68. Filmfestspiele von Venedig 2011
Wer einmal in der Gondel sitzt... |
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Cronenbergs A Dangerous Method: Elegant & cool | ||
(Foto: Universal Pictures International Germany GmbH) |
Venedig, 1.9.2011, zweiter Tag – W.E. – es ist schon ungemein romantisch, wenn man sich klarmacht, was der Titel dieses Films bezeichnet: Man liest ihn »we«, also Englisch für »Wir« und diese Einheit bezieht sich auf »Wallis« und »Edward« die geschiedene, wiederverheiratete Amerikanerin und den britischen Thronfolger, die sich in den 30er Jahren verliebten. Als Edward König wurde, schien eine solche Ehe aber völlig unpassend, und der König musste sich entscheiden. Kein Jahr auf dem Thron, dankte er im Dezember 1936 ab, und sein Bruder Georg, der Vater der jetzigen britischen Königin, übernahm seine Position – dessen Geschichte hatte zu Jahresbeginn erst The King’s Speech erzählt.
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W.E. kommt also marketingstrategisch zur richtigen Zeit, fast ein bisschen zu richtig, um hier nur an Zufall zu glauben. Man sieht verfilmte Prinzessinnenträume, in denen der Prinz nicht nur sexy aussieht, perfekt tanzt und elegant Konversation führt, sondern auch noch sozial engagiert ist: »Something must be done.« rief er einst britischen Reportern zu, als er ein Obdachlosenquartier besuchte – »caring«genug, um bewegend und engagiert zu wirken, vage genug, um niemanden vor den Kopf zu stoßen oder die Grenzen der parlamentarischen monarchie hzu überschreiten. Und heute einer der wenigen Momente neben der ganzen Abdankungsaffaire, der von Edward VIII. im kollektiven Gedächtnis konserviert ist. Edward war offenkundig besessen von Wallis. weswegen sie für die einen eine Hexe ist, die die schönen Prinz verzaubert hat, für die anderen eine Identifikationsfigur, weil es ihr gelang, für sich den Frauentraum zu verwirklichen, dass ein Mann einmal alles aufgibt für einen. Träumen das eigentlich Männer manchmal umgekehrt auch?
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Handwerklich ist W.E. auch durchaus ansprechend: Sanft fließende Kamerabewegungen und eine sehr kompliziert gebaute, in Vor- und Rückblenden hin- und herspringende Narration, Formfragen also dominieren den Film. Am besten geglückt ist kaum zufällig eine Tanzszene, jene, in der sich Wallis und Edward beginnen, füreinander zu interessieren. Madonna, die auch das Drehbuch schrieb, kombiniert Elemente eines Psychothrillers mit den typischen Ingredienzien eines Melodrams. Denn der Film hat neben Wallis Simpson noch eine andere Hauptfigur: Eine junge Britin in der Jetztzeit, die über ihrem Kinderwunsch und dem fremdgehenden Gatte schier wahnsinnig wird, und sich zunehmend und zunehmend bizarrer mit der historischen Wallis identifiziert.
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Wen hat Madonna nicht alles gespielt, und in Zitatform angespielt in ihrer nun auch schon bald 30-jährigen Karriere: Evita, Marilyn, Leni Riefenstahl, Marlene Dietrich. Eine wie Wallis fügt sich in dieses politisch-ästhetische Geflecht aus Glamour und Verzweiflung, Faschismus und Art Deco, Frauenpower und Resistance ganz gut. Und man kann sicher sein, dass, wäre der Film zehn Jahre früher entstanden, Madonna selbst diese Rolle gespielt hätte. Denn Simpson ist im Sinne Madonnas wohl auch eine paradigmatische Figur: Selbstbewusst und frei, angefeindet und leidenschaftlich, Opfer wie Täterin. Und perfekt gekleidet. Sollte Madonna jetzt nach ihrem zweiten Spielfilm ernsthaft eine Karriere als Regisseurin planen, ist dies eine gute Voraussetzung: Inhaltlich populistisch, stilistisch durchaus mit Anspruch und Können.
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Das Ergebnis wirkt insgesamt trotzdem unausgegoren – ein Film wie eine Frauenzeitschrift: Schöne Bilder, schöne Frauen, aber mit allerhand Problemen, und ansonsten das, was man gern für »Frauenthemen« hält: Männer, Kinder, Königsfamilien, Mode und Antiquitäten.
Wie Madonnas Videos ist W.E. eine Orgie des Fetischismus und der Objekte, in der Wallis' Leben anhand der Muster der Teetassen erzählt wird, vor denen ihre knallrot lackierten, perfekt manikürten Finger noch besser hervorstechen, in der Abbie Cornish dauernd in schwarzer Unterwäsche durch die Wohnung und Hotelzimmer läuft – und trotzdem so hässlich aussieht, wie noch nie: wie ein Pummelchen mit flachem Mondgesicht. Auch die Menschen, die Hauptfiguren-Frauen zumal sind hier Objekte; Puppen, die gut angezogen und hin und hergeschoben werden.
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Und so klingt das Ganze dann in der internationalen Pressemitteilung: »W.E. is a romantic exploration of the mysterious connection across decades between two women confronting the consequences of desire. Caught in a loveless Manhattan marriage, abused and frustrated Wally (Abbie Cornish) obsesses over Wallis Simpson (Andrea Riseborough), the stylish American divorcee who captured the heart of Edward VIII (James D’Arcy) who abdicated the throne as King of England. As the Duchess of Windsor, Wallis spends the rest of her life in the glare of celebrity exile. Inspired by the Duchess’s determination to pursue love in the face of social exile, Wally escapes into the arms of another man (Oscar Isaac) whose love sets her free. Madonna and a world class team of collaborators present a passionate tale of the search for love and the meaning of happiness. W.E. (for Wallis and Edward, forever entwined in the love story of the 20th century) is a rich, cinematic portrayal of two strong women resolved to find romance.«
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Nicht weniger fetischistisch, aber auf völlig andere Art ist auch The Sorcerer and the White Snake (Baishe chuanshuo) vom Hongkong-Regisseur Tony Ching Siu-Tung, der unter anderem auch verantwortlicher Stunt-Koordinator bei der Pekinger Olympiade war. Wieder einmal ein chinesischer Märchenklassiker, wiedereinmal mit knallbuntem Zuckerguß aus dem Computer – wir erinnern uns an Chen Kaiges The Promise. Alles spielt in einer mythischen Ur-Welt, in der die Natur belebt ist: Schlangen können ebenso sprechen, wie Schildkröten, Hamster und Ginsengwurzeln, des tumeln sich Feen und Dämonen und dazwischen störrische buddhistische Mönche, die für Ordnung sorgen und ungehorsame Dämonen in den Bergen in einer Pagode gefangen halten. Denn »Demons and humans are not meant to be together.« Das mag stimmen, im Einzelfall führt es aber hzu viel Leid und Chaos. Davon erzählt diese Geschichte über die Liebe einer weißen Schlange zu einem Menschen. Die Schlange materialisiert sich glücklicherweise in Gestalt einer schönen Schlangenfrau, die aussieht wie die Meerjungfrauen bei uns – nur mit Schlangenleib statt Flossenschwanz. Auch die etwas unangenehmeren Fledermausvampire machen aus dem ganzen Film einen nerdy wet dream. Küsse unter Wasser werden getauscht, andere Dämonen sehen aus, wie weiße Füchse mit Frauenstimmen, die in Bambuswäldern hausen, Jet Li als Obermönch kämpft gegen einen fiesen Fledermausdämon, der äußerlich am ehesten an Nightcrawler in den X-Men-Filmen erinnert. Als comic relief neben der ersten Liebe gibt es noch die nur halbgeglückte Transformation eines Mönches. Im Prinzip ist das ein völlig sinnloser Quatsch, der für unsere Augen nur stellenweise »schön« aussieht. Aber es geht um Universelles, dem sich auch der westlichste Filmzuschauer kaum dauerhaft versagen kann: Die Macht der Liebe, die nicht nur Königreiche, sondern selbst die Gesetze der Natur bezwingt – für eine Weile jedenfalls.
Venedig, 2.9.2011, dritter Tag – Ja ja, es ist alles relativ. Klar doch. Es gibt überhaupt – ich betone überhaupt – keine Wahrheit. Und jeder hat das Recht auf seine eigene Meinung. Und was ich sage, muss nicht stimmen, selbstverständlich. Denn es ist manchmal falsch, wie ich einen Film finde. Und man darf auch anderer Meinung sein. die Antwort eines sowjetischen Kritikers auf gerechte Kritik.
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Die entsprechende Anklage kam von einem Genossen, der hier nur noch Guiseppe Rapido heißen darf, weil er sich verbeten hat, und zwar ein für alle Mal, in diesem Blog namentlich erwähnt zu werden. Vielleicht ist trotzdem alles etwas anders. Ich würde es gern lieber mit Oscar Wilde halten. Der hatte einmal schön formuliert: »Der Kritiker soll das Publikum erziehen, der Künstler aber soll den Kritiker erziehen.« Oh ja, das kann ich unterschreiben: Ich will mehr Filme, die mich erziehen, von denen ioch etwas erfahre, etwas lerne.
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Zu was Stephen Soderbergh, der alte Bilderschlamper, uns erziehen will, wäre eine genauere Betrachtung wert: Contagion (Ansteckung) glänzt zunächst einmal mit diversen Top-Stars: Kate Winslet, Marion Cotillard, Gwyneth Paltrow, Matt Damon, Jude Law und Lawrence Fishburne. Diese Menge braucht Soderbergh allerdings auch, denn Contagion ist ein apokalyptischer Seuchen-Thriller. Es geht um eine EHEC-ähnliche Epidemie, bei der die Menschen wie die Fliegen sterben. Zwar zeigt der Film nichts, was man nicht schon in anderen Weltuntergangsfilmen wie 28 Days Later und Outbreak gesehen hätte, trotzdem beeindruckt die handwerkliche Perfektion des Regisseurs. Er webt einen Bilderteppich, strickt ein Netz aus Beziehungen von Ansteckung, Gesundheitspolizei und Medienberichten über die ganze Welt – eine Symphonie der Seuche. Und Globalisierungskino par excellence, bei dem schnell zwischen Tokio und New York hin und hergeschnitten wird, und der Weg der Seuche visuell markiert: Erdnüsse, ein Computer, eine Hand auf einer Stange im Bus... Das Ganze ist sehr elegant und schön anzusehen – vielleicht liegt hier schon das Problem bei einem Seuchenfilm. Vor allem aber muss man fragen, was es am Ende soll?
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Das erste Opfer der Seuche ist Gwyneth Paltrow – kein Wunder, sie ist ja auch Veganerin und guckt ihre wenigen Filmminuten entsprechend geschwächt und blutleer aus der Wäsche. Die schönste Szene des Films ist dann die, in der Paltrow tot auf dem Obduktionstisch liegt. Da wird ihr mit schönem Sägegeräusch der Schädel aufgesägt und die Kopfschwarte nach vorne gezogen – plötzlich hängen ihr die blonden Haare unterm Kinn. Da guckt man ihr ins Hirn, von dem offenkundig nicht viel übriggeblieben ist – Veganrertum? – und es fällt dann gleich auch der schönste Dialog des Films: »Oh my god. What’s that?« – »Should I call anyone?« – »Call everyone« Ein neues Wort, das wir im Film gelernt haben, heißt »Seuchen-Cluster« Offenbar analysieren Forscher bei Seuchen auffällige Häufungen in Clustern.
Die ärgerlichsten Momente sind jene, in denen Soderbergh die Seuche dann doch noch puritanisch moralisiert: Zum Auslöser ist eine Kombination aus Fremdgehen, Glücksspiel und dem Verzehr von Schweinefleisch. Und ganz am Ende sind eben doch Asien und mangelnde Hygiene an allem schuld! Gut wenn man Sündenböcke hat.
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»Mit meiner Ballalalaleika, war ich der König von Jamaika« – so sang einst Bata Ilic in Dieter Thonas Hecks ZDF-Hitparade. Ein Lied, das mich seinerzeit nachhaltig beeindruckte, wobei den recht eindeutigen sexuellen Subtext noch nicht verstand. An Ilic und leider auch das Niveau seiner Kunst musste man denken, als die erste echte Enttäuschung des Venedig-Programms über die Leinwand flimmerte: Poulet au Prunes (Hühnchen mit Pflaumen) von der in Paris lebenden Iranerin Marjane Satrapi, deren Debüt Persepolis noch alle begeistern konnte. Doch statt einen zweiten Animationsfilm hat Satrapi nun einen ersten Real-Film gedreht: Eine »märchenhafte«, »magische« Geschichte um einen unglücklichen Geiger, der im Teheran des Jahres 1958 nach jahrelanger unglücklicher Ehe zu sterben beschließt – als eben seine Ehefrau die Geige kaputt macht, mit der er sich beim Spielen immerzu an seine wahre, unglückliche Liebe erinnert. Vor dem Sterben lässt er – das ist dann der Film – sein trauriges Leben Revue passieren. Man mag es für poetisch halten, wenn die Kamera im Stil von Amélie einer Schneeflocke auf ihrem Fall vom Himmel folgt, bis sie ein vorwitziger Kindermund verschluckt – in der Gesamtschau wirkt das aber nur pseudo-poetisch und so verschmockt, dass selbst Stars – Chiara Mastroianni und Isabella Rossellini in den Nebenrollen – nichts mehr retten konnten.
Poulet au Prunes ist hochgradig biederes, geschmäcklerisches Historienkino. Zudem ein Beispiel depperten Orientalismus', denn warum müssen alle Perser von Franzosen gespielt werden – mit Ausnahme der wunderbaren Golshifteh Farahani?
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Venedig, 3.9.2011, vierter Tag – »Peoples brains where different in the past.« sagte David Cronenberg auf der Pressekonferrenz nach der Venedig-Premiere seines Films, »their nervous systems were different... My film gathers a fascinating puzzle...« Es muss großartig sein, mit Cronenberg einen Film zu drehen. man bekommt, das erzählen seine Schauspieler schon seit Jahren, Stapel von Büchern zum Lesen und einen nimmermüden, immer gesprächsbereiten Regisseur. Am Ende läuft das Ganze auf ein kleines Oberseminar hinaus, zum Thema »Existenzphilosophie und virtuelle Welten« (eXistenZ), »Selbstjustiz, Rache und die Gewaltgeschichte Amerikas« (A History of Violence), »Mutationen und Hybride« (Die Brut), »Kulturgeschichte der Parasiten« (Shivers), »Wissenschaft, Epidemien und das neue Fleisch« (Rabid), »Perversion und Fetischismus« (Crash), »Drogenkultur und künstlerische Produktivität« (Naked Lunch), »Videokunst und die Präsenz des Leibes im Cyberspace« (Videodrome), »Russland, seine Menschen, seine Mafia«, »Das Böse und die Musik« und »Zeichensystem Gefängnis« (Eastern Promises) – und so weiter. Immer ist dergleichen verbunden mit einem Grundkurs in Kulturgeschichte, postmodernen Körperwelten und Praxis des Filmemachens. Es gibt nur wenige Regisseure, die so klug und gebildet sind wie Cronenberg, und keinen, der so wenig Aufhebens darum macht.
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Pferdekutschen klappern über sandige Straßen, nach Amerika fährt man mit dem Dampfschiff, und die Post kommt achtmal am Tag. Die Herren tragen Bärte und Zylinder, die Damen ein enggeschnürtes Korsett, sind aber gar nicht so selten gern bereit, es aufzuschnüren, und sich den Herren alles andere als damenhaft hinzugeben. Es wird schon gern mal gepeitscht und gefesselt, von hinten genommen sowieso, in jener Welt, wie sie David Cronenberg (eXistenZ) uns zeigt. In seinem neuen Film A Dangerous Method, der bereits am letzten Freitag im Wettbewerb von Venedig lief, nimmt der kanadische Regisseur seine Zuschauer mit auf eine Zeitreise. Sie führt in jene alteuropäische bürgerliche »Welt von Gestern«, die nicht nur Stefan Zweig beschwor, bevor sie in den Stahlgewittern des Ersten Weltkriegs unterging. Genauer: Ins Wien und in die Schweiz der Jahre kurz nach der Jahrhundertwende, als Sigmund Freud das Unbewusste entdeckte, »Überich« und »Es« definierte, Dinge wie Hysterie, Neurose, den Ödipus-Komplex und den Todestrieb und mit alldem die Psychoanalyse erfand. Cronenberg erzählt von jener Zeit zwischen 1904 und 1914, als deren Methoden noch unsicher waren, als Freud öffentlich heftig angegriffen wurde, und seine »Bewegung« erst zu formen begann. Der 1856 geborene Freud (Viggo Mortensen) erkannte in dem eine Generation jüngeren Carl Gustav Jung (Michael Fassbender) einen potentiellen Nachfolger und wollte ihn näher an die eigene Arbeit heranführen. Aus dem anfänglichen Vater-Sohn-Verhältnis zwischen beiden wurde aber binnen weniger Jahre tiefe Eifersucht und Rivalität. Der rationale Freud warf dem irrationalen Jung, der sich auch mit Telepathie und Parapsychologie beschäftigte, »Mythizismus« und »Schamanismus« vor – von den tieferen Ursachen dieses Bruchs – theoretischen, wie höchst privaten Differenzen – handelt Cronenbergs Film.
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Der Film ist elegant und cool, zugleich zurückhaltend, wie selbstsicher. Dort wo es mal kurz überflüssig cheesy aussieht, wie beim computergenerierten Ozeandampfer, mit dem Freud und Jung gemeinsam nach Amerika reisen, fallen dann geniale Dialogsätze, die all das in den Schatten stellen: »Do you think they know we're on our way, bringing them the plague?« fragt Mortensens Freud süffisant.
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Eine der schönsten Szenen und zentralen Stellen in Cronenbergs Film ist die erste Begegnung zwischen beiden. Sie kennen sich durch Briefwechsel, und irgendwann besucht Jung den bewunderten Meister in der Wiener Berggasse. Es gibt ein kleines charmantes Gespräch darüber, ob Freud nun ein Columbus oder ein Galilei des Unbewussten sei. Er bevorzugt den Vergleich mit Columbus: »Columbus wusste nicht, was er entdeckte, er wusste nur, dass er etwas entdeckt hat.« Jung kann sich nicht benehmen, besitzt zum Beispiel keine Tischmanieren. Fachlich sind beide Männer von einander fasziniert, kulturell und politisch überwiegen die Differenzen: »Es gibt ein Problem: Hier in Wien sind nahezu alle Psychoanalytiker Juden.« – »Ich sehe nicht, wo hier das Problem liegen soll.« – »Eine exquisit protestantische Antwort.« Dieser kurze – historisch überlieferte – Dialog zwischen Freud und Jung zeigt Freuds klare Einsicht in den latenten Antisemitismus seiner Gegenwart, wie umgekehrt Jungs politische Blindheit. Man wüsste gerne mehr über Jungs Verhältnis zum Jüdischen. »Jewish, import-export, well educated« – so beschreibt er eine neue Patientin am Frühstückstisch gegenüber seiner Frau. Da sind die Stereotypen, ungenau maskiert, beisammen: Das Jüdische als das ökonomisch versierte, intellektuell überlegene, insofern allerorten latent bedrohliche Element.
Er zeigt auch, wie Freud sich mit den Jahren zunehmend als Jude zu fühlen begann, wie er immer deutlicher Stolz auf sein Judentum entwickelte – allerdings auch eine gewisse Arroganz: »Ihr Traum von einer mystischen Vereinigung mit dem blonden Siegfried ist zur Verdammung verurteilt. Hören Sie auf, von dem Arier zu träumen. Wir sind Juden.« Dies sagt Cronenbergs Freud in einer zweiten zentralen Stelle des Films. Er sagt dies zu Sabina Spielrein, der dritten Hauptfigur des Films. Spielrein, eine 1885 geborene russische Jüdin, kam 1904 als Hysterie-Patientin zu Jung, wurde von ihm behandelt – und seine Geliebte. Später dann kam es zum Bruch, Spielrein wurde Freuds Patientin, und ihre Affaire mit Jung zum Modell-Fall, zum Auslöser für Freuds Diktum, ein angehender Analytiker müsse zuerst selbst eine Psychoanalyse durchlaufen. Später wurde Spielrein selbst Psychoanalytikerin. Sie forschte über »Sex als destruktive Macht«. Gespielt wird sie von Keira Knightley. Die grimassiert recht viel, vor allem, am Anfang, aber schließlich ist sie da noch eine Hysterikerin. Aber wenn Knightley im Film redet, interessiert mich das nicht, geht eher auf die Nerven.
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»This is a story about obsession.« hätte man über diesen Film titeln können. In jedem Fall ist es auch eine Story über Sex. Oder was man seinerzeit darunter verstand. Dazu gehörte in jedem Fall, das lange über Sex geredet wird, bevor er womöglich stattfindet. Und das Schuldgefühle ebenfalls scheinbar untrennbar dazugehörten. Der Kontrast zwischen Spielrein und Jungs Ehefrau Emma zeigt auch, wie Krankheit für sie zu einer Chance werden kann, aus dem Korsett der patriarchalen Gesellschaft zu schlüpfen. Die deutsche Schauspielerin Anna Thalbach kommt nur sehr undankbar vor, ein paar Sekunden lang halbnackt als Nymphomanin, die von drei Schwestern fesgethalten wird und dabei versucht, Jung in die Augen zu sehen.
Spielrein ließ sich, glaubt man dem Film, von Jung beim Sex gern auspeitschen, am liebsten vor dem Spiegel. Ob das alles wirklich so stimmt, dazu muss man wohl die Fachliteratur konsultieren, vor allem Sabine Riechebächer, die mehrere Bücher über die Spielrein geschrieben hat, aber wir glauben sowieso, dass Recherche eine von Cronenbergs Stärken ist.
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Eine der letzten Szenen des Films ist die, in der sich der Bruch zwischen Freud und Jung vollendet. Während aus dem Off Freuds Stimme aus dessen letztem Brief an Jung liest, sieht man Freud selbst durch den Park von Schloß Schönbrunn spazieren. Als er sinnierend im Gehen innehält, steht neben ihm eine Sphinx-Statue...
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Obwohl dieser Film keine akademische Übung ist, und kein Dokumentarfilm, gelingt es Cronenberg besonders gut, das Charisma Freuds einzufangen. Neben der großartigen Leistung dieses Films als Rekonstruktion der Epoche bis in kleinste Einzelheiten, etwa die Einrichtung von Freuds Arbeitszimmer, oder von Nebenfiguren dieses intellektuellen Dramas wie Otto Gross, dem späteren Monte-Verita-Lebensreformer – wirklich lustig mit großartigem Witz und, soweit ich das sagen kann, treffend verkörpert als kokainsüchtiger Derwisch und Befreiungsfanatiker von Vincent Cassel, der hier aber mit Werwolf-Bart eher aussieht wie Kirk Douglas' Van Gogh in Vincente Minnellis Lust for Life –, hat der Film freilich noch eine andere, etwas versteckte Pointe: Zwar hat der Kanadier ein Historiendrama gedreht, und eine wichtige Episode der Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts erzählt. Zugleich aber liegt der Gedanke nahe, dass die friedlichen Jahre von denen der Film erzählt, unserer eigenen Gegenwart nicht unähnlich sind: Auch wir erleben eine Zeit voller Chancen, voller wissenschaftlicher Errungenschaften, von Reichtum und hohem zivilisatorischen Niveau, in der trotzdem die Unsicherheit zunimmt, die Warnsignale vor Rückschlägen und das Gewittergrollen am Horizont nicht zu übersehen sind. Die scheinbar ewig friedliche milde Zeit vor 1914 war schneller zuende, als Zeitgenossen es sich träumen ließen: Auf 1914 folgte 1918, 1933 und 1945. Kaum einer hätte sich 1913 die Zivilisationsbrüche, die folgten, vorstellen können.
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Irgendwo im Internet lesen wir trotzdem Kritisches: »Und jetzt also ein Kostümfilm, in dem ... in sehr geschmackvollen Kulissen geredet und geredet wird, wo die hochbegabte junge Russin Sabina Spielrein ihren Analytiker Jung mit Reden verführt, und Jung zu seinem anfänglichen Übervater Freud mit Reden – das erste Gespräch dauert 13 Stunden – eine Beziehung auf- und radikal wieder abbaut.« Die Kritikerin findet das schlimm. Aber warum ist reden in der Kunst eigentlich schlimm? Warum darf man im Theater reden, aber nicht im Kino? Ist nicht eher die Tatsache schlimm, dass viele Leute das Reden heute verlernt haben, und das Zuhören auch?
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»We have to go into uncharted territory.« (Jung in Cronenbergs Film). Merkwürdigerweise kommt im Kino Freud bisher kaum vor. Dabei spricht heute die ganze Welt Freud. Und im Kino spielt das zentrale Motivs Freuds, die Möglichkeit des Verrats an sich selber, ständig eine Rolle. Freud oder auch The Secret Passion hieß einer der unbekannten Filme von John Huston Anfang der Sechziger Jahre, zu dem kein Geringerer als Jean-Paul Sartre das Drehbuch schrieb. Freud wurde von Montgomery Clift gespielt. Es geht darin um die frühen Jahre von Freud, und in gewissem Sinn ist das Ganze, wie Dennis Schwartz in einer Kritik treffend schrieb, »ein Film Noir, mit Freud als Detektiv.«
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»Never repress anything.« sagt Cronenbergs Gross. Und sein Freud: »Otto Gross … doing great harm to our movement. … you are undisputed crownprince.«
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Wieviel Mut dazu gehörte, sich während des viktorianischen Zeitalters auf Frauen einzulassen, kann man sich vergegenwärtigen, wenn man wieder einmal einen Blick auf Ibsen oder Strindberg wirft, die beide dauernd über Frauen schrieben, sie aber meist zu Karikaturen und Kranken degradierten oder zu mythischen Wesen und archaischen Urmächten überhöhten. Oder einen Blick auf Oscar Wilde: Al Pacino. Der beginnt seinen eigenen Film Wilde Salome zwar mit dem vorhin vermissten Satz: »This is a story about obsession«, versemmelt aber alles völlig. Irgendwie geht es um Oscar Wilde, vor allem aber um Pacino selbst und irgendwie auch um die Figur der Salome. Die begann ja etwa zur gleichen Zeit die bürgerliche Gesellschaft Europas zu faszinieren, in der Freud seine Theorien in die Welt setzte. Salome ist auch eine Ur-Femme Fatale. Auch das hat etwas mit Freud zu tun, alles lag in der gleichen dicken Salonluft – es ging um die Einsicht, dass Geschlecht und Sexualität gesellschaftlich ausbeutbar sind. Das Ergebnis ist Theater-Geschmocke und viel Schauspielereitelkeit. das bessere »making off« eines missglückten Stücks, das ein Film werden sollte. Am meisten enttäuscht sein werden die, die Pacinos Shakespeare-Doku Looking for Richard mochten.
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Auch Philippe Garrel, wir hatten das vor ein paar Tagen erwähnt, wirft in Un ete brulant einen Blick auf »die« Frauen. In der Pressekonferenz beschreibt Garrel seinen Film als seine persönliche Version von Godards Die Verachtung und verwies auf eine in der Malerei ganz übliche Tradition: »Ich habe meinen Meister kopiert.« Ich denke, dass das manchmal besser ist, als verkrampfte Originalität. Das Kino sollte sich wieder mehr auf die Tradition der Werkstatt besinnen.
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Wenn man mal begreifen wollte, was die Wirkung Monica Beluccis ausmacht – miserables Spiel hin oder her –, musste msan ihren Auftritt in Garells Pressekonferenz sehen: Sie kam genau jene zehn Sekunden zu spät, um alle ufmerksamkeit der Presse auf sich zu ziehen. als erstes ein öffentliches Küsschen für Garell – das war das Foto des Tages.
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In der Pressekonferenz zu A Dangerous Method erzählt Cronenberg: »Mein Zugang zum Kino hat sich verändert. Ich drehe weniger, ich schneide schneller. Ich gebe dem Film, was er will. Meine Hingabe gilt dem Script und den Schauspielern.« Dann geht es noch darum, dass die Briefwechsel seinerzeit »wie Internet vor dem Internet« gewesen seien.
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»Blogging is not writing. It’s grafitti with punctuation.« Das ist so ein Satz, der noch hängenblieb von Stephen Soderberghs Seuchenthriller Contagion und für große Lacher im Kino sorgte. Dabei ist der Blogger in diesem Film, gespielt von Jude Law in einem fast komödiantischen Auftritt mit schlechten schiefen Zähnen, von denen einer auch noch schwarz angefault ist, gar kein Idiot und auch keine durchgehend unsympathische Figur. Er hat einen guten Instinkt, und eine plastische Sprache. Der Virus sagt er, sei »wie Godzilla, King Kong und Frankenstein zusammen.« Allerdings ist der Blogger unsympathisch, denn er ist ein Fanatiker. Womit wir beim nächsten Film wären.
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Es gibt bisher eigentlich nur zwei Filme, die einem bisher Lust machen, sich sofort nach dem Festival einen Stapel Bücher zu besorgen, und zu lesen. Einer ist David Cronenbergs Freud-Jung-Drama A Dangerous Method, der schon am Freitag lief, uns immer noch im Kopf herumspukt, und über den wir hier auch bald noch schreiben werden. (Gerade ist ja, das nur in Klammern, die Phase erreicht, in der wir beim besten Willen nicht mehr mit dem Schreiben hinterherkommen und eigentlich noch die Filme von Freitag und danach besprechen wollen, aber, weil es ja schon Montag ist,doch vieles vor und herschieben.) Das andere, was man lesen will, ist alles von John Le Carré. Schuld daran ist Tinker, Tailor, Soldier, Spy, die langerwartete Kinoverfilmung von Le Carrés gleichnamigem Roman (auf deutsch: »Dame, König, As, Spion«) durch den Schweden Tomas Alfredson (Låt den rätte komma in).
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»The fanatic is always conceiving a secret doubt.« – so lautet einer der schönsten Sätze in diesem Film. Und wäre dies nicht vor allem ein Style- und Fashion-Statement, dann wäre dieser Film auch eine wunderbare Ansammlung von Sätzen und klugen Gedanken. Etwa, als fast am Schluß des Films der Entlarvte Smiley zugesteht, er sei von der Gegenseite als gefährlich eingeschätzt worden. Und dann erklärt: »But you have a mild spot: As Annas Lover, you were not able to see me straight.« Er wurde nur deshalb der Liebhaber von Smiley Ehefrau, um als Verräter sicherer zu sein.
Ein Film der Sehnsucht auslöst. Ein Film, der nochmal gesehen werden will. Denn man kann hier alles Mögliche entdecken, soviel, wie bei einem Mal angucken nicht auszuschöpfen ist. Diese Sehnsucht hat ihre Ursache auch darin, dass dieser Film auf etwas völlig Irrationalem basiert, beziehungsweise es erst auslöst: Nostalgie nach dem Kalten Krieg. Nostalgie gegenüber einer grauen Welt ohne Mobiltelefone und Internet, nach einer modernen Kunst, die sich mit ihren Ecken, ihrem Grau in Grau, der dicken, hart und grindig gewordenen Farbpaste, in der die Quadrate auf ihren Leinwänden gemalt sind, in Kontrast befindet zu allem Plüsch und allem Runden, das die Einrichtungen dieser Jahre dominiert. Die aber nichts zu tun hat mit dem Medienkrimskrams und Installationsbudenzauber, der heute die Kunstwelt dominiert – zum Beispiel der Biennale ein paar Bootsminuten weiter.
Eine zweite zumindest bemerkenswerte, für mich interessante Gemeinsamkeit zum Croenberg-Film ist, dass wir auch hier mit einem sehr überladenen, sehr klassischen, sehr braunen Herrenarbeitszimmer begegnen. Bei Cronenberg ist es das von Freud, hier das von Smileys Boss »Control«, den John Hurt spielt. Diese Arbeitszimmer sind von allen Ecken eingerahmt durch Bücherregale, die prall gefüllt sind. Dazwischen und vor den Büchern stehen kleine Mitbringsel, Statuen, Fotos im Rahmen, Kostbares neben billigem Tand. Auf dem schweren Schreibtisch türmen sich die Papierstapel, man meint, den Staub riechen zu können. Es ist das 20. Jahrhundert, dem man hier begegnet, und greift man wirklich zu hoch,wenn man sagt: Diese Arbeitszimmer in denen Forscher und Diktatoren arbeiteten, waren einer der paradimatischen Räume dieses Jahrhunderts? In dem nichts klein und schnell zugänglich und digital war. Und dies nicht weiter ins Gewicht fiel. »Your generation, your legacy« sagt einmal jemand zu Smiley, natürlich in anderem Zusammenhang, aber es trifft auch hier zu.
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Ein Film der Objekte, des Set-Design, der Dinge, die hier mehr erzählen, als alle Worte. Die, wenn es sich um Kleidung handelt, ihre Figuren charakterisieren: Der Tweed, die Anzüge, die Trenchcoats, die Kravatten. Wenn Brazil das Drama dieser vergangenen Welt war, dann ist Tinker, Tailor, Soldier, Spy ihre Tragödie. Es würde wahrscheinlich genügen, diese britischen Gesichter zu zeigen, in deren Reihe sich sogar Hurt und Colin Firth fügen. Dieser britschen Sprache zuzuhören. Auch die Sprache und die Gesichter sind hier reine Objekte.
Natürlich ist dies zugleich ein gradliniger Spionagethriller, voller Hard-Boiled-Talk wie »This meeting is not taking place. Is that clear?« Oder: »This isn’t about soldiers and trenches anymore.« Ein weiterer Aspekt ist die Kombination aus Wissen und Einsamkeit, Angst und Spießertum, die die Agenten auszeichnet.
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»The mother of all secrets« wird in den Untertiteln übrigens übersetzt in »Il padre de tutti secreti«.
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Alfredson macht alles richtig und viel Kluges: Er ändert die Romanhandlung im Hinblick darauf, alles Filmischer zu machen, ohne aber das Ganze anzutasten. Etwa als er die Weihnachtsfeier des »Circus«, des britischen Geheimdienstes, zeigt, kommt es zu einem der schönsten Momente: Da tritt ein Clown mit Lenin-Maske auf, und aus den Lautsprechern tönt die Sowjethymne. Fast alle singen mit. Großartig! Kommt aber im Roman nicht vor. Alfredson zeigt nie Karla, Smileys Gegenspieler in Moskau, er zeigt nie seine Frau Ann – wozu auch? Wir sollen sie fühlen, und wir sollen sie so fühlen, wie sie Smiley uns erzählt.
Die etwas Älteren von uns erinnern sich natürlich an den Fernseh-Siebenteiler aus den späten 70er Jahren, in denen Alec Guinness den britischen Geheimdienstler und Romanhelden George Smiley spielte. Diesmal wird er, ganz anders, aber nicht weniger überzeugend, von Gary Oldman gespielt.
»I am gonna miss the cricket in Moscow.« sagt der von Colin Firth gespielte Entlarvte am Ende zu Smiley. Und dann begründet er seinen Verrat: »It was an aesthetic choice as well as a moral one.« Dazu läuft das französische Chancon »La mere« und das klingt dann zwar wie von Adamo, ist aber, wie der Abspann verrät, doch von Julio Iglesias gesungen. Der Osten! Als ästhetische Entscheidung!! Darauf muss man erstmal kommen. Das galt natürlich für Willy Brandt, Richard von Weizsäcker und die ganzen anderen Großväter, die 1989 plötzlich triumphieren konnten, weil sie die schönen Allen von »Mitteldeutschland« wiederbekamen. Aber für einen britischen Agenten im Jahr 1973?
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Sehnsucht also nach dem Kalten Krieg. Aber auch diese Zeit hatte ihre Sehnsüchte, wie ein kleiner Dialog zwischen Smiley und seiner Ex-Kollegin Connie erzählt: »This was a good time, George.« – »It was the war, Connie« – »A real war. Englishmen could be proud then.« Und sie war hellsichtig und es waren bereits seinerzeit Sätze möglich, die wir heute, leider mehr denn jme unterschreiben können: »The west has become very ugly, George.«