Filmreisen in die Vergangenheit |
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Blick auf den Nationalsozialismus, wie man ihn noch nie gesehen hat: Robert Schwentkes Der Hauptmann | ||
(Foto: Filmgalerie 451) |
»The past is a foreign country. They do things differently there.«
aus: »The Go-Between« von Joseph Losey, 1972
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Das waren noch Zeiten, als einer wie Wolfram Schütte nach Cannes fuhr, und dann, ein paar Tage nach Ende des Festivals, seinen Bericht schrieb – den einen Festivalbericht –, der dafür eine ganz Zeitungsseite lang war, oder auch mehr, wenn es die Filme verdienten. Schütte, einer der besten und maßgeblichen deutschen Filmkritiker der siebziger bis in die neunziger Jahre, erzählte mir das mal lächelnd, und im Bewusstsein von Zeiten und Verhältnissen zu sprechen, die sehr weit weg und heute kaum nachvollziehbar sind. Er hob aber den Vorteil hervor, den die tiefere Reflexion hatte, das »sacken lassen« eines Eindrucks, der Vergleich der Filme miteinander, das Atemholen.
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Heute in unserer atemlosen Gegenwart bloggt man. Und das gerne. Es ist keine gelassene Analyse mehr, sondern eher ecriture automatique, auch ein ehrenwertes Konzept. Die Filme schreiben sich selbst ein in den Geist und Leib des Autors, und man ist dann ein guter Kritiker, wenn man ihnen Raum gibt, sich durch einen zu entfalten – auch dies ist eine Form der Reflexion. So wollte ich eigentlich in diesem Jahr aus San Sebastián einen täglichen Blog schreiben – das scheiterte
aber schon am ersten Wochenende auch mehreren Gründen, Zeitmangel und eigene Unfähigkeit sind nur ein Teil davon.
Also werden wir am Mittwochabend hier ein ruhiges, gelassenes Post-San-Sebastián-Tagebuch veröffentlichen – denn geschrieben ist natürlich vieles, aber bisher nur in privater, vorläufiger Form.
Aber immerhin eine erste Zusammenfassung einiger Höhepunkte soll hier schon heute möglich sein.
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»Das gibt’s nur einmal, das kommt nie wieder« – Lilian Harvey Lied, verboten zur Nazi-Zeit, aber ungebrochen populär, wird in diesem Film zum Horrorsong: Es summt der Gefreite Willi Herold, als er, der Deserteur, in den letzten Wochen des Zweiten Weltkriegs plötzlich einen leeren Wagen und darin die perfekte gebügelte Uniform eines Hauptmanns vorfindet. Kleider machen Leute, und so wird, als er sie anzieht, aus dem verzweifelten, verlausten Landser im Nu ein Offizier. Anfangs zögert er noch beim Kommandieren, doch bald verwandelt er sich in einen schneidigen Schleifer, geborenen Befehlshaber und fanatischen Nazi. Und in einen Massenmörder, der marodierend übers Land zieht, und in einem Lager im Emsland über hundert Gefangene ermorden lässt.
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Eine Köpenickiade ist dies auch, allerdings eine ohne alle Niedlichkeit, sondern aus dem wahren Leben des April 1945 gegriffen. Es ist die böse Wahrheit hinter dem volkstümlichen Kitsch des Der Hauptmann von Köpenick, eine abgründige Geschichte über Untertanengeist, deutschen Sadismus und den Zerfall aller Werte in den Jahren des Zivilisationsbruchs unter den Nazis.
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Mit seinem Film Der Hauptmann, für den Kameramann Florian Ballhaus – der längst aus dem Schatten seines Vaters Michael getreten ist –, am Samstag beim Filmfestival San Sebastian den Preis für die beste Bildgestaltung gewann, wirft der deutsche Regisseur Robert Schwentke einen Blick auf den Nationalsozialismus, wie man ihn trotz hunderter Fernseh-Dokumentationen und
mehrerer Dutzend deutscher Spielfilme noch nie gesehen hat: In Schwarzweiß mit dem Mut zur Geschmacklosigkeit – denn wie könnte man die Geschmacklosigkeiten der Nazis noch irgendwie geschmackvoll zeigen, ohne die Opfer zu verraten? – voller Mut zum Hinsehen, mit gefriergetrocknetem Humor und Neugier, dabei von Trauer und spürbarem Entsetzen angesichts des immer weiter galoppierenden Alptraums erfüllt, gelang Schwentke ein Film, der den Nationalsozialismus als die
blutige Travestie, als Hochstapelei und den Ausbruch unterdrückter Triebe zeigt, der er war – endlich einmal ein Film aus Deutschland, der den deutschen Faschismus von seiner abstoßendsten Seite zeigt, ohne Nazis, die sich gepflegt artikulieren können, die irgendwie 'gute Gründe' für ihr Tun haben und ihn damit versteckt doch irgendwie rechtfertigt.
Das gibt’s nur einmal, das kommt nie wieder, dass Triebe sich derart entfesseln. So hofft man – aber sind wir heute
noch sicher? Der Hauptmann macht klar, dass uns gar nicht so viel trennt – auch im Gegenwartsdeutschland gibt es den rassistischen, gewaltbereiten, machtgeilen Mob auf den Straßen
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Historische Stoffe waren Trumpf beim diesjährigen Festival in San Sebastian. Auch beim Hauptpreis, der nicht unbedingt ausgerechnet an James Francos The Desaster Artist hätte gehen müssen, handelt es sich um eine Zeitreise – sie führt allerdings nur 15 Jahre zurück in die Zeit, in der in Amerika wieder einmal der schlechteste Film aller Zeiten gemacht wurde: The Room – heute ein Kultstoff. Franco formt daraus ein liebevoll-tragisches, aber auch ein wenig banales Portrait seiner Generation.
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Zwei der besten Filme des diesjährigen Jahrgangs stammten aus Frankreich: La Douleur von Emmanuel Finkiel geht zurück auf einige Motive der Aufzeichungen aus den Jahren der deutschen Besatzung Frankreichs, die Marguerite Duras unter dem Titel »Der Schmerz« veröffentlicht hat. Nachdem ihr Mann, ein Widerstandskämpfer verhaftet wurde, nimmt die junge Schriftstellerin Kontakt zur Gestapo auf. Regelmäßig trifft sie sich mit einem hochgestellten
Kollaborateur, und es entspinnt sich ein Katz-und-Maus-Spiel zwischen zwei Feinden, die von einander fasziniert sind, auch weil jeder den Anderen sofort töten könnte – ein atmosphärisch höchst dichter Psychothriller, und zumindest eine Stunde lang einer der allerbesten Filme des Jahres.
La Douleur lebt von seiner bewegten, atmenden Kamera, von der Textur und Präzision der Ausstattung, aber auch von den großartigen Texten der Duras. Eine
Momentaufnahme von zeitloser Gültigkeit.
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Denn Preis für den besten Nachwuchsfilm gewann Le semeur, das Debüt der Französin Marine Francen, die bisher als Assistentin für Olivier Assayas arbeitete. Francen erzählt von einem Dorf in den Voralpen 1851. Eines Tages werden alle Männer verhaftet, die Frauen sind auf sich gestellt. Sie müssen nicht nur die Arbeit der Männer übernehmen – sondern vermissen auch den Ehemann, Liebhaber
und potentiellen Verlobten. Man schließt einen Pakt: Kommt doch noch ein Mann vorbei, wird man ihn teilen – und eines Tages geschieht es.
So geht es in diesem ungewöhnlichen Film um Freiheit, die aus der Not geboren wird: Um Selbstorganisation, um die Solidarität von Frauen in einer Männerwelt.
Auch dieser Film ist ein Beispiel dafür, dass die Vergangenheit in diesen Kino-Filmen niemals auf ein Paradies der Erinnerung reduziert wird.
(to be continued)