei diesem Namen weiß man schließlich nie... Auch wenn er seine beste Zeit eigentlich schon hinter sich hat... Aber er hat auch seine Fans... Über den Film schreiben kann man dann erst am Donnerstag, das heißt: Es steht erst Freitag in der Zeitung – die Festivalwoche ist gesichert. So geschehen in den letzten Jahren zum Beispiel mit David Lynch oder Peter Greenaway. In diesem Jahr kam der Mittwochsfilm von Aleksander Sokurow
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»Ist er ein Verrückter?« – »Nein, ein Russe!« (Dialogzeile aus Faust)
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Dann am Abend der langerwartete Faust von Aleksander Sokurow. Zweifellos ein Highlight im Programm, von manchen wie der Messias des Kinos erwartet, und von manchen, wie Guiseppe Rapido, schon vor Beginn des Festivals zum sicheren »besten Film« des Festivals ausgerufen.
Gedreht wurde der Film im fast quadratischen Format alter Stummfilme – die erste, aber längst nicht letzte Anspielung auf das große Vorbild Murnau und dessen Faust-Film von 1926. Sokurov zeigt von der ersten Sekunde an, als der Film im Himmel beginnt, Mut zum Digitalen. Wie bei einem verrückt gewordenen Peter Jackson stürzt sich die Kamera in ein digitales Tal, ein digitales Dorf, um in einem Kuriositätenkabinett zu landen. Alles sieht Mittelerde viel zu ähnlich, und bis zum Schluss denkt man immer mal wieder, hier habe man es mit einem Nachlasswerk von Tolkien zu tun: »Der kleine Hobbit, Zweiter Teil«. Zumal die Kamera, das gibt denen, die cden Film noch nicht kennen, eine Ahnung, von Bruno Delbonnel stammt, der zuvor unter anderem »Amelie« und »Harry Potter and the Half-Blood Prince« bildgestaltet hatte.
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Der Anfang ist trotzdem interessant, weil unerwartet, ein bisschen Gothic-Novel, Faust als Frankenstein, der an Leichnamen forscht, Toten ihre Eingeweide entnimmt. Doch statt im Ekel-Horror weiterzumachen wird’s bald ein diktatorischer Autorenfilm aus vergangenen Zeiten: Ein Film, wie er kaum noch möglich scheint, nur wenn ihn ein Russe macht: Idiosynkratisch, schwerblütigst, völlig humorlos. Faust ist sehr verquasselt, pausenlos schwappen Wortkaskaden über die Leinwand – gut, dass man nicht auch noch die Untertitel lesen muss, denn obwohl das ein russischer Film ist, wird Deutsch gesprochen. Der Ton allerdings ist nachsynchronisiert und klingt wie ein Hörspiel. Von diesem Regisseur würde man nun eher einen Malstrom aus Bildern erwarten, als aus Worten. Die Bilder aber sind langsam und träg, breiig, milchig, so unscharf, wie in den David-Hamilton-Filmen der Spätsiebziger, zugleich ist das ein sehr dunkler Film, in dem Grau, braun und Grünlich dominieren. Manchmal wurden die Bilder noch bewusst verzerrt, und man fürchtet, der Vorführer habe sich in der Ratio vergriffen. Sokurov-Forscher, wenn es sie denn geben sollte, können in den folgenden Jahrhunderten versuchen, im Einsatz dieser schrägen Bilder ein System zu entdecken – time is out of joint kann man natürlich immer sagen.
Das Production-Design drängt sich auch hier wieder in den Vordergrund. Faust ist vor allem anderen eine Ausstattungsorgie, billig zwar, aber voller Übertreibung. Gedreht wurde in der tschechischen Republik, wo es offenbar in manchen Orten immer noch so aussieht, wie im deutschen Märchen. Gerade zu Beginn läuft pausenlos Musik. Aber was für welche? Romantik, nicht Klassik denkt man, Manierismen, 19. Jahrhunderts. Mal Schubert, mal Mahler. Pustekuchen: Alles selbstgemacht von Andrey Sigle. Auch hier also: Romantik aus zweiter Hand, die sich als Klassik ausgibt.
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Die Story ist bekannt: Faust ist frustriert durch die Grenzen des menschlichen Geistes, und sucht Hilfe bei höheren Mächten. Da weicht Sokurov nicht ab, ist nur unpräziser als Goethe, Murnau, die anderen. Die interessanteste Frage ist: Warum? Was immer er auch zeigt, Sex zeigt er dann nicht. Dafür ein Platsch ins Wasser – wie metaphernreich. Und Gesichter in Großaufnahme und Zeitlupe, dann noch Fausts Gesicht vor blondem Schamhaar, dann Zombies – ja wirklich!
Sokurows Mephisto heißt übrigens nicht Mephisto, sondern Maurizius »Der Dunkle«. Diese Figur ist die Problematischste von allen. Mit anderen Mephisto-Versionen hat er auch sonst wenig zu tun. Er ist ein Pfandleiher, klein, schmierig, körperlich defekt, nahe an Gollum alles in allem. Er ist auch höchst uncharmant. Dieser Teufel ist kein Verführer, keine ästhetische Figur. Und redet gelegentlich jiddisch – und immer deutlicher wird: Es ist die Ikonographie des Antisemitischen, derer sich Sokurow hier bedient.
Sokurov enthält uns alles vor, was wir aus dem Faust kennen: Kein Osterspaziergang, kein Pudel der sich verwandelt, kein »zwar weiß ich viel, doch will ich alles wissen.«, kein Hexensabbat... Warum es überhaupt einen Teufelspakt gibt, das wird nie klar. Man weiß auch am Ende nicht, wer dieser Faust ist, und was er sucht, was ihn bewegt. Freiheit irgendwie. Und die Seele sei nicht mehr wichtig. Irgendwie. Dieser Faust ist mehr eine Behauptung des Faustischen.
Es ist eher ein Vorwand für ein Kuriositätenkabinett. Die üblichen Verdächtigen unter den deutschen Darstellern, die leicht defekt oder irgendwie kränklich aussehen, sind daher dabei: Antoine Monod als feister Mönch, Lars Rudolph als hellstimmig lispelnder Wirt und Andreas Schmidt hat dann noch gefehlt. Alle drei sind dreimal im Bild, haben je drei Sätze. Und so hat auch Georg Friedrich, der immer Spaß macht, selbst als Wagner bei Sokurov, seinen Auftritt: Irgendwann hat er ein Marmeladenglas in der Hand, quasselt von Humunculus, »der Übermensch, der von Menschenhand geschaffene Mensch«, dann rutscht ihm das Marmeladenglas aus der Hand und unten liegt ein blutender, sabbernder Glibberfötus in Marzipanfarben, der sehr erinnert an das Bild von abgetriebenen Kind in »4,3,2«, jenem angeblichen Meisterwerk aus Rumänien. Das Festival wird also Gothic – das ist der gute Teil der Nachrichten aus Sokurovs Mittelerde.
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Irgendwie ist das ein affektierter Schmarren, aber trotzdem muss man es ganz anders ernst nehmen, als etwa Ferrara. Als Schlussstein der Trilogie über Hitler, Lenin, Hiroitho hat es etwas zusätzlich Prätentiöses. Sokurov, so lächerlich man das auch finden kann, will Deutschland vor Hitler retten, und damit auch die Faustische Pose, die dichb unrettbar vom Faschismus kontaminiert ist. Dazu ringt er mit den Göttern und mit dem Deutschen Geist. Das ist die diktatorische Pose dieses Kinos, sein Größenwahn. Es ist aber auch sein Reiz. Es ist auch, ganz unironisch gemeint, gut, das es solche Filme gibt.
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Was die Menschen reden, ist übrigens nicht immer Goethe. Zum Beispiel: »Hier stehe ich und kann nicht anders. Gott helfe mir Amen!« Das ist nicht Faust – sondern genauso bekannt: Luther. Don Quixote kommt auch vor, und gegen Ende liegen drei Männer in Rüstungen auf einer Anhöhe. Wer ist das? Die Heiligen Drei Könige, vielleicht entlaufen aus Albert Serras Film Honor de Cavaleria (2006).
Das Ende ist überhaupt das Beste an diesem Film. Es spielt in Island, Geysire blubbern und spucken meterhohe Heißwasserfontänen – das sind mal Bilder! Aber da ist es längst zu spät. Und einmal gibt es doch Lacher. Als Mephisto, pardon: Maurizio tatsächlich gesteinigt wird. »Nochmal, nochmal, nochmal« ruft dabei der Teufel, und man erinnert sich sofort an Das Leben des Brian: »Jehova, Jehova, Jehova...«
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Was Sokurov tatsächlich tut: Er bietet Betrachtungen eines Unpolitischen. Die natürlich nie wirklich unpolitisch sind. Also Gegenaufklärung. Feier des Mittelalters, Affekt gegen Zivilisation. Anti-Hegel. Anti-Kracauer. Postmoderne. Die Geschichte soll zurückgedreht werden, durch Hitler hindurch vor Hitler zur halbherzigen Unschuld eines Murnau zurück. Also das Gegenteil von »Von Caligari zu Hitler«: Von Hitler zu Caligari, besser zu Murnau. Dann darf man mit Gott ringen und mit Klages den Geist als Widersacher der Seele begreifen, mit Spengler vom Faustischen reden, und in Faust der Sucher UND Materialisten begreifen. Dann darf man auch wieder Juden-Stereotypen benutzen, ohne Antisemit zu sein. Das wird auch niemand Sokurov unterstellen. Einen fahrlässigen Umgang mit filmischen Zeichen dagegen schon. Sokurov will alles predigen und nichts zeigen. Zugleich verlegt er sich auf die Geste des Naiven. Da mögen die internationalen Kritiker in ihrer Mehrheit – Applaus!
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Sukurow wäre demnach der klassische FIPRESCI-Preis-Gewinner, und wir nehmen uns einmal die Freiheit, vorherzusagen, dass der Film diesmal diesen Preis gewinnen wird. Den Preis der unabhängigen Filmkritik, den Bisato d’Oro bekam übrigens der Hauptdarsteller Johannes Zeiler.
Andere Kritiker sehen es naturgemäß anders: Die schwedische Kollegin Ingella spricht mich direkt nach dem Film darauf an, was ich davon hielte, dass Deutschland als Filmförderer Zahlmeister Europas ist. Zum Film sagt sie: »Ich will ihn gut finden, aber ich finde ihn nicht gut.« Conxita aus Spanien sagt es noch viel schöner: »niebla intellectual«.
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Am nächsten Morgen – und da sind wir wieder bei Marco Müllers Programmiergenie – haut William Friedkin dann diese ganze Absurdität mit ein paar wohlgesetzten Hieben zusammen. Es dauert vielleicht zehn, fünfzehn Minuten, bis genau zu dem Moment, an dem Matthew McConaughey zum ersten Mal im Bild ist, bis man wieder weiß, dass Friedkin, nun auch schon 75 Jahre alt ist, bessere Bilder macht, als 90 Prozent aller amerikanischen Regisseure.
Killer Joe erzählt von einer White-Trash-Familie in Texas. Der Vater ist einer dummer Automechaniker, Sohn Chris ein Taugenichts mit Spielschulden bei Geldverleihern, und einer festen Arbeit als Drogendealer. Seine Stiefmutter arbeitet beim örtlichen Pizzabäcker als Serviererin, die Tochter Dottie ist eine hübsche Unschuld vom Land mit Lolitaappeal, bei der man nicht recht weiß, ob sie zurückgeblieben ist oder nur eine Trailerpark-Cinderella. Weil er dringend Geld braucht, hat Chris den Plan, seine getrennt lebende Mutter ermorden zu lassen – sie hat nämlich eine fette Lebensversicherung abgeschlossen, die auf Dottie ausgestellt ist. Weil Chris sich seiner Grenzen bewusst ist, heuern sie Killer Joe an. Der ist Polizist, und im Nebenberuf Auftragskiller. McConaughey spielt ihn als Bedrohung in Person, aus einem Film Noir entstiegen, dabei mit großer Ironie, die diesen ganzen Film auszeichnet, bei dem man nie weiß, wie ernst das alles gemeint ist.
Was in jedem Fall Spaß macht, sind die Dialoge. Etwa zwischen Joe und Chris: »This is serious business« – »I am aware of that.« – »I don’t think, you are. Our conversation is finished. we've never met.« Oder zwischen Joe und Dottie: »Do you trust me?« – »Not quite.« – »Good.« Und später, beim Abendessen: »How are you coming along with killing my mum?« – »This is not an appropriate dinner conversation.« – »Unless you poison her.« Die Geschichte geht dann nämlich so: Joe will Vorkasse, die böse Familie hat kein Geld, solange Mami nicht tot ist. Also verlangt Joe ein Pfand, und dies ist Dottie, auf die er von Anfang an ein Auge geworfen hat. Als der Mord ausgeführt ist, geht die Versicherung aber an jemand anderen. Was geschieht nun mit dem Pfand?
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Das mag sich im ersten Moment banal anhören, ist aber nicht nur ungemein witzig, sondern auch eine abgründige Analyse Amerikas und der Seele des Westens, die dieser auch längst dem Teufel verkauft hat.
Ist Killer Joewirklich eine schwarze Komödie, wie Variety schreibt? Oder eher eine weiße Tragödie? Man kann an die Coen-Brüder denken, ich habe aber eher an David Lynch gedacht, an Blue Velvet.
Der Film ist in jeder Hinsicht das Gegenteil von Faust. Ironisch, mit klaren Bildern, ein Kino, das zeigt, und nicht predigt. Keine Symbole, keine Gewißheit, dafür Pathos und Irritation. Keine Thesen und Antworten am Ende, sondern Fragen. Wo Sokurow naiv ist, ist Friedkin sentimentalisch.
Auch diese Programmierung selbst – Friedkin auf Sokurow, »Killing Joe« auf Faust – kann Müller nur ironisch gemeint haben. Zumal Friedkin schließlich auch mal einen Exorcist gedreht hat. Nachdem der Wettbewerb für einen knappen Tag eine Drehung ins Absurde, Kaputte, Idiosynkratische bekommen hatte, treibt ihm Friedkin den Teufel wieder aus.