68. Filmfestspiele von Venedig 2011
Wer hat Angst vor der Revolution? |
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Louis Garrel und Monica Bellucci in Un Été Brûlant | ||
(Foto: Wild Bunch) |
Venedig, 30.8.2011 – »We are sorry for the interruption. The screening will start as soon as possible.« Erste Vorführung am ersten Tag – wir sind wieder in Venedig. Mitten im Trailer, der knalligen Lumieres-Burleske die im Auftrag des Festivalleiters Marco Müller eingefärbt und am Computer aufgepeppt wurde.
Genau gesagt, ist es noch gar nicht der erste, sondern der vorerste Tag, der Tag »-1«. Ein paar Pressevorführungen laufen schon, die
ersten Gäste klappern mit ihren Rollkoffern über den Lido, beziehen die Appartements, die für knapp zwei Wochen Zuhause, Büro und Fluchtpunkt zugleich sein werden. Erst am Abend des nächsten Tages werden die Filmfestspiele von Venedig offiziell eröffnet – und alles hier vor Ort sagt uns, was für eine Frechheit es aber auch ist, einfach zu erwarten, dass hier über einen Tag vorher schon etwas funktionieren muss.
»Please take your seat. The screening is about to begin.« sagt die warme, aber autoritäre Frauenstimme aus der Dose jetzt schon zum zweiten Mal, Lacher im Saal, denn das ;Licht geht nach 30 Sekunden wieder an. Es dauert 20 Minuten, dann erst beginnt die Vorstellung von Love and Bruises, der die Nebenreihe Giornate Degli Autori, international auch »Venice Days« genannt, eröffnet. Der Regisseur ist kein Geringerer als der Chinese Lou Ye, und man wundert sich ein bisschen, dass ein Film dieses Regisseurs in einer Nebenreihe läuft. Schließlich hat Lou Ye, Regisseur unter anderem von Suzhou River und Summer Palace und einer der interessantesten und besten Filmemacher Chinas, zuletzt in Cannes einen Drehbuch-Preis gewonnen; seine letzten drei Filme liefen im dortigen Wettbewerb.
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Love and Bruises hat schon mal vieles, was einen einnimmt: Er ist ein richtiger Paris-Film und handelt von Chinesen. Produziert wurde in Frankreich von Isabelle Glanchet (Why Not Productions). Es geht los mit einem Streit mitten auf der Straße: »Je t'aime plus« sagt ein französischer Enddreißiger im Anzug, »I loved you in Beijing. You are in Paris. You are free now.« Die Frau, eine Chinesin, die vielleicht Ende 20 ist – »28« sagt sie später einmal, aber das muss ja nicht stimmen – oder auch Anfang 30, ist sichtbar erschüttert. Wie im Trance taumelt sie vom Ort der Niederlage... Über eine Brücke... Über einen Markt... Um dort einen weiteren Schlag zu bekommen – ein Balken, der von einem Marktarbeiter getragen wird, trifft sie unglücklich am Kopf, sie stürzt zu Boden. Der Arbeiter kümmert sich um sie und als er sieht, dass sie nur etwas benommen, aber nicht weiter verletzt ist, beginnt er sofort zu flirten. Er ist charmant, sie lässt sich zum Essen einladen. Er heißt Mathieu, sie heißt Hua. Als er sie nach Hause bringt erwartet er eine Gegenleistung, als sie sich sträubt, kommt es an einem Maschendrahtzaun zu einem nicht sehr eindeutigen Sex, halb zieht er sie, halb sinkt sie hin. Dann aber geht sie mit ihm mit, und so ist alles eine Mischung aus sexueller Gewalt und Leidenschaft.
Mathieu und Hua sind zwar nicht ganz Seberg und Belmondo, aber diese sich nun entspinnende, wechselhafte Amour Fou erinnert doch eine Weile an »Außer Atem«. »Life’s good« steht auf seiner großen Werbetafel. Aber Mathieu ist in Kleinkriminalität verwickelt, seine Freunde tendieren zu Rassismus und Frauenverachtung, er selbst spricht bald von Heirat, Kindern und davon, dass sie dann zuhause bleiben soll – »Your science is crap.«, sie lacht nur und will doch
nicht von ihm lassen. Viel mehr als Sex und Gespräche über Döner und Musik haben sie nicht gemeinsam, und man muss ihrem chinesischen Ex-Lover zustimmen, der sagt: »Er ist unter Deinem Niveau.«
So erzählt der Film über diese Story einer chinesischen Akademikerin und eines französischen Arbeiters noch viel mehr: Von Liebe, die nur Sex ist, von Klassenkonflikten und Milieus, von kultureller Differenz. »What’s chinese for you?« fragt Hua einen ihrer Professoren.
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Und es geht um Politik: »The fight continues« sagt einer von Huas Professoren in der Vorlesung, erzählt von Frauenemanzipation in den 60ern. Darüber legt Lou Ye dann pathetische Streicher-Musik, voller Ernst und Heißblut. Irgendwann ist Hua dann zurück in China. Dort arbeitet sie als Dolmetscherin für eine französische Journalistin. Und wir hören folgendem Dialog zu: »Gibt es eine Opposition in China?« – »Das ist eine typisch westliche Frage. … Ich bin kein Dissident. Ich habe eine andere Meinung. … Demokratie ist ein Lernprozess. … Automatisches Vergnügen ist kein echtes Vergnügen. Das sieht man an den Olympischen Spielen.« Klarer in seinen politischen Aussagen kann ein chinesischer Film nicht sein. Auch was ihr ein Vorgesetzter sagt, als sie sich entschließt, in China zu bleiben ist ein klares Statement: »We need people like you, Comrade Hua. contribute building your country.« Das ernste Leben ist besser, als die Flucht in die Spaßgesellschaft. Und in China ist das Leben ernst.
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Momente wie diese dürften der Grund sein, warum der Film nicht im Hauptwettbewerb läuft, den Marco Müller lieber Staatstragendem vorbehält. Müller ist bekanntlich Chinesenversteher, ganz wörtlich gemeint, denn er spricht angeblich 17 (oder waren es 18) chinesische Dialekte. Aber ganz so wörtlich ist das sowieso nicht gemeint, eher metaphorisch, so wie man über einen mittelalterlichen Heiligen schon mal sagte, er könne die Stimmen der Tiere verstehen. Müller muss so ein Heiliger sein. Und wie man diese nicht versteht, wenn sie mit den Tieren reden, so versteht man eben auch Müller manchmal nicht.
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Noch einmal ist Hua in Frankreich, in Arras in einer Arbeitersiedlung aus dem 19. Jahrhundert, die, mit Kohleberg gleich daneben, direkt aus Germinal stammen könnte. Sie besucht Mathieu, weiß aber schon, dass sie den Chinesen heiraten wird, der sie füttert, sich um ihren Vitaminhaushalt sorgt, und verspricht »Keine Lügen.« Im Gegensatz zu Mathieu, der ihr sogar seine erste Ehe vorenthielt. Und da setzt die Männersolidarität ein: »You are getting married and you are here? You are a real bitch« sagt Mathieu.
Die schlechthin großartige (Hand-)Kamera von Yu Lik Wai – der auch selbst Regisseur ist, und viel für Jia Zhang-ke arbeitet, fängt das alles in leichten, luftigen Bildern ein. Sie fliegt und fließt ein ums andere Mal, mitunter gehen Paris und Peking ineinander über, und auch sonst herrscht in diesem tollen Film ein wunderbarer Fragmentarismus, eine experimentelle Grundhaltung. Wenigen gelingt diese Art flirrenden Kino so gut, wie Lou Ye.
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Mannheim – Venedig oder: Die Modifikation – Wir sind wieder in Venedig. Die Menschen sind braungebrannt, die Frauen (und manche Männer) leicht bekleidet. Das Wetter herrlich, so schwül, dass es sogar den Mücken zu anstrengend ist. Das ist auch körperlich eine ziemliche Umstellung denn nur einen Tag zurück lag der kalte deutsche Regensommer. Für die Filmauswahlsichtung fürs Festival Mannheim Heidelberg, die vergangene Woche stattfand war das ganz passend. Und dann wurde mit zwölfstündiger Zugfahrt alles anders. Ein Wandel der Welt, die über München und Villach immer verschlampter und lockerer wurde – oder soll man sagen: südlicher? – bis zu dem Moment, wo wir in Venedig Mestre ausstiegen, und kein Zug mehr in die Stadt fuhr, auch kein Bus, sondern nur Taxen, die groteske 25 Euro für die kurze Fahrt wollten. Und dann, als wir uns gerade breitschlagen ließen, das zu bezahlen, kam ein Bus, unfahrplanmäßig, eben italienisch aus dem Nichts. Der Fahrer wollte noch nicht einmal Geld, drängelte nur zur Eile und fuhr uns in fünf Minuten zur Piazzale Roma. Dort tuckerte dann die Nachtgondel eine Dreiviertelstunde lang durch ein wunderschön verschlafenes nächtliches Venedig.
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Vor dem Film kam der Trailer der »Giornate«. Gesponsort hat die Firma Luce, also sieht man zur Musik von The Battle of Algiers (von Morricone) alte Schwarzweißaufnahmen: Der junge Bertolucci, ein Fußballspiel, ein Filmset. Schön. Unklar. Eindrucksvoll.
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Wenn man seine Akkreditierung will, und nicht die ausgedruckte Bestätigungsmail vorweisen kann, muss man sich bevor man den Palazzo des Festival betritt, einen Ein-Tages-Pass abholen. Also eine Akkreditierung für das Abholen der Akkreditierung.
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Alles scheint also wie es war, aber nichts ist, wie es gerade noch war. Eine Modifikation des ganzen Leben. Warum schreibe ich hier eigentlich? Und vor allem: Für wen? Natürlich für die, die nicht da sind, sondern weit weg. Für die, die ganz nahe sind. Für Freunde. Für Filmemacher. Auch für die Kollegen. Für Josef Schnelle, der hier ist, und nicht mehr genannt werden will. Für Michael Althen, der leider nie mehr hier sein wird, und doch nicht wegzudenken ist. Für die, die es lesen, und für die die es nicht lesen, für die, die mir daraufhin Mails schreiben, für die, die anderen Mails schreiben, für die, die sich über die Texte freuen und für die, die sich über sie aufregen.
In diesem Sinne: Have fun! Denn wie der gute alte Münchner Kollege Bodo Fründt neulich ganz wunderbar formuliert hat: Ein Filmfestival muss vor allem Spaß machen.
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Venedig, 31.8.2011, erster Tag – In den Abgründen der PR-Gesellschaft »You can start a war, you can bankrupt the country, you can do all possible things, but the only thing, you can’t, is fuck your interns.« – dieser Satz ist es wohl, der die ganze Absurdität des amerikanischen Politikbetriebs auf den Punkt bringt. Er fällt ziemlich gegen Ende von The Ides of March, einem brisanten Politthriller, der zugleich als Satire auf seinen Gegenstand funktioniert. Mit ihm wurden gestern Abend die Filmfestspiele von Venedig eröffnet. George Clooney selbst führt hier nicht nur Regie, er spielt eine der Hauptrollen: Mike Morris, einen Gouverneur der Demokratischen Party, der sich um die US-Präsidentschaft bemüht. In Ohio stehen Mitte März die entscheidenden Vorwahlen an. Die eigentlichen Hauptfiguren des Films sind aber Morris' Berater im Hintergrund: Ein Hochleistungsteam, das den Wahlkampf so effizient und skrupellos führt, wie eine Truppe einen Feldzug, eine verschworene, aber immer durch Interessen bestimmte Gemeinschaft.
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Einmal, da bekommt Ryan Gosling, der in diesem Film Stephen heißt, und die rechte Hand des Wahlkampfmanagers spielt, einen Anruf. Er kommt von seinem schärfsten Konkurrenten, dem Wahlkampfmanager der Gegenseite. Eigentlich dürfte Stephen gar nicht mit ihm sprechen. Erst recht dürfte er nicht auf das Angebot eingehen, sich unter vier Augen zu treffen. In dem Moment, in dem er es doch tut, verharrt die Kamera etwas zu lange auf seinem Gesicht, folgt seinen Blicken durch die Glasscheibe hindurch über den restlichen Raum, auf die arbeitenden Kollegen. Musik aus dem Off setzt ein, zum ersten Mal in dem Film, der da schon eine Viertelstunde alt ist. Und jeder im Zuschauersaal spürt, dass dies ein ganz entscheidender Moment, ja: der entscheidende Moment ist in diesem Film.
Es gibt noch zwei, drei andere Momente in The Ides of March, die ähnlich intensiv, ähnlich aus der Zeit gefallen sind. Und wie er diese Intensität herstellt, den Mut zum Pathos hat, ohne dass der Film nun deshalb pathetisch oder gar kitschig würde, das ist die große Kunst des Regisseurs George Clooney.
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Ziemlich am Anfang spielt und singt ein Barpianist das Lied: »We'll meet again, don’t know where, don’t know when.« Zwei Männer sitzen in der Bar, ihnen gehört später auch die vorletzte Szene des Films. Dann ist alles anders geworden. Es sind der junge PR-Berater Stephen Myers (Ryan Gosling), der wichtigste Mitarbeiter des erfahrenen Wahlkampfmanagers Paul Zara (Philip Seymour Hoffman). Stephen hat sich im Stahlbad des Politik-Geschäfts einen Hauch Idealismus bewahrt. Doch er macht Fehler. Nicht nur, dass er mit der Praktikantin Molly ins Bett geht. Viel schwerer wiegt, dass er in das heimliche Treffen mit dem Wahlkampfmanager der Konkurrenz einwilligt. Nun hat er Pauls Vertrauen verloren und ist erpressbar geworden. Und damit nicht genug: Irgendwann erfährt Stephen, dass Molly auch mit dem Kandidaten Morris etwas hatte – und ein Kind erwartet...
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Immer dichter und komplizierter wird das Netz aus wechselseitigen Intrigen, dass Clooney spinnt. Er zeigt den demokratischen Politikbetrieb durch und durch desillusionierend als Welt, in der verlogene Rhetorik und moralische Korruption den Ton angeben, in der jeder jederzeit stürzen kann, jede Handlung und Äußerung hochgefährlich ist, und in der man manchmal zynisch sein muss, wenn man seine Ideale verwirklichen will. Er schildert Verführung, Manipulation und Verschwörung, die keine der Figuren unberührt lassen – wie in einem Shakespeare-Drama. »Die Iden des März«, das ist natürlich eine Anspielung auf die Geschichte von Julius Caesar, die auch William Shakespeare – des charismatischen Herrschers, der als Retter der Republik begann und als Begründer der Diktatur endete. Mit dem Unterschied, dass man bis zum Schluss nicht sicher ist, wer hier Caesar, wer Brutus und wer Marc Anton ist. Vor allem aber ist dies einer der ersten Filme, die unsere Gesellschaft in ihrem Wesen als PR-Gesellschaft beschreiben, als Welt, in der die PR-Berater, und das »Verkaufen« von Inhalten und Werten wichtiger geworden sind, als diese Inhalte selbst.
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Im Unterschied zu einem Film wie Primary Colors, der vom Clinton-Wahlkampf erzählte, ist hier der Kandidat keine Witzfigur und keine Marionette seiner Ehefrau. Aber er ist auch nicht frei. Er trifft seine Entscheidungen nach den Vorgaben der PR-Consultants.
Nebenbei werden viele zumindest bedenkenswerte Aussagen getroffen: »Wenn man sagt: ›Umverteilung des Wohlstands‹, dann
schreien die Reichen ›Sozialismus‹. Darum sage ich: Ich bin gegen die Umverteilung des Wohlstands – zu den Reichen!« Oder über die Republikaner: »They are meaner, rougher, and more disciplined than we are.«
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»Dies ist kein politischer, sondern ein moralischer Film. Es geht um die Frage, ob man bereit ist, seine Seele zu verkaufen, damit das richtige Ergebnis herauskommt.« Mit offenem Hemd, geschmackvollem mittelgrauen Anzug, genau passend zum aschgrauen Haar, saß George Clooney dann gestern nach der Pressevorführung im alten marmornen Casinobau von Venedig, wo alljährlich die Pressekonferenzen des Filmfestivals stattfinden. Wie gewohnt eloquent und charmant stellte sich der Weltstar den Fragen der Journalisten, antwortete auf Naheliegendes, wie die Botschaft seines neuen Films: »Es ist gerade schwierig, Politik zu machen. Aber das wird sich ändern.« Oder auf Weithergeholtes: Ob er je in die Politik gehen wolle, gar fürs Präsidentenamt kandidieren? »Sehen Sie, Präsident Obama ist sympathisch, sehr klug, leidenschaftlich. Trotzdem ist es ihm fast unmöglich seine Arbeit zu tun. Warum sollte irgendjemand das freiwillig machen? Ich bin mit meinem Beruf sehr zufrieden.«
Bei den Filmfestspielen von Venedig, die gestern Abend mit The Ides of March eröffnet wurden, ist Clooney ein Dauergast, schon mit acht Filmen war er hier. Clooney, bekanntlich Wahlitaliener, Besitzer einer schicken Villa am Comer See und Werbefigur einer Espressofirma, liebt einfach den Lido mit seinem einmaligem Flair aus Fin-de-Siecle-Dekadenz, schwülem Spätsommerstrandleben und quirlig-grellem Yuppietum der Neureichen, die in der mittelalterlichen Finanzmetropole heute die Macht haben. Und dafür lieben ihn die Italiener. Diesmal jedoch ist er in einer besonderen Rolle unterwegs: Als ein Hauptdarsteller, als Regisseur und dann auch noch Stargast zur Eröffnung.
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Venedig, 1.9.2011, zweiter Tag – »Eres un romantico.« meinte Conxita aus Spanien. Ein Kompliment hoffentlich, aber vielleicht auch eine kleine Verarschung. Und das nur, weil ich mich als Fan von Un été brûlant, oute, Philippe Garrels neuem Film im Wettbewerb. Der hat, mehr als alles andere bislang in Venedig, das Publikum sofort in zwei Hälften gespalten: Die Hassenden und die Liebenden. Etwas dazwischen scheint es kaum zu geben, und das spricht, finde ich, doch schon einmal sehr für den Film. Allenfalls Carlos vom BR nimmt die Zwischenposition eines Wohlwollenden, aber Distanzierten ein. Auch wenn ich einige sehr nette Menschen kenne, die mit dem Film gar nichts anfangen können, bin ich ganz froh, dass ich in diesem Fall wieder einmal zu jenen gehöre, die einen Film lieben, und verteidigen können, weil das natürlich im Zweifelsfall die angenehmere Position ist. Dabei hatte ich, vor Beginn der Vorstellung gar nichts erwartet, und mich eher darauf eingestellt, zehn Minuten vor Schluss aus dem Kino zu gehen, um mir Amir Naderis Cut anzusehen. Aber von wegen! Cut muss jetzt bis Samstag warten.
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Der Augenblick, an dem ich sicher war, dass ich den Film toll finde, kam nach etwa drei Minuten. Da sah man Louis Garrel, den Sohn des Regisseurs im Auto, einen großen BMW, sitzen, und nachts über eine Landstraße fahren. Schnitt: Nur die Straße, auf der die Mittelstreifen hinwegzufliegen scheinen, gefilmt durch die Frontscheibe. Wieder ein Schnitt: Eine kurze Großaufnahme des Fußes, der das Gaspedal durchtritt. Schnitt: Das Gesicht von Louis Garrel, mit Tränen in den Augen. Und dann unverhofft ein lauter Knall. Es knallt richtig. Der Knall war so laut und so echt, so metallen und berstend und grob, so laut und böse, wie man es seit Jahren nicht im Kino gehört hatte. So und nur so muss es klingen, wenn einer sein Auto mit voller Wucht gegen einen Baum fährt. Dann setzt zum ersten Mal die Erzählerstimme ein aus dem Off: »Mon ami Frederic est mort.«
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Alles ist ssoooo old school: Garrel, sein ganzer Ansatz, die Haltung dieses Films. Der nahezu völlige Verzicht auf Plot. Der nahezu völlige Verzicht auf Psychologie. Die ganze Chuzpe, mit der hier einer einen persönlichen Film dreht und einfach macht, was er will, was ihn interessiert. Mit der er sich um das Publikum nicht schert. Warum gehe ich sonst ins Kino? Damit jemand versucht, es mir mit allen Mitteln recht zu machen, es einfach zu machen. Doch wohl eher damit mich jemand überrascht und überfordert.
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Dies ist erstmal nicht Überbau, sondern Basis: Das Material und seine Plastizität. Die Farben. Das Material ist Film, offenbar alt, oder jedenfalls in einer Weise aufgenommen, die sofort ins Auge sticht, sich sofort erkennbar macht, deutlich werden lässt, dass hier etwas anders ist, als in den ganzen Filmen zuvor, die mit tollen Digitaldingern gedreht wurden und jetzt aber wirklich »fast wie Film« aussehen. Warme Farben, grobe Körnung, unmittelbar erkennbare Textur. Dazu gehört auch eine sehr konsequente Farbdramaturgie, die gar nichts mit Story zu tun hat, sondern mit Stimmungslage und Atmosphäre. Alles hier ist blau, grün, schwarz, grau. Genauer: Blaugrau, grüngrau, grauschwarz. Azuloscurocasinegro hieß mal ein Film vor Jahren, daran musste ich denken. Darum fällt jedem im Saal auf, wenn es doch mal anders ist: Rot. Hautfarben. Nie aber Gelb.
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Was man auf der Leinwand sieht, ist dann ziemlich erratisch: Rückblick vor die Zeit des Unfalls zu Beginn. Tolle, aber zunächst unverbundene Szenen. Louis Garrel, der einen Maler spielt, auf der Couch, voller Ennui. Der Erzähler, ein Schauspieler, auf einem Film-Set. Der Film, der gedreht wird, geht um die Resistance. Resistance-Mädchen in Uniform. Geballer. Der Schauspieler ist jetzt mit einem der Mädchen zusammen. Sie heißt Elisabeth, sagt Sätze wie »If a man has no money, a woman doesn’t want to be with him.« oder »I don’t need much. I need to be loved.« und erzählt, sie habe ein paarmal versucht, sich umzubringen. Was mit einem macht, dass man dann ab sofort ganz anders auf die Figur blickt.
Der Schauspieler verteilt irgendeine Revoluzzer-Zeitschrift: »Insurrection«. Eine tolle Kamerafahrt, die zurückführt, von leicht links einschwenkend geradeaus, wonach ein paar Zivilpolizisten Immigranten festnehmen. »Fucking Sarko!« Frauen beim Kleideranprobieren, da taucht im Kleiderschrank eine Ratte auf – ein gut funktionierender Schockmoment.
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Was sie allmählich herauskristallisiert: Garrel erzählt von zwei gebildeten Bürgerpaaren. Das eine ist der Maler Frederic, der mit einer älteren italienischen Schauspielerin (Monica Bellucci) liiert ist. Sie werden in Rom besucht von dem Erzähler Paul und Elisabeth, die im Filmset zu Beginn die Resistance-Chick spielte. Sie verbringen einen Sommer miteinander. Eine Story gibt es ansonsten kaum, stattdessen sieht man in »typisch französischer« Manier schöne Menschen essen, denken und vor allem viel reden. Sie sprechen zum Beispiel über Kunst und über Revolution. »I need the hope.« sagt Paul, der für Revolution ist. »Ohne Hoffnung kämpft man nicht.« Dem Hinweis auf Millionen Tote begegnet er mit der Bemerkung, in Zukunft werde das anders sein. Und weiter zu Frederic: »Du kannst nicht gegen Revolution sein. Dann wärst Du ein Reaktionär, fast ein Faschist.« Ich bin nur für Love and Art erwiedert dieser. Es sei doch »evident, dass es keine Alternativen« gebe. Die Generation des Großvaters habe »noch eine Wahl« gehabt. Auch die Wahl zwischen Hitler und Stalin sei eine echte Alternative gewesen. Und so wird der Film unter der Hand zum Portrait einer Generation, der die Ideale abhanden gekommen sind – und der ihrer Großväter, die in der Resistance gegen die Nazi-Besatzer kämpften.
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Er wird auch zur Reflexion über Liebe und Beziehungen, über bürgerliches Leben heute, oder das, was man dafür hält. Ist Treue etwa kein »outdated petit-bourgois concept«? Am Ende verlässt die Italienerin den Maler für einen anderen, und der will nicht mehr leben. Garrel ist möglicherweise ein Macho, und er glaubt ganz offensichtlich, dass Männer Männer sind, Frauen Frauen, er hat eine altmodische Geschlechtertheorie. Aber: who cares? Genauso wie des unwichtig ist, dass das Drehbuch zusammen mit Caroline Deruas geschrieben wurde, Garrels Frau. Vor allem ist das ein Film über Schönheit, Tränen, Liebe, Leben, Sinn.
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Das einzige Problem ist Monica Bellucci. Bellucci ist fast unerträglich anzusehen in ihre affektierten Art, und da hilft auch nicht, dass einem schon klar ist, dass man es hier eher mit einem filmischen Zeichen für »Superweib« zu tun hat, als mit einer Schauspielerin. Trotzdem ist der Film gut.
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Der 1948 geborene Garrel zieht in Un été brûlant eine Summe der Ideenkämpfe seiner Generation, die sehr persönlich ist: So hat nicht nur sein Sohn, sondern auch sein Vater Maurice einen Auftritt: In einer berührenden Szene, deren Charakter – dokumentarisch oder nicht – nicht ganz klar ist, erzählt der 1923 geborene, im Juni verstorbene berühmte Schauspieler unter anderem in Filmen Truffauts und Sautets von einem Resistance-Gefecht, bei dem er »nur durch Glück« überlebte. »Unsere Leben hängen von beinahe nichts ab.« Er versucht den Enkel in seinem Liebeskummer zu trösten, und erklärt ihm, er werde andere finden. Eine klare, aber folgenlose Zurückweisung der Amour Fou. Und fällt gegen Ende fällt noch der schöne Satz: »En amour, c'est chacun en soi.«
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Kalt gelassen hat mich im Vergleich dazu der neue Film von Roman Polanski. Man kann ihn sogar ganz gut mit Un été brûlant vergleichen. Denn auch darin geht es um bürgerliche Befindlichkeiten und die Wertekrise des Westens. Carnage ist eine Verfilmung des derzeit sehr angesagten Theaterstücks »Der Gott des Gemetzels« von Yasmina Reza, und trumpft vor allem mit seiner Starbesetzung auf: Kate Winslet (die hier in gleich drei Filmen zu sehen ist) und Christoph Waltz, Jodie Foster und John C. Reilly spielen zwei gutsituierte Ehepaare, das eine mehr linksliberal, das andere reaktionäre Yuppies, die sich nach einer Schlägerei ihrer beiden Söhne zu einem freundlichen Schlichtungsgespräch treffen. Dies eskaliert zunehmend a l.a »Wer hat Angst...« – es wird geflucht, geschrien, gekotzt. Letzteres in der schönsten Szene auf die Bücher der Hausherrin, was diese natürlich mehr mitnimmt, als alle Gemetzel der Kinder. Bald bröckeln die Fassaden der Gutbürgerlichkeit an jeder Ecke. Das Wohnzimmer wird zur Druckkammer. So sehr einem die Künstlichkeit des Spiels und die Hysterie der Dialoge auf die Nerven gehen kann, so sehr überzeugt der Film als Portrait des Mittelstandes in der Krise. Politisch ist das alles billig – kann diese letztendlich billige bürgerliche Selbstkritik und die Verachtung progressiver Werte noch wirklich interessieren? Überzeugt das Gewettere gegen Doppelmoral, gegen verratene Ideale? Die Gleichmacherei zwischen Rechts und Links ist zumindest unpräzise. Denn zwischen Reaktionären und Progressiven gibt es bei allen Gemeinsamkeiten eben doch noch viele Unterschiede. Da Jodie Fosters Figur als liberale Verfechterin von Moral und »Political Correctness« zudem die unsympathischte Figur ist, beschleicht einen der Verdacht hier räche sich Polanski auch stellvertretend ein wenig am Prototyp jener, die ihn vor eineinhalb Jahren gern im US-Gefängnis gesehen hätten – an der phallischen Frau an sich. Die zu verachten macht Foster einem leicht: Mit verkniffenen Lippen, boshaft und selbstgerecht und hysterisch ist sie so unangenehm, wie zuletzt 1997 in Contact. Was bleibt ist ein sehr gut gemachter, übrigens auch lustiger, aber unendlich kühler Film, der mit den stilistischen Vorlieben letztendlich alle Ansichten und Vorurteile seines Publikums bestätigt, anstatt sie herauszufordern.