Cinema Moralia – Folge 131
Das zweite Gehirn des Gegenwartskinos |
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Öffnet das Herz aller Kino- und Hundeliebhaber: Laurie Andersons Heart of a Dog | ||
(Foto: Arsenal Filmverleih) |
»No one stays good in this world.« – Batman v Superman: Dawn of Justice
Es ist eine Schande: Alle Feuilletons schreiben letzte Woche über Zack Snyder, keines über Laurie Anderson. Was läuft falsch bei uns, dass die Theater- und Musikberichte so niveauvoll sind, die Filmkritik ihr Selbstverständnis aber größtenteils am geistigen Prekariat ausrichtet?
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»Wouldn’t it be great to have a second brain? Or a reserve-heart? They would drop down into place, when the first one – breaks...« Wäre es nicht toll, ein zweites Gehirn zu haben? Oder ein zweites Herz, das dann zum Einsatz käme, wenn das erste gebrochen wurde?
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Es ist ein ebenso poetischer wie philosophischer Text, den wir hier hören. Gesprochen wird er von Laurie Anderson, der New Yorker Musikerin und Performance-Künstlerin: Heart of a Dog heißt Andersons überhaupt erst zweiter Kinofilm, der gerade ins deutsche Kino gekommen ist. Anderson hat darin Regie und Kamera geführt, und sie hat den Erzähl-Text nicht nur geschrieben, sondern selbst gesprochen.
Inhaltlich schwer zu fassen, ist Andersons Film ein gedankliches Flanieren durch die Gegenwart: Die Künstlerin erzählt von dem durch Homeland-Security und Anti-Terror-Hysterie geprägten Post-9/11-Amerika, sie berichtet Episoden aus ihrer eigenen Biographie und der ihres verstorbenen Lebensgefährten Lou Reed, die zu einer Reise durch die Popkultur der letzten 40 Jahre gerät; und sie versucht auf unsere Menschenwelt so zu blicken, wie diese möglicherweise in den Augen eines Hundes, ihres Hundes, erscheinen könnte.
Heart of a Dog ist somit vieles – auch Widersprüchliches – zugleich; zusammengehalten aber wird Andersons bezaubernder Film dadurch, dass er ein Nachdenken über das Sehen, über das Erfahren und über das Erzählen als solches ist.
Und eine kluge Reflexion der Natur des Erzählens: »And that’s what I think is the creepiest thing about storys: You try to get to the point
you are making, usually about yourself or something you learned. You get your story and hold on to it. And every time you tell it, you forget it more.« Jedes Mal, wenn man eine selbsterlebte Geschichte erzählt, so erfahren wir, vergisst man mehr von ihr. Geschichtenerzählen habe mit Design, mit Aufräumen und mit Vergessen zu tun.
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Was ist das aber nun für ein Film? Ein Spielfilm ist es schon mal nicht, auch wenn manches inszeniert ist, und der ganze Film die Wirklichkeit gestaltet. Aber es gibt weder Darsteller noch eine fiktionale Geschichte im herkömmlichen Sinn, die von dramaturgischem Plotpoint zu Plotpoint hüpft, und in drei oder fünf Akte gegliedert ist. Ein klassischer Dokumentarfilm ist dies aber auch nicht, denn wenn Anderson überhaupt etwas dokumentiert, dann ist ihre eigene, höchst-persönliche Weltsicht. Mit all jenen Regeln, die angehende Filmemacher auf der Filmhochschule als angebliches ABC des Kinos eingebläut bekommen, wird hier produktiv gebrochen.
Trotzdem oder gerade deshalb ist Heart of a Dog aber glänzendes Kino, das erfrischend mit den Konventionen und Konfektionen des Kinoalltags bricht, oder sie gleich ganz ignoriert.
Denn Heart of a Dog ist nicht zuletzt eine melancholisch gefärbte Feier des Kinos und seines Reichtums,
seiner Vielfalt, die im Alltag der über ein Dutzend Filmstarts pro Woche so oft in Gleichförmigkeit mündet. Laurie Anderson, die im Kino vermeintlich unerfahrene New Yorker Musikerin und Performance-Künstlerin, fordert das Kino heraus – und damit uns, das Publikum, mit unseren Sehgewohnheiten.
Kino als Reise in eine andere Welt, als Traum, als offene Meditation, als Mittel, um uns gegen allen Eskapismus die Augen zu öffnen – das sieht man viel zuwenig im
Gegenwartskino. »To live in a gap between the moment that is expiring and the one that is arising. And when you close your eyes, what do you see? Nothing. Now open them!«
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In alldem folgt Anderson einem Trend, der zuletzt das Weltkino auffallend bereichert: dem Trend zum Essayfilm. Essayfilm, was soll das sein? Der Begriff ist gar nicht so selten, aber kaum etwas findet man bei einer Recherche zu diesem Thema.
Spontan fallen mir zum Stichwort vor allem Franzosen ein: Chris Marker (mit La Jetée und Sans soleil), Jean-Luc Godard eigentlich mit allen seinen Filmen, aber jedenfalls mit Histoire(s) du Cinéma und denen der letzten zwei Jahrzehnte. Alain Resnais mit Nuit et brouillard. Dann ein Deutscher: Alexander Kluge immer, Dominik Graf mit seinen
Dokumentarfilmen.
Im Netz finde ich ausgerechnet bei Moviepilot eine gar nicht so schlechte Umschreibung: »Der Essayfilm – Autorenkino zwischen Spiel- und Dokumentarfilm. Essayfilm, der 'intellektuellen Bruder' [sic!] der Dokumentation arbeitet sich an kulturell Vorgeformten ab, mit aktuellen und überlieferten Bild- und Tonquellen. Fiktionale und erzählerische Elemente können vorkommen. Häufig werden theoretisch-abstrakte Begriffe behandelt. Der Argumentcharakter überlagert
die dokumentarischen Eigenschaften. Typischerweise stellt er einen überpersönlichen, räumlich und zeitlich unbegrenzten Zusammenhang dar. Er arbeitet mit Polarisierungen und Analogien, ist oft nach dem Prinzip der Reihung strukturiert oder folgt Assoziationen und Kontrasten.«
Das ist nicht schlecht, klingt aber viel zu negativ und schwerblütig. Vollkommen ausgeblendet ist das Schöne, Poetische des Essayfilms.
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Essayfilme mischen Fakten und Fiktion, es können Spielfilme wie Dokumentarfilme sein, wobei das Dokumentarische überwiegt. Ihnen allen gemeinsam ist nur zweierlei: Erstens, dass sich Fakten und Fiktion verbinden, dass Welt und Phantasie in den Bildern zusammenmontiert werden – mal schräg, enigmatisch und versponnen, mal assoziativ den Einfällen des Augenblicks folgend, mal klar und deutlich mit geradezu wissenschaftlicher Akuratesse argumentierend und für jeden
nachvollziehbar.
Zweitens der subjektive Zugang, die persönliche Handschrift, der eigensinnige Zugriff auf die Welt – oft genug wird er dadurch beglaubigt, dass der Filmemacher mit seiner eigenen Stimme im Film zu hören ist.
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So wie bei Anderson. Ähnlich tat es erst vor wenigen Wochen der Russe Alexander Sokourov in seinem hochkomplexen Francofonia über die Geschichte des Louvre, besonders in der Zeit der Nazi-Besatzung von Paris, und über das Schicksal der Kunst im Krieg.
Ähnlich tat es auch Dominik Graf in seiner gemeinsam mit Johannes Sievert entstandenen, glänzend eigensinnigen und am Ende sehr sehr
persönlichen deutschen Filmgeschichte Verfluchte Liebe deutscher Film (im Berlinale-Forum) über die Gegenbewegung zur Gegenbewegung des Oberhausener Manifests.
Und wieder ähnlich tat es – auch auf der Berlinale – der Italiener Gianfranco Rosi mit seinem Wettbewerbs-Gewinnerfilm Fuoccoamare, der von den Flüchtlingen auf
Lampedusa erzählt, indem er sie fast gar nicht zeigt – dafür die Kinder der Mittelmeerinsel, die seekrank sind, die Fischerfamilien und Ärzte, die mal den Kindern eine Brille verschreiben, und zwei Stunden später Flüchtlingsleichen obduzieren.
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Allen diesen Beispielen gemeinsam ist ein Gefühl und eine Haltung: Der Überdruss an den konventionellen Dokumentarfilmen und der billigen Scheinobjektivität des Reportagekinos, das Wahrheit suggeriert, wo doch jeder weiß, dass es das im Kino so einfach gar nicht geben kann. Und das sich Fragen nach Stil, Gestaltung und ästhetischer Moral kaum noch stellt.
Dann doch lieber die erklärte Subjektivität des essayistischen Kinos: Voller persönlicher Obsession und
individueller Neugier.
So wird der Essayfilm gerade zum zweiten Gehirn des Gegenwartskinos: Getränkt im aufgeklärten Wissen um die eigenen Grenzen. Oder, mit Laurie Anderson formuliert: »I wanna tell you a story – about a story. And it’s about the time I discovered, that most adults have no idea what they are talking about.«
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Da werden sie sich beim NDR die Hände gerieben haben: Boah, ey – unverhofft hatte die »extra3«-Satire »Erdowie, Erdowo, Erdogan« ins Schwarze getroffen. Die Episode um die absurde Reaktion der türkischen Regierung und Erdogans Wut belegt vor allem die Macht der Satire. Derartige Scherze sind für die Machthaber gefährlicher als Analysen und Kommentare.
Zugleich werfen die Ereignisse ein Schlaglicht auf das in der Türkei dominierende Verständnis von Pressefreiheit und
die nicht vorhandene Streitkultur im politischen Betrieb der Türkei. Das Erste für die Freiheit der Kunst – das ist doch mal was.
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Grund sich allzu lang selbst zu feiern haben sie bei der ARD aber nicht. Im Saab Cabrio mit langen Haaren fuhr Heike Makatsch in Freiburg ein – Anlass: Ein sogenannter »Event-Tatort«, also ein einmaliger Star-Auftritt. Jetzt also auch Heike Makatsch. Gottlob ist alles so schlecht gelaufen – Presse, Quoten, Handwerk – dass man eine Wiederholung nicht fürchten muss. Aber warum ist so ein Film überhaupt möglich: Alle schwäbeln, was in Freiburg schon mal definitiv nicht der
Fall ist. Makatsch spielt eine extrem schlecht gelaunte Nervbacke und Ödzicke von Kommissarin, der man wünscht, dass sie gleich beim ersten Einsatz erschossen wird. Und kann bitte auch mal ein Kommissar nicht traumatisiert sein? Einmal eine nicht seit 15 Jahren nicht mehr mit der Mutter gesprochen haben? Hallo! Gleich nicht gesprochen, nicht nur schlechtes Verhältnis.
Im Deutschlandradio resümiert Matthias Dell: »Herausgekommen ist ... eine Episode, die alles andere als besonders
ereignisreich ist. Die Integration einer mit gewissem Glam behafteten Schauspielerin wie Heike Makatsch wirkt im Gegenteil wie die unoriginelle Variation des Lena-Odenthal-Standards.
Der Fall erschöpft sich in trostlosem Aufgesage von Informationen, die Makatschs Kommissarin von A nach B tragen muss und darüber jede Chance verpasst, ihrer Figur Profil zu verleihen. ... So bleibt als Innovationsleistung des Einmal-›Tatort‹ der lässige Berliner Schick von
Makatsch, die mit Joschka-Fischer-Gedächtnisturnschuhen durch Freiburgs Straßen spaziert. Eine Fortsetzung von Makatschs Engagement erschiene nach ›Fünf Minuten Himmel‹ eher wie eine Drohung.«
Und dann noch als Regisseurin Katrin »kriegt die nen Tatort?« Gebbe, deren miserabilistischer Cannes-Beitrag Tore tanzt
vor zwei Jahren auch einer der Tiefpunkte internationaler
deutscher Filmauftritte der letzten Jahre war. Man muss sich das wohl so vorstellen: Da denkt der zuständige Redakteur: »Hey da holen wir uns so ne richtig coole junge Regisseurin.«
Aber wenn du denkst, dass du denkst, dann denkst du nur, du denkst...
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An den nächsten Tagen läuft jetzt endlich mit großem Vor-Aplomb die einfühlende Verarbeitung des NSU-Terrors. In drei Teilen wechselt »Mitten in Deutschland: NSU« die Perspektiven: Die Täter; die Opfer; die Ermittler. Bevor ich die Filme gesehen habe, stellt sich schon mal eine Frage: Warum wird die Geschichte der Täter von einem Ostdeutschen (Christian Schwochow), die der Opfer von einem Deutschtürken (Züli Aladag) und die der Ermittler von einem Westdeutschen (Florian Cossen)
verfilmt? Ist die Auswahl der Regisseure eigentlich irgendeinem aufgefallen, oder war es gar Absicht? Und wenn es Ansicht war, ist das dann politisch besonders korrekt, oder eher inkorrekt oder gar eine Form von – jetzt nicht missverstehen! – Rassismus?
Man ist ja sonst gern – siehe Pro Quote – sensibel neuerdings. Die Begründung, die Rainer Gansera in seiner Filmdienst-Ankündigung gibt, muss man wohl nicht ernst nehmen: Die Regisseure hätten »eigene
autobiografische Erfahrungen ins jeweilige Thema einbringen können.« Haha – war Schwochow jetzt Neonazi, Cossen BKA-Ermittler und weiß Züli Aladag als Deutschtürke ja eh, wie man sich fühlt, wenn der Vater ermordet wird?
Was da alles an Unbewußtem und Vorurteilen mitschwingt, geht auf keine Kuhhaut.
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Jeden Abend vermelden die Hauptnachrichten die Börsenkurse. Man sollte daneben vielleicht auch mal die täglichen Verkehrstoten aufzählen. Da käme man am Tag auf eine Summe von durchschnittlich 9,5 Todesopfern, am manchen schlimmen Tagen deutlich mehr.
Das alles relativiert nicht einen einzigen Toten des Terrors, denn Leben ist nicht aufzurechnen. Sehr wohl aber relativiert es die Gesamtzahlen und die hysterischen Reaktionen der Öffentlichkeit, etwa nach Brüssel. Für
jemanden, der in Israel lebt, von den Bürgern Syriens nicht zu reden, erscheint die Angst und die Hysterie Europas im Effekt in erster Linie zynisch. Guten Morgen, Europa, auch schon wach?
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»achtung berlin«, aber ohne Ausrufezeichen, das ist nicht die tägliche Terrorwarnung, sondern ein Festival, das seit 12 Jahren in der Hauptstadt um Anerkennung strampelt. Zu mehr als zu höflicher Kenntnisnahme wird es auch diesmal nicht langen, aber immerhin möchten wir darauf hinweisen, dass es dort eine Retrospektive gibt, die sich in diesem Jahr der Mode widmet. Zu sehen sein werden Werbefilme, Wochenschaubeitrage sowie Spiel- und Dokumentarfilme, aber auch Entdeckungen aus den Archiven.
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Ken Adam (5.2.1921-10.3.2016) ist tot. Der Filmdienst schreibt dazu: »Dass ein fürs Kino tätiger Szenenbildner Berühmtheit erlangt, hat Seltenheitswert: Ken Adam, so dürften sich viele erinnern, das war doch der, der den War Room für Stanley Kubricks ›Dr. Seltsam‹ (1963) schuf und vielen ›James Bond‹-Filmen zu ihrem markanten Aussehen verhalf. Darüber hinaus war Adam zwischen 1948 (›This Was a Woman‹) und 2001 (›Taking Sides – Der Fall Furtwängler‹) am Design von mehr als 50 weiteren Filmen beteiligt, prägte das düster-stilisierte Musical ›Pennies from Heaven‹ (1981), gestaltete das Aussehen von ›Salon Kitty‹ (1975) und ›Sleuth‹ (1972), erhielt jeweils einen ›Oscar‹ für ›Barry Lyndon‹ (1975) und ›The Madness of King George‹ (1994). Geboren in einer großbürgerlichen jüdischen Berliner Familie, musste er nach 1933 emigrieren. Anfang der 1950er-Jahre kam er zum Film und wurde zu einem der bedeutendsten Production Designer des 20. Jahrhunderts. Sein gesamtes Archiv schenkte er 2012 der Deutschen Kinemathek, das inzwischen online zugänglich ist: ken-adam-archiv.de«
(to be continued)