23.02.2017
67. Berlinale 2017

Die Unfähig­keit, Kritik zu ertragen

Pressekonferenz mit Hong Sangsoo
Die Berlinale hat es diesmal mit dem Embargo für Berichterstattung übertrieben. Hier die Pressekonferenz mit Hong Sangsoo.
(Foto: Dunja Bialas)

Fehlende Streitkultur: Gängelung, Einschüchterung, Zensurversuche und die gegenseitige Gereiztheit – Berlinale-Tagebuch, Folge 14

Von Rüdiger Suchsland

Das Über­ra­schendste ist eigent­lich, wie über­rascht alle sind. Die Berlinale ist schlecht, ja, und sie ist in den letzten 15 Jahren immer schlechter geworden, richtig herun­ter­ge­kommen zu einer billigen Boutique, das stimmt.
Plötzlich merken es alle. Plötzlich hat das schon länger verhee­rende inter­na­tio­nale Echo und das seit Jahren gras­sie­rende Gemecker der profes­sio­nellen Berli­nal­ebe­su­cher die Bran­chen­zirkel verlassen, und auch die deutschen »Quali­täts­me­dien« erreicht. Sogar, in wohl­do­sierter Form, die Haupt­stadt­presse, die immer noch glaubt, sie muss hier einen auf Lokal­pa­trio­tismus machen und ja nichts gegen »unsere Berlinale« sagen. Die Profi­teure dieser Haltung waren bislang die, die mit der Berlinale umgehen als sei es ihr Privat­ei­gentum, und die sie herun­ter­ge­wirt­schaftet haben wie nach­läs­sige Erben.
Aber viel­leicht geht das ja nicht mehr so lange gut. Viel­leicht erkennen die Besucher und die verant­wort­liche Politik, dass die Berlinale nicht einigen wenigen gehört, sondern dem deutschen Film und seinem Publikum, und dem Kino als solchem.
Inzwi­schen haben also auch die Aller­letzten gemerkt, wie schlecht die Berlinale ist, und dass dies nichts mit einzelnen Jahr­gängen zu tun hat, sondern System ist.

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Der Berlinale fehle Adrenalin, schreibt die »Süddeut­sche Zeitung« heute zum Abschluss. »Nicht, dass im Wett­be­werb 2017 nur schlechte Filme gelaufen wären, aber ... ein OK-Gefühl, das reicht natürlich nicht aus für den Wett­be­werb eines A-Festivals, wo man die magischen Film­mo­mente erleben möchte, wegen denen man überhaupt ins Kino geht.« Die SZ moniert »Behä­big­keit«, »Dienst nach Vorschrift«; der Tages­spiegel »deutliche Ermü­dungs­er­schei­nungen«, einen »Wett­be­werbs­jahr­gang, der zum Schluss hin immer weniger über­zeugte. (...) Grund­sym­pa­thi­sche, verdienst­volle, aber irgendwie auch wenig nach­hal­tige Filme«, wobei immer wieder nur über den Wett­be­werb geschrieben wird, als ob der das Wich­tigste bei der Berlinale wäre.
»Es stimmt etwas nicht mehr mit dieser Berlinale«, war in der »Welt« zu lesen, »ein Festival lebt von der Vorfreude, von dem Kribbeln, diesen oder jenen Film unbedingt sehen zu wollen ... Diesmal war da kein Kribbeln. Es hat auch die vorigen Jahre schon wenig gekrib­belt, aber da ragten immer ein oder zwei Leucht­türme hervor, die das Mittelmaß vergessen ließen.« »Der Berlinale-Wett­be­werb ist kein Aushän­ge­schild mehr. Man versteht die Auswahl­po­litik immer weniger.« »Das Schweigen der Filme«, beklagt »Die Zeit«, die FAS das allen­falls »durch­wach­sene Programm«, die FAZ: »Es war ein mittel­mäßiger Wett­be­werb. Das ist bei der Berlinale nun schon seit vielen Jahren so und wird vorher und nachher so laut beklagt, dass 'passabel' fast schon als Güte­siegel durchgeht. ... Fehlte der Berlinale ein unbe­strit­tener Höhepunkt? Unbedingt. Könnte man sich eine elek­tri­sie­ren­dere Veran­stal­tung vorstellen? Sicher – aber nicht mit gut vier­hun­dert Filmen in mehr Sektionen und Kinos, als zu über­schauen sind. Könnte das Festival frischen Wind vertragen? Natürlich. Seit zwanzig Jahren ist das so...«
Vom Schimpfen in den sozialen Netz­werken mal ganz abgesehen.

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Dagegen steuert eine PR- und Marke­ting­ma­schine an. In erster Linie geht es darum, die unzäh­ligen Jour­na­listen unter Kontrolle und ein bisschen im Zaum zu halten, von denen man einer­seits Berichte will, aber möglichst gefällige, positive, liebes­die­ne­ri­sche. Recht gut bildet das Verhältnis jene »Pres­se­wand« ab, wo normale Besucher und Medi­en­ver­treter die Texte ihrer Kollegen lesen können. Kritik, auch nur einge­schränktes Lob will man da nicht. Sondern nur Jubel­per­serei. Auch von mir waren da früher schon Artikel angepinnt, aber nie die, in denen ich mich zum Beispiel über den Verfall des Forums, das längst seinen einstigen Eigensinn verloren hat, ausge­lassen habe.
Und da stehen dann natürlich auch infor­ma­tive Über­blicke, die Lust machen sollen, den einen oder anderen Film zu besuchen. Zum Beispiel den vom tollen Kritiker Claus Löser in der »Berliner Zeitung«. Er stellt die von Linda Söffker geleitete, dem deutschen Nach­wuchs­film vorbe­hal­tene Sektion »Perspek­tive« vor, in ziemlich wertender Form: Das Programm »geht filmisch mal mehr, mal weniger gut auf« heißt es einlei­tend. An einem Film bemängelt Löser den »unselig-kitschigen« Epilog. Später ist im Vergleich mit Felicitas Sonvilla Tara von den »Defiziten anderer Arbeiten« die Rede. Sein Fazit ist gar nicht positiv: »Leider zielen viele Regis­seure des aktuellen Perspek­tive-Jahrgangs zu stark auf Ober­flächen­reize. Sie wollen schon als Studie­rende möglichst sofort sende­fähige Langfilme produ­zieren, die dann doch mehr nach Bild­schirm als nach Leinwand aussehen.«
Lösers Text enthält auch diverse Inhalts­an­gaben.

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Das schreibe ich so ausführ­lich, weil die Berlinale mit zweierlei Maß misst. Nicht nur, dass die Berlinale für Jour­na­listen das unan­ge­nehmste aller halbwegs ernst­zu­neh­menden Festivals ist; abgesehen davon, dass die Filme im Durch­schnitt einfach zu schlecht und viel zu irrele­vant sind, und dass man nicht weiß, wie man sich im Wust der über 400 Filme zurecht­finden soll, abgesehen von den entwür­di­genden Umständen im Pres­se­raum, der viel zu klein ist, zu warm, und einfach nur ein Spiegel der Gering­s­chät­zung der Film­kritik durch das Festival – abgesehen von alldem ist die Berlinale auch unklar und unfair in ihrem Umgang mit der Presse. Das reicht bis zur Gängelung von Bericht­erstat­tern durch die Pres­se­ab­tei­lung der Berlinale. Viele Kollegen – und leider sind nicht alle mutig – haben sogar den Eindruck, hier würde versucht, Berichte zu zensieren, oder es würde mit zweierlei Maß gemessen, oder über Bande gespielt, nach dem Motto: Wenn ich den Chef­re­dak­teur treffen will, dann schlage ich seinen Mitar­beiter.

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Jüngste Beispiel hierfür: Der Streit mit den Kollegen von »critic.de«. Wer das im Einzelnen nachlesen will, kann es hier tun. Es wurde versucht, einen kriti­schen Artikel unter dem Vorwand, er breche mit dem Embargo, zu unter­drü­cken, und ihn wieder aus dem Netz nehmen zu lassen.
Fazit der Redaktion: »Die Berlinale baut ihre Bericht­erstat­tungs­ver­bote aus und drohte critic.de zeit­weilig mit Akkre­di­tie­rungs­entzug, wenn ein negativer Vorab­be­richt nicht umgehend von der Seite entfernt wird.«

Der zentrale Punkt ist erstens: Durch diesen sinnlosen Streit führt die Berlinale Pres­se­ab­tei­lung erstens dem inkri­mi­nierten Text nur noch höhere Aufmerk­sam­keit zu. Zweitens: Keine Festival-Pres­se­ab­tei­lung leistet sich auch nur annährend ähnliche Gänge­lungen und Beschrän­kungen der Bericht­erstat­tung. In Cannes etwa berichtet man selbst­ver­s­tänd­lich sofort nach der ersten Pres­se­vor­füh­rung – ein Embargo gibt es dort nicht.

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Leider ist die mögliche inter­es­sante Debatte darüber in eine völlig falsche Richtung geglitten, weil Film­kri­tiker Daniel Kothen­schulte erst eine Debatte darüber entfes­selte, ob Online-Medien, die ihre Autoren nicht bezahlen, der gedruckten »Qualitäts«-Presse das Wasser abgraben – einer gedruckten Presse, die in vielen Fällen ihre Autoren schlecht bezahlt, und außerdem in bestimmten Fällen noch unter dem Deck­mantel angeb­li­chen »Leis­tungs­schutz« auch »für alle zukünf­tigen Medien« ausbeutet. Das hatte schon nicht mit dem Thema zu tun, und klang wie: Online darf man zensieren, mich aber nicht.
Dann führte Kothen­schulte, einst verant­wort­li­cher Film-Redakteur der »Frank­furter Rundschau«, noch aus, dass er heute nicht mehr für die Film­ver­gabe verant­wort­lich und kein Redakteur mehr sei – ließ diese längst öffent­liche Infor­ma­tion aber wieder löschen. Dass critic.de das getan hat, und dann auch in den entspre­chenden Antworten anderer die sich darauf bezie­henden Passagen mit dem Hinweis à la »Der erste Satz dieses Kommen­tars wurde auf Wunsch von D. Kothen­schulte gelöscht« quasi schwärzte, war kein Glanz­stück. Im Zusam­men­hang mit dem Fall versuchter Einschrän­kung von Bericht­erstat­tung des eigenen Textes gibt diese Art der Selbst­zensur insgesamt zu denken.

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Zwei andere Beispiel, nicht vergleichbar, zeigen immerhin, dass das Ergebnis solcher Pres­se­po­litik eine allge­meine Gereizt­heit ist, die dann die Kritik auch mal übers Ziel hinaus­schießen lässt. Harald Mühlbeyer wollte Algol in der Retro­spek­tive besuchen. Er kam nicht rein und schließt daraus: »Die Berlinale will nicht, dass Sie etwas von diesem Film erfahren.« So weit würde ich nicht gehen. Ich glaube der Berlinale ist es wurscht. Das passt zum allge­meinen Zynismus und zur Wursch­tig­keit dieses Festivals
Mühlbeyer hat ganz recht: »Die Berlinale vergibt an Akkre­di­tierte ganz gerne mal vergif­tete Geschenke. Beispiels­weise: Freier Zugang im Zeug­haus­kino mit Akkre­di­tie­rung ohne Karten holen zu müssen. Hört sich super an. Klappt aber seit Jahren nicht. Denn in den nicht einmal klein­ge­druckten, sondern völlig unaus­ge­spro­chenen Bedin­gungen steht geschrieben: Das gilt nur für die ersten 25 mit Akkre­di­tie­rungs­badge. Wenn man 30. ist, dann kommt man nicht rein. Kann nix sehen und nix hören und nix schreiben, und Sie gehen leer aus. Jeder retro­in­ter­es­sierte Akkre­di­tierte weiß es, das Zeug­haus­kino weiß es, die Retro­ver­ant­wort­li­chen wissen es – das System funk­tio­niert nicht!« Und weiter, leider auch ganz richtig: »Was soll man auf der Berlinale machen, wenn man plötzlich vom Festi­val­di­rektor persön­lich zwei freie Stunden geschenkt bekommt, in denen kein Film und kein gar nichts lockt? Man stirbt vor Lange­weile.«

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Das zweite Beispiel: Ein hunds­mi­se­rabel geschrie­bener, von völliger Kennt­nis­lo­sig­keit und mangelndem Anstand strot­zender Text des in Berlin lebenden Mode-Philo­so­phen Byung-Chul Han in der »Welt«. Man hätte das dort redi­gieren können, wollte aber wohl den Scoop – und warum soll ein Mode-Philosoph sich nicht auch blamieren. Schade war es, weil die Beschrei­bung der Berlinale als »Kafkas Schloss« nicht nur lustig, sondern treffend ist, und weil auch die Urteile über »ahnungs­lose Kultur­funk­ti­onäre« nicht immer falsch liegen.

Aber wer die sympa­thi­schen – und oft gutaus­se­henden – Berlinale-Mitar­bei­te­rinnen (die für ihre ChefInnen ja nichts können) als »lang­bei­nige Walküren« und den Rest als »Zombies« und »Fach­idioten« (wären sie das mal!) verächt­lich macht, und Filme von Arslan, Schanelec (nicht auf der Berlinale) und Hong Sangsoo über den stumpfen Leisten »grau­en­hafter Seelen­porno« (was soll das überhaupt sein) schlägt, hat einfach keine Ahnung von Film und wahr­schein­lich zuviel Heidegger gelesen – wie ja überhaupt Ausländer Heidegger immer über­schätzen – aber lassen wir das.
Natürlich wäre es wert, einmal über so einen Satz zu debat­tieren: »Das Gleiche, das sich dem Vergleich unter­zieht, wird heute honoriert. Das andere hingegen wird ausge­trieben. Es gibt keine Fantasie für das andere mehr. Zäune schließen sie aus, es herrscht das Gleiche. Das andere hingegen bedroht die Herr­schaft, die sich heute als Freiheit gibt. Die neoli­be­rale Herr­schaft besteht darin, dass die Freiheit nicht unter­drückt, sondern ausge­beutet wird.«

Das hat etwas mit der Berlinale zu tun. Aber in dieser Form tut der Text seinem Anliegen keinen Gefallen.

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Film­kritik bedeutet gerade in Zeiten des Post­fak­ti­schen, die Fähigkeit, über Meinungen hinaus, die Fähigkeit genauer hinzu­gu­cken, begrün­dete Urteile zu fällen und dies dann auch sprach­lich auf den Punkt zu bringen.