67. Berlinale 2017
Lullaby for Film Critics |
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Aus einem Jahr der Nichtereignisse: ein durch und durch schöner Film, auf 16mm gedreht. Programmatischer Film der Berlinale 2017 | ||
(Foto: Berlinale | Renninger, Frölke) |
Von Dunja Bialas
Oh doch, es gibt ihn: den Film der Berlinale 2017. Er heißt Somniloquies, eine Wortneuschöpfung aus Soliloquies (Selbstgespräche) und somnus (Schlaf). Die im Schlaf Sprechenden: das könnte der Zustand der diesjährigen Berlinale-Kritiker gewesen sein. Viele Filme, die ich auf der Berlinale sah, wirkten wie ein Sedativum, das mich in so große emotionale Ruhe versetzte, dass ich im Dunkeln oft gegen eine unmittelbare Schlafattacke ankämpfen musste. Meine eigene Schwäche folgte, unabhängig von einer sich anbahnenden viralen Erkältung, die mich schon am ersten Wochenende komplett ermattete, durchaus den Absichten der Berlinale-Programmer. Mit anderen Worten: der Kinoschlaf war Programm. »Im Kino schlafen heißt in diesem Fall, es bis ins Äußerste zu durchdringen«, heißt es in der »Forum«-Ankündigung zu Somniloquies der Vorzeige-Sensory-Lab-Regisseure Verena Paravel und Lucien Castaing-Taylor. Eine Aufforderung zum Stream of Subconsciousness, und dazu, in eigenen Träumen die Filme der Berlinale weiter zu träumen, sie sich besser zu träumen. Kino als reinste Traumfabrik und Sprungbrett zu Evasion und Eklipse: sich aus dem Kino ausschalten, während man im Film sitzen bleibt. Das Sedierend-Einlullende der Filme verhinderte, dass die diesjährige Berlinale als Walk-out-Festival in die Annalen eingeht. Eher waren die Filme dann doch: ganz nett, aber nicht faszinierend, zu harmlos, um weh zu tun. Nicht wirklich egal, aber man brannte für keinen.
So brillierte das »Forum« der Berlinale, die Reihe, die ich dieses Jahr vor allem besuchte, mit einem Kino der Unentschiedenheit. Alles war irgendwie okay, qualitätsvoll. Kaum gab es einen Film, den man mit sich herumtrug, der einen beschäftigte, der in den darauffolgenden Tagen wuchs. Nicht einmal ein Film, über den man sich aufregte, und kaum einer, über den diskutiert wurde, und wenn gesprochen wurde, ließ sich das so an: Wie fandest du…? Ging so. Ja, eben. Kaum der Rede wert. Ganz schön. Aber auch ein wenig nichtssagend.
Lichtblicke darunter: das Emigholz-Tetraptychon Streetscapes [Dialogue] aus vier Filmen. Eine andere große Verheißung: eine Handvoll Filme, die auf 16mm gedreht waren. Ein wirklich tolles Retro-Programm gab es, so hörte ich, über den marokkanischen Film (das ich wegen der »Woche der Kritik« und den dort allabendlich stattfindenden »Filmen & Debatten« leider nicht besuchen konnte). Dann eine Perle des koreanischen Films, die ich sah: Yu Hyun-moks Obaltan (Aimless Bullet) von 1961, ein Melodram über die grenzenlose Armut der Nordkoreaner in Seoul, der als bester koreanischer Film der Geschichte gilt.
Und dann: etliche überlange Filme. Da war zunächst die Experimentalfilm-Summa ORG, monumentales, alles überbietendes Avantgarde-Kino, das leichterhand Gregory J. Markopoulos, Stan Brakhage, Jean-Luc Godard und das Cinema Novo auf den Plan rief. In Italien vom Exil-Argentinier Fernando Birri 1979 gedreht, wurde das verstörende Film-Poem von der Entuziazm-Gruppe um Michael Baute, Volker Pantenburg und Stefan Pethke für das Living-Archive-Programm des
Arsenal-Institut Berlin präsentiert.
Dann sah ich immerhin dreieinalb intensive Stunden des fünfstündigen Panorama-Dokumentarfilms Combat au bout de la nuit (Fighting Through the Night) des Frankokanadiers Sylvain L’Espérance, eine Bestandsaufnahme über die politische Situation in Griechenland, die er im vergangenen Sommer und Herbst drehte (großartiger roter Faden ist der Aufstand der Putzfrauen, die aus dem
Parlamentsgebäude geschmissen wurden und lautstark ihre Arbeit zurückfordern). Den ebenfalls fünfstündigen Qiu (Inmates) der Chinesin Ma Li über eine Psychiatrieanstalt ließ ich aus, zu sehr ist mir noch Wang Bings vierstündiges Psychiatrie-Meisterwerk Feng ai – 'Til Madness Do Us Part (2013) gewärtig. Auch das Tetraptychon Streetscapes von Emigholz sollte man zu den überlangen Filmen zählen, denn hier gilt: hat man einen gesehen, hat man keinen gesehen. Auch wenn sie alle eigenständig funktionieren. Und irgendwie sollte man auch Hong Sangsoos Wettbewerbsfilm Bamui haebyun-eoseo honja (On the Beach at Night Alone) dazu zählen, wenn man bedenkt, dass jeder von Hongs Filmen eine neue Variationen des einzigen großen Langfilms über Wiederholung, Spiegelung, Umkehrung ist (auch hier gilt: hat man nur einen gesehen – wie offensichtlich einige der Kritiker, die sich auf der Pressevorführung zu Wort meldeten –, hat man keinen gesehen). Hier waren es zwei Teile, dessen
erster in Deutschland spielte, und ausgerechnet gruppiert um die allzu bekannten Festivalfiguren Mark Peranson und Bettina Steinbrügge, die seit vielen langen Jahren zum internationalen Jetset gehören: Peranson als Filmkritiker und Moderator, Steinbrügge als ehemalige Moderatorin des Berlinale-»Forum« und Kunstkuratorin in Hamburg. Peranson, der den Film auf den Weg gebracht hatte und Hong die Idee gab, in Hamburg zu drehen, durfte also selbst mitspielen – das ergab einen
recht dünnen ersten Teil und auch ein paar Minuspunkte für die Eitelkeit, auch wenn der koreanische Blick auf das Hamburger Kuratorenpaar dann wieder recht entlarvend dessen spröde Gestelztheit freilegte. Der zweite Teil, der in Korea spielt und in dem sich die Dialoge mit sehr erfrischenden Soju-getränkten Ausfällen wiederholen, hob wieder Hong-mäßig ab. Und die Hauptdarstellerin Kim Min-hee, die zuletzt auch in Hongs Right Now, Wrong Then zu sehen war, wurde mit dem Silbernen Bären belohnt.
So wie es auch zur Berlinale dazugehört, über das Programm zu schimpfen, kann ich im Hinblick auf letztes Jahr sagen: 2016 war ein fantastisches Jahr, 2017 war ein Jahr, das – bis auf wenige Ausnahmen – überhaupt kein Jahr war. Sondern ein Vakuum. Man denkt ja immer, dass man sie verpasst hat, die guten Filme. Hörte man sich um, zeigte sich: dem war aber nicht so. Egal, ob die kritischen Kritiker oder die pragmatischen Programmer, die nach Filmen für ihr eigenes Festival Ausschau halten: überall war die Stimmung nur mau, niemand war begeistert, keiner nannte einen Film, den man unbedingt gesehen haben musste. Und so gut sie dann auch waren, die Ausnahmefilme Casting von Nicolas Wackerbarth, Aus einem Jahr der Nichtereignisse von Ann Carolin Renninger und René Frölke (allein wegen des Titels ebenfalls Berlinale-Film des Jahres 2017) oder El mar la mar der Sensory-Lab-Regisseure Joshua Bonnetta und J.P. Sniadecki: sie kamen einem schon fast wie Konsensfilme vor, so einig war man sich, wenn auch ohne große Begeisterung, dass hier »Schönes« zu sehen war. So blieb vielleicht die Entdeckung des Forums Tinselwood der Französin Marie Voignier, ein verhalten ethnographischer Film über das Leben und die Arbeit im Regenwald von Kamerun. Vielleicht hätte dieser Film Gesprächsthema werden können, aber es hatte ihn kaum jemand gesehen.
Der für mich beste Film lief in der Reihe »Woche der Kritik« (veranstaltet vom Verband der deutschen Filmkritik), die nicht zur Berlinale gehört: Lass den Sommer nie wieder kommen, eine Weltpremiere aus der dffb-Schmiede, den wir Kritiker (Carmen Gray, Joseph Fahim, Dennis Vetter, Frédéric Jaeger und ich) ausgewählt hatten. Ein dreieinhalbstündiges Filmpoem in Pixeln, das auf der Leinwand explodierte und einem durch einen unfassbaren Tonschnitt den Atem raubte. Ein überwältigendes Filmerlebnis von gnadenloser Radikalität, großartigem Witz und tiefgehender Traurigkeit, schillernd und faszinierend, euphorisierend und erhaben.
Man kann ja nicht sagen, das »Forum« würde sich nichts trauen. Dieses Jahr kam es einem aber so vor, als hätte man auf Nummer sicher gesetzt, ähnlich wie in den Programm-Anstalten der Fernsehsender. Motto: unsere Zuschauer liebten in der Vergangenheit diesen und jenen Film, also bekommen sie wieder ähnliches serviert. Das »Forum-Expanded« als experimentelle Reihe hingegen hat das Kino hinter sich gelassen und bemüht die künstlerischen Projekte auf die Leinwand. Ein überraschender Tiefpunkt war Sharon Lockharts gut gemeinter und schön gemachter, dabei völlig prätentiöser und auch sehr herablassender Rudzienko über Mädchen aus einer sozialtherapeutischen Jugendeinrichtung in Polen, die malerisch in der Wiese liegen durften. Das Projekt, so wurde in der Diskussion klar, lag in der Arbeit vor dem Film: in sehr vielen therapeutischen Workshops, das die Filmemacherin mit den Schwererziehbaren durchführte und die alle im Abspann aufgeführt wurden. Schönster Workshop war der für: »Mindfulfillness«.