67. Berlinale 2017
Sound of Architecture |
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Jonathan Perel und John Erdman als Analytiker und Filmemacher in Emigholz' kongenialem Spielfilm Streetscapes [Dialogue] | ||
(Foto: Filmgalerie 451) |
Von Dunja Bialas
Hatte er nicht gesagt, er wolle keine Architekturfilme mehr machen? Von nun an nur noch Spielfilme? Zumindest gönnt sich Heinz Emigholz, der seit vier Jahren pensioniert ist, ein wenig mehr Verspieltheit als früher, was sich schon in The Airstrip – Aufbruch der Moderne, Teil III (2014) angekündigt hatte. Emigholz hat einen unverwechselbaren Stil, er ist Meister der gekippten Linien, abfolgenden Schein-Standbilder und wortlosen Etüden zu den Bauwerken von Architekten wie Adolf Loos, Bruce Goff oder jetzt Eladio Dieste und Samuel Bickels. Er reiste für sein Oeuvre um die ganze Welt. Maßgeblich ist die Strenge, die er in seinen unbewegten Bildern walten lässt – auf eine Kamerafahrt oder einen Schwenk kann man bei Emigholz kaum hoffen – aber: die Strenge verweigert sich dem rechten Winkel. Seine verhältnismäßig schnell geschnittenen Ansichten von Gebäuden und Räumen zeigen keine Menschen, und wenn doch, dann nur, wenn sie funktional dazugehören wie die Arbeiter zu einer Fabrikhalle. Tiere durchqueren oder durchfliegen jedoch immer wieder die Bilder, als würden sie die Diagonalen noch einmal neu vermessen. Und immer wieder schieben sich Bäume und Sträucher ins Bild und vor die Architektur, als Zeugen der Dreidimensionalität der Welt. Immer werden auch die Straßen der Städte miteingefangen; Emigholz scheut sich nicht, neben der erhabenen Schönheit der präsentierten Architektur auch die pulsierende Hässlichkeit, den Schmutz und die Armut der Großstädte zu zeigen. Ob dies schon Dekonstruktion der Erhabenheit bedeutet, ist fraglich, zeigt aber bei aller Menschenleere der Filme ein profundes Interesse am sozialen Gefüge.
Seinen großen Filmzyklus untertitelte Emigholz »Photographie und jenseits«, und nummeriert ihn seitdem buchhalterisch durch. Der Untertitel nimmt Bezug auf seine ruhige Kameraarbeit, die die Photographie transzendiert: durch im Wind sich bewegende Zweige, durch die erwähnten Tiere, die das Bild durchqueren, durch ein Auto, das ins Bild fährt. Oder auch im Bild steht, Emigholz bereinigt augenscheinlich nicht. Seit The Airstrip kommt eine weitere Dynamik in seine Filme: Emigholz spricht zu uns. Als Sprachrohr seiner Gedankenwelt trägt die Schauspielerin Natja Brunckhorst mit brüchiger Stimme kurze und knappe Sentenzen zu Architektur, Globalität und Weltgeschehen vor, immer am Anfang eines neuen Filmabschnitts. Bevor der Film wieder still wird und die Gebäude für sich sprechen lässt.
Jetzt zeigte Emigholz auf der Berlinale sein aus vier Kapiteln bestehendes Werk Streetscapes, »Photographie und jenseits«, Teile 24-27. Jedes Kapitel ist auch eigenständiger Film. Zwei der drei Kapitel, die ich vom Tetraptychon sehen konnte, sind – soweit ich das in Kenntnis nur eines Bruchteils des umfangreichen Emigholz'schen Werkes behaupten darf – bahnbrechende Neuerungen und transzendieren die Architekturfilme selbst noch einmal. Das erste, 2+2=22 [The Alphabet] übertitelte Kapitel ist eine Art Remake von Jean-Luc Godards One Plus One: Nicht die Rolling Stones, sondern die Düsseldorfer Band Kreidler wird hier bei der Einspielung ihres Albums »ABC« im Studio gefilmt. Dieses befindet sich in Tiflis, die parallel zu den Studioaufnahmen in einem Stadtportrait eingefangen wird. Das Tonaufnahmestudio offenbart eine in der Architektonik sichtbare Akustik; daneben pulsieren die Straßenzüge, werden unscheinbare Straßenecken und bauliche Trouvaillen gezeigt, gleichermaßen Chaos und Kosmos der Stadt. Sie ist der lebendige Gegenpol zu den an ihren Laptops arbeitenden »Kraftwerk«-Erben Kreidler; die verschlungenen Kabel am Boden und die ins Bild gerückten Mikrophonständer greifen die Telegrafenmasten und Stromleitungen der Stadt auf. Emigholz verfährt in Analogie zum Kreidler-Album alphanumerisch, lässt die Buchstaben als Kapitelstruktur durchlaufen. Strukturierend sind auch seine Notizbücher, die nach den Buchstaben kurz in die Kamera gehalten werden: sorgfältig collagierte Sammlungen von Gedanken und Bildern, oft Fetzen von Reklame, meist Banales und Triviales, das in der Anordnung im Notizbuch zur Kunst erklärt wird. Natja Brunckhorst spricht jeweils ein kurzes Intro zu Anfang der Tiflis-Kapitel. Hier sammeln sich assoziative Begriffe zur metaphorischen Anschauungskraft des Urbanen: Wege, Abwege, Straßenzüge, Gedankenzüge, Kreuzungen, Durchkreuzung.
Währenddessen durchzieht der Beat von Kreidler den Film, kommt immer wieder auf sich selbst zurück – nicht voranschreitend und doch vorangetrieben durch das Alphabet. Eine kraftvoll pulsierende Liebeserklärung an die georgische Stadt und die Musik von Kreidler, in der sich alles zueinander verhält: der Film zur Architektur, die Architektur zur Musik, die Musik zum Film, der Film zur Musik. Die Verdichtung aller Ebenen zeigt der Trailer zu 2+2=22 [The Alphabet], der für sich genommen ein eigenständiges Musikvideo ist, ein weiteres nach den bereits sieben Videos, die Emigholz mit und für Kreidler gemacht hat.
Teil 2 der Streetscapes [Dialogue], den ich leider nicht sehen konnte, widmet sich dem Kibbuz-Architekten Samuel Bickels. Er heißt schlicht Bickels [Socialism] und gibt allein vom Titel her schon viel Ahnung über seinen Inhalt. Samuel Bickels, Erbauer sozialistischer Kibbuz-Siedlungen, bildet das Scharnier zum nächstfolgenden und überraschendsten Teil. Er heißt Streetscapes [Dialogue], dadurch programmatisch ins Zentrum des Tetraptychons gesetzt. In ihm tritt der argentinische Filmemacher Jonathan Perel als Schauspieler auf. Perel wiederum hat einen streng mathematischen Film über argentinische Sozialsiedlungen, allerdings aus den Jahren der Diktatur gemacht: Toponimia. Derart mit Emigholz im Geiste verwandt, spielt er in Streetscapes [Dialogue] einen Psychoanalytiker, der einen Filmemacher (gespielt von John Erdman) aus einer schweren Sinn- und Schaffenskrise begleitet. Alles dies spielt sich in den Häusern, auf den Terrassen oder vor den Fassaden der Bauten der uruguayischen Architekten Eladio Dieste und Julio Vilamajó ab.
Wie Emigholz insgesamt »Architektur als Autobiographie« begreift, ist auch Streetscapes [Dialogue] autobiographisch. Emigholz setzt sich allerdings diesmal selbst ins biographische Zentrum: Sein Film bezieht sich auf die eigene Schaffenskrise. Da es jedoch, wie wir von den Notizbüchern wissen, bei Emigholz kein Außerhalb der Kunst gibt, hatte er seinen Psychoanalytiker, den israelischen Trauma-Spezialisten Zohar Rubinstein, gebeten, ein Transkript der fünftägigen Marathonsitzung anfertigen zu dürfen. Aus diesem entstand das Skript für den Spielfilm, über einen Filmemacher in der Krise. Im Zuge der Gespräche wird das Vorhaben zu dem Film, den wir gerade sehen, entworfen; alles ist also hochgradig selbstreflexiv. Der Konzeptfilm hinterfragt in Sinnfragen-Manier dabei stets auch sich selbst und seine eigenen Mittel und führt wie auf einem Möbiusband in die Fiktion hinein und aus ihr hinaus – ein hochamüsantes und intellektuelles Vergnügen.
Nach diesem absoluten Höhepunkt kehrt bei Emigholz wieder Ruhe ein. Der vierte Teil der Streetscapes, Dieste [Uruguay], ist ein Film »nach der Schaffenskrise«: Emigholz kehrt zurück zu seinen stillen Ansichten von Architektur, mit den gekippten Linien und den Blättern der Bäume und Sträucher, die sich ins Bild schieben. Sich selbst wiederfinden kann, wenn wir den Zyklus als gelungene Fiktion von Aufbruch, Krise und Ankunft nehmen, fast schon wieder schade sein: Der verspielte Heinz Emigholz hatte sich selbst in den Schatten gestellt.